Brücke und Graben zugleich: die Europastraße 30 als Symbol für Hybris und Niedergang westlicher Herrschaftsansprüche

Brücke und Graben zugleich: die Europastraße 30 als Symbol für Hybris und Niedergang westlicher Herrschaftsansprüche

[von Michael Schütz] Liebe Leserin, werter Leser!

Folgenden Text hat der Autor im Jahre 2016 in der Absicht verfasst, in komprimierter Form Schlüsselszenen der Geschichte entlang des östlichen Abschnitts der späteren Europastraße 30 ins Gedächtnis zu rufen.

Es sind zugleich Schlüsselszenen der europäischen Geschichte und betreffen uns daher alle.

Eine zukunftsfähige, aufgeklärte und intellektuell wache Gesellschaft wird aus dieser Geschichte ihre Lehren ziehen. Die Entwicklungen im Kampf-Geschehen im Osten lassen es allerdings wieder notwendig erscheinen, diesen Text noch einmal an die Öffentlichkeit zu bringen .

Wir folgen hier der Europastraße 30 (E30), die das irische Cork mit Russlands Herz Moskau verbindet. Entlang der späteren E30 – eigentlich eine pulsierende Verkehrs- und Transportader, die den ganzen Kontinent von West nach Ost durchmisst – wurden allerdings in ihrem östlichen Abschnitt, historisch gesehen, riesige Gräben aufgeworfen. Diese wurden, wie wir jetzt wissen, nicht nur nie zugeschüttet, sondern bewusst und mutwillig weiter vertieft.

Hier wird im Folgenden das fatale historische Geschehen im östlichen Abschnitt dieser West-Ost-Verbindung beschrieben. Die E30 stellt hier ein unsichtbares Museum dar, das uns viel über uns Europäer erzählen kann und der Autor darf Sie im weiteren als Guide durch dieses Museum führen:

Teil 1: 

Beim polnischen Terespol erreicht die Europastraße 30 aus dem Westen kommend die weißrussische Grenze. Kurz vorher wird ein Zweig der E30 auf eine Umfahrung geführt, die die gegenüberliegende weißrussische Grenzstadt Brest nördlich umgeht. Wir bleiben aber auf der alten direkten Route, die nach Brest hineinführt. Zwischen Terespol und Brest fließt der Westliche Bug, dessen Wasser der Weichsel zugeführt wird.

Brest ist von seiner Lage her das äußere Tor zum Osten Europas. Die Stadt hat daher eine dementsprechend strategische Bedeutung und die drückt sich unter anderem dadurch aus, dass hier das zaristische Russland eine Festung errichtet hat, die später nochmals ausgebaut und verstärkt worden ist. Zu diesem Zweck verschob der Zar (das heißt, eigentlich seine Arbeiter) die Stadt, die damals noch Brest-Litowsk hieß, ein Stückchen weiter nach Osten.

Brest-Litowsk kann man als ein Synonym für den nicht unpopulären Versuch verstehen, den Lauf der Dinge in Russland von außen zu beeinflussen. Hier fanden im Ersten Weltkrieg die separaten Friedensgespräche des deutschen Kaiserreiches mit dem gerade bolschewistisch umgestürzten ehemaligen Zarenreich statt. Bekanntlich hat zuvor das Deutsche Reich den Führer der Bolschewiken Wladimir Illitsch Lenin mit der Eisenbahn aus der Schweiz nach Russland transferiert, in der Hoffnung, damit dort das politische System weiter zu destabilisieren und in letzter Konsequenz ein Ausscheiden Russlands aus dem Krieg zu erreichen. Die Rechnung ging irgendwie auf. Deutschland konnte in der Folge in Brest-Litowsk aus einer starken Position heraus verhandeln. Und man blieb sich dann sogar noch eine ganze Weile näher verbunden.

Am 22. Juni 1941 und die Tage danach stand das nun sowjetische Brest und seine Festung wieder im Mittelpunkt einer solchen Absicht, in die Geschicke des Moskauer Staates einzugreifen. Nach dem Überfall Deutschlands auf Polen im September 1939 bildete der Bug auf weiten Strecken die Demarkationslinie zwischen dem deutschen und dem sowjetischen Einflussbereich, was soviel heißt, dass Brest das zentrale Einfallstor Richtung Moskau darstellte.

Der 22. Juni 1941, ein strahlender Sonntagmorgen. Der „Sonntagsausflug“, der jetzt beginnt, heißt „Unternehmen Barbarossa“ und obwohl er nur für einige Wochen angesetzt ist, endet er erst vier Jahre später: Die Streitkräfte Nazi-Deutschlands überfallen die Sowjetunion.

Die Hauptstoßroute der solcherart Reisenden verläuft auf, entlang und im Einzugsbereich der späteren E30. Damit bricht ein Inferno los, das diesbezüglich alles bisher Dagewesene an Erfahrungen übersteigt. Hitler und seine Militärs waren überzeugt, es mit einem inferioren Gegner zu tun zu haben, den man leicht niederringen konnte. Tatsächlich waren die letzten militärischen Leistungen der Sowjetarmee nicht gerade berauschend, die militärischen Führungskader unerfahren und Sowjetführer Stalin wiegte sich in Sicherheit, obwohl ihm mehrmals der bevorstehende Angriff der Deutschen gemeldet worden war. Hitler und die deutsche Heeresführung waren daher bereit, einen nur als improvisiert zu bezeichnenden Angriff zu starten und machten damit den typischen Denkfehler, Russland, bzw. die Sowjetunion in all ihren Dimensionen und Möglichkeiten zu unterschätzen.

Wenige Wochen zuvor, Ende Mai 1941 wurde die 45. Infanteriedivision (ID) aus Frankreich / Belgien kommend bis vor Terespol geführt. Die 45. ID war in Linz an der Donau aufgestellt worden, was bedeutete, dass zunächst das Gros der Mannschaften aus Oberösterreich (und teilweise Niederösterreich und Salzburg) stammte, oftmals junge Bauernburschen, die von ihren abgelegenen Höfen weg in den Krieg geschickt wurden. Die Division war bereits im Polen- und Frankreichfeldzug eingesetzt worden. Jetzt wurde sie im Rahmen der 4. Armee der 2. Panzergruppe unter Generaloberst Guderian zugeordnet, die sich im Raum westlich von Terespol für den Angriff bereitstellte. Aufgabe der 45. Infanteriedivision war es, die Brücken nach Brest zu sichern, sodann die Festung Brest zu stürmen und damit den Weg Richtung Moskau für die Panzer freizumachen. Hinter Brest beginnen drei wichtige Straßenverbindungen. Die Deutschen bezeichneten im Krieg Straßen dieser Art als Rollbahnen, vergleichsweise besser ausgebaute, breite Hauptverkehrswege, deren wichtigste Route Brest mit Moskau verband, die spätere E30 also. Wer Moskau einnehmen wollte, musste diese Rollbahn unter seine Kontrolle bringen. Der Anfang dazu war in Brest zu machen, wo die Festung Straßen- und Eisenbahnbrücken über den Bug und damit den Zugang zu den Rollbahnen wie zur Eisenbahnverbindung bewachte. Die Festung war auf mehreren Flussinseln errichtet worden, wobei die Hauptinsel durch drei rundherum vorgelagerte Inselfestungen geschützt war. Die westliche Vorfestung lag am westlichen Bugufer, sodass der Bug durch die Festungsanlage geflossen ist.

22. Juni 1941, es ist kurz nach 3 Uhr früh, als die bei Terespol aufgefahrene deutsche Artillerie beginnt, die Festung Brest mit intensivem Geschosshagel zu belegen. Die Erde bebt und die Nacht verfinstert sich. Im Schutz des Artilleriefeuers rückt die 45. ID vor und nimmt die Brücken im Handstreich. Dann gerät sie auch unter eigenen Beschuss. Eine Handvoll Männer sind auf einen Schlag weg. Doch die Infanteristen stürmen weiter. Mit Schlauchbooten setzten sie zu den Festungswerken über. Jetzt muss die deutsche Artillerie das Feuer einstellen, um nicht die eigenen Leute zu gefährden.

Die Divisionsführung ahnt wohl, dass der massive Artilleriebeschuss die Festung nicht genügend ins Wanken bringen wird, aber man rechnet mit der psychologischen Wirkung und einem Überraschungseffekt. Schließlich hat man die Festung im September 1939 schon einmal erobert, damals aus der Hand sich wacker schlagender Polen. Tatsächlich gelingt es leicht in die Befestigungen einzudringen. Doch dort erwartet die Infanteristen eine böse Überraschung: Sie werden mit einem dichten Kugelhagel begrüßt. Binnen kurzem sind dutzende 45er tot. Der Angriff bleibt stecken. Der dichte Artilleriebeschuss hat zwar viele Opfer gefordert, aber die Festungsanlage nicht wirklich erschüttert. Nach einer kurzen Zeit des Schocks und der Überraschung formieren sich die Verteidiger zur Gegenwehr. Zu bedenken ist dabei, dass in der Festung nicht nur Soldaten, sondern auch etliche ihrer Familien leben.

Gegen Abend dieses Sonntags macht sich bei der deutschen Divisions- und Armeeführung eine gewisse Ratlosigkeit breit. Zwar ist es gelungen, die Panzer südlich und dann auch nördlich von Brest über den Bug rollen zu lassen, sodass sie freien Weg nach Osten haben, aber man sitzt auf einem Berg von toten Infanteristen: mehr als 310 der 45. ID sind es alleine in diesen ersten Stunden von „Barbarossa“ in und um die Festung Brest, die unbeirrt von den Sowjets gehalten wird. Mit herkömmlichen Mitteln ist den Verteidigern nicht beizukommen. Man möchte daher mehr auf Zeit spielen und fordert zuletzt auch Luftunterstützung an. Sturzkampfbomber (Stukas) sollen die Festungswerke weich klopfen. Zwar sind nach drei Tagen die schlimmsten Kämpfe vorüber. Aber die Stukas müssen erst mit den schwersten Bomben angreifen, um die verbliebene Festungsbesatzung mürbe zu machen. Trotzdem dauert es mehr als eine Woche, bis die Deutschen die Festung tatsächlich unter Kontrolle haben. Einige Widerstandsnester halten sich noch bis in den Juli hinein. Über 470 ihrer Männer muss die 45. Infanteriedivision in Brest begraben, weiters verliert die Division zumindest an die 700 Verwundete. Nach dem Fall der Festung wird die Division sofort wieder in Marsch gesetzt, ins Landesinnere hinein.

Die Opferzahlen auf sowjetischer Seite sind etwas schwerer zu beziffern. Bereits zu Beginn des Artilleriebeschusses gelang es einigen Bewohnern der Festung zu fliehen. Während der Kämpfe gingen tausende von ihnen in Gefangenschaft oder versuchten auszubrechen. Wie erwähnt, lebten auch viele Soldatenfamilien in der Festung, die jetzt Hilfsaufgaben bei der Verteidigung übernahmen. Man muss von 2000 gefallenen und 6800 gefangenen Sowjetsoldaten ausgehen, wobei diese Zahlen durchaus eine größere Schwankungsbreite besitzen können. Da die Wehrmacht in ihren Gefangenenlagern einen Großteil der sowjetischen Gefangenen zu Tode brachte, wird die Opferzahl letztendlich um einiges höher anzusetzen sein. Etliche der Offiziersfamilien sollen ebenfalls gefangen genommen und, wie es heißt, teilweise auch ermordet worden sein.

Die Geschehnisse in Brest sind gewissermaßen typisch für den Verlauf des Feldzugs. Der, auf der gesamten Front vorgetragene Überraschungsangriff schlug voll ein. Große Teile der an der Grenze stationierten sowjetischen Einheiten lösten sich sofort in Blut und Chaos auf. Dort allerdings, wo die Befehlsstrukturen erhalten geblieben waren, leisteten die Sowjets erbitterten und energischen Widerstand, der die Angreifer vor enorme Probleme stellte. Obwohl der deutsche Vormarsch in den ersten Wochen von „Barbarossa“ geradezu wie im Manöver zu funktionieren schien, musste die Wehrmacht in zunehmenden Maße die Brester Erfahrungen wiederholen und der rasch ansteigende Blutzoll beim deutschen Angreifer ließ bald erahnen, dass man sich eigentlich zu Tode gesiegt hatte. Das war schon wenige Monate nach Beginn des Feldzugs klar.

Heute ist ein Teil der Festung Brest ein Memorialkomplex mit Denkmälern und Museen, andere Areale des weitläufigen Bauwerks sind von der Natur zurückerobert worden, die umgebenden Kanäle sind teilweise verlandet. Wer nicht vor Terespol auf die Umfahrung von Brest abzweigt, sondern auf der alten Route bleibt, fährt gleich nach dem Flussübergang direkt an den Wällen der Festung vorbei.

Teil 2:

Hinter Brest knickt die E30, die von Holland bis zur weißrussischen Grenze mehr oder minder schnurgerade in relativer West-Ost Richtung verläuft, nach Nordosten ab und nimmt über Baranawitschy Kurs auf Minsk. Von dort zieht sie sich in einem wesentlich flacheren nordöstlichen Winkel weiter: über Barysau (Borisow), wo sie die Beresina überquert, Orscha, über die russische Grenze nach Smolensk, Safonovo, Wjasma, Gagarin, und schließlich an der Künstlerkolonie Peredelkino vorbei in die russische Hauptstadt Moskau. Hinter Moskau setzt sich die E30 als M5 bis nach Omsk im Sibirien fort.

Gagarin hieß früher Gschazk, da aber der erste russische Kosmonaut Juri Gagarin in der Nähe geboren wurde und auch hier gelebt hatte, wechselte die Stadt nach seinem tödlichen Flugzeugabsturz ihren Namen. Was die Datschensiedlung Peredelkino angeht, so könnte man darüber natürlich einen eigenen Beitrag verfassen. Im Westen wurde die Siedlung vor allem durch den „Vater“ von Dr. Schiwago bekannt, Boris Pasternak, Literatur-Nobelpreisträger von 1958, der hier gelebt hat und – unter Chruschtschow gedemütigt – gestorben und begraben ist, aber während der Perestroika Gorbatschows in gewissem Sinne wieder auferstehen konnte.

Die heutige Trasse der E30 umfährt in den meisten Fällen die hier genannten Ankerpunkte, viel früher verlief die Straße allerdings in Teilen ein wenig anders, und verlief direkt durch die genannten Orte. Das betrifft vor allem die Verbindung von Orscha über Smolensk bis Wjasma, wo die Straße südlich der heutigen Trasse und dann östlich von Gagarin, wo die „Neue Smolensker Straße“ nördlich der E30 verlaufen ist. Diese Bemerkungen sind nicht zuletzt für Schlachtenbummler der historischen Art von Bedeutung.                                                                                                                          

Zur Weiterfahrt von Brest nach Moskau knüpfen wir jetzt aber an den Schluss von Teil 1 an:

Während die deutsche 45. Infanteriedivision (ID) noch hart damit beschäftigt ist, die Verteidiger der Festung Brest zur Strecke zu bringen, setzt die Panzergruppe 2 unter Generaloberst Guderian noch am ersten Tag des Angriffs über den Bug über und rollt bereits Tags darauf, am 23. Juni 1941, weiter gegen Osten.

Die bei Brest übriggebliebenen sowjetischen motorisierten und gepanzerten Verteidigungskräfte versammeln sich am Morgen dieses 23. Juni im Raum Kobryn – Zabinka an der Auto- bzw. Rollbahn Brest – Minsk (= E30) zum Gegenangriff, werden aber von Guderians Panzerkräften vernichtet oder zur Seite geschoben und was sich noch retten kann, flüchtet östlich Richtung Pinsk. Die 45. ID wird nach der Eroberung von Stadt und Festung Brest sofort ins Landesinnere in Marsch gesetzt. Sie bleibt dabei im Süden Weißrusslands und bewegt sich über Pinsk weiter durch die Pripjet (Prypjat) – Sümpfe, wo sie nicht nur gegen die sowjetischen Verteidiger, sondern auch gegen Scharen von Mücken kämpfen muss. Danach wird sie gegen Süden abgedreht und bei der Umschließung Kiews verwendet. Wir werden der 45. ID später noch einmal begegnen.

Hinter der 45. ID ziehen deutsche Sicherungsbataillone und Polizeiabteilungen in Brest ein. War schon die 45. bei der Erstürmung der Festung laut Augenzeugenberichten nicht „sauber“ geblieben, beginnen die Besatzungstruppen alsbald mit Massenerschießungen, vor allem von Juden, aber auch von sonstigen Zivilpersonen, teils gezielt, teils aus momentaner Willkür. Damit startet nicht nur der allgemeine Vernichtungskrieg der Deutschen gegen weite Teile der sowjetischen Bevölkerung, sondern auch eine Art Testlauf des Holocaust, nicht allein in Brest, sondern auf der gesamten Länge der Front, vom Baltikum über Weißrussland bis in die Ukraine. Diese ungeheure Tötungsenergie (Ralph Giordano) frisst sich auch entlang der Rollbahn Brest – Minsk – Moskau (der späteren E30) nach Osten. Wir wollen es hier mit diesem Hinweis belassen.

Im Ostfeldzug beginnt jetzt das große „Kesseltreiben“. Die deutsche Führung möchte mit einem Blitzkriegskonzept die Sowjetunion innerhalb weniger Wochen lahmlegen: Die vier deutschen Panzergruppen stoßen rasch nach vorne, schließen die sowjetischen Verbände in Zangenbewegungen ein und die nachrückende Infanterie räumt die so entstandenen Kessel aus. Dieses Konzept scheint großartig zu funktionieren. Mit jeder Einkesselung gehen mehrere hunderttausend sowjetische Soldaten in Gefangenschaft, zusätzlich fällt den Deutschen deren Ausrüstung in die Hände. Heeres-Generalstabschef Halder notiert bald in seinem Tagebuch, dass es nicht zu gewagt sei, zu behaupten, man habe den Feldzug gegen die Sowjetunion innerhalb von vierzehn Tagen gewonnen. Und auch viele aus dem Fußvolk Halders teilen diese Meinung.

Den ersten von den Deutschen anvisierte Kessel bildet der Frontvorsprung von Białystok und die östlich davon angesiedelte weißrussische Hauptstadt Minsk. Białystok liegt etwa nördlich von Brest und ist heute ein Teil Nordostpolens. Dort wölbt sich bis Juni 1941 sowjetisch kontrolliertes Gebiet weit in das von den Deutschen besetzte Polen hinein. In diesem Vorsprung stehen drei sowjetische Armeen und dahinter bei Minsk liegt eine weitere in Reserve. Die Panzerkräfte Guderians stoßen jetzt entlang der Rollbahn nach Minsk vor und schwenken dann in einem kurzen Bogen in den Raum Slonim, sowie in einem langen gegen Minsk. Aus dieser Richtung erscheinen gegengleich die Kräfte der deutschen Panzergruppe 3 unter Generaloberst Hoth am Schauplatz. Diese erreichen bereits am 27. Juni die weißrussische Hauptstadt. Am 28. können sie in die Stadt eindringen und sie in der Folge besetzen. Guderians langer Angriffskeil kommt südlich nicht so schnell durch und kann erst mit etwas Verspätung den Kessel um Minsk schließen. So entsteht ein Doppelkessel. Während dieser Operation wird in der Festung Brest noch gekämpft.

Hitler und der Führungsstab der Wehrmacht geben sich jetzt dem Augenschein hin, dass man auch Großstädte wie Minsk mit schnell vorstoßenden Panzerkeilen zu Fall bringen könne. Doch vor Ort zeigt sich bereits hier ein Grundproblem des deutschen Angriffs: der viel zu geringe Motorisierungsgrad des Heeres. So können kleinere Gruppen sowjetischer Soldaten, teilweise auch mit schwerem Gerät, durch Wälder und Wiesen aus dem keineswegs luftdicht abgeschlossenen Kessel entweichen. Die übrigen sowjetischen Kräfte in der Umklammerung wehren sich nach Leibeskräften, nicht zuletzt um die deutschen Truppen zu binden. Die Sowjets stürmen mit dem Mut der Verzweiflung gegen die feindlichen Linien, werden aber von dort reihenweise niedergemäht. „Der Boden ist zu tausenden mit Russen übersät“ schreibt ein deutscher Soldat nach Hause.

Dieser Doppelkessel ist bald erledigt. Die deutschen Panzerspitzen wenden sich gegen Smolensk (E30) und die Infanterie hastet hinten nach. Smolensk, das ist das innere Tor nach Osteuropa. Das innere Burgtor Moskaus. Seine dicken Mauern sprechen von der exponierten Lage der Stadt, die für die Russen zudem eine große symbolische Bedeutung hat. Dementsprechend ausgeprägt ist das Selbstverständnis der Verteidiger. Vor Smolensk haben schon Andere tiefe Fußspuren auf den Wegen der Geschichte hinterlassen. Doch die deutschen Angreifer nehmen diese Spuren nicht wahr.

Anfang des 17. Jahrhunderts, es ist die Zeit nach Boris Godunow, brechen in Russland Thronwirren aus. Adel und Geistlichkeit Russlands matchen sich in wechselnden Koalitionen und Lagen mit dem polnisch-litauischem Doppelstaat sowie Schweden um die Krone in Moskau. Ihren Höhepunkt erreicht diese Geschichte in der Idee des schwedisch-stämmigen polnischen Königs Sigismund III., sich selbst die Moskauer Krone aufs Haupt zu setzen.

Zur Durchsetzung seiner Ansprüche versucht er als erstes, Smolensk unter seine Kontrolle zu bringen. Das scheitert zunächst an der Hartnäckigkeit der Smolensker. Die Polen belagern jedoch die Stadt, während sie gleichzeitig gegen Moskau ziehen und sich dort im Kreml einrichten. Ein Volksaufstand, der bezeichnender Weise von einem Fleischermeister angezettelt wird, fegt schließlich die polnischen Usurpatoren aus Russland heraus, Smolensk fällt jedoch nach 20 Monaten Belagerung an Sigismund. Damit hält Polen den wichtigsten Zugang zu Moskau, seinen Einfluss auf den Moskauer Thron verliert es aber trotzdem. Diese Vorgänge sind für die Wahrnehmung der Historie durch Russland von zentraler Bedeutung.

200 Jahre später erscheint abermals jemand vor den verschlossenen Toren des nun wieder russischen Smolensk und begehrt Einlass. Es ist ein kleingewachsener Franzose mit seinen Freunden: Napoleon und das, was im allgemeinen Sprachgebrauch als Grande Armée daherkommt. Die Große Armee hat, als sie über Wilna (Vilnius) und Witebsk kommend bei Smolensk auf Moskau einschwenkt, bereits etliche Federn lassen müssen. Die ungewohnten Marschbedingungen in Russland haben die Truppen erheblich dezimiert. Ganz ohne Feindberührung beginnt schon jetzt das große Sterben. Napoleon ahnt bereits, dass es besser wäre, den Feldzug zu unterbrechen, doch er lässt sich von den Russen immer tiefer in seinen Untergang hineinziehen.

Im Sturmlauf versuchen die napoleonischen Angreifer Smolensk zu nehmen. Aber sie scheitern an den dicken Mauern der Stadt und ihren entschlossenen Verteidigern. Erst nachdem Napoleons Artillerie die Stadt in Brand geschossen hat, geben die Russen Smolensk auf und ziehen sich zurück. Das Feuer läuft wie ein Sturm durch die Stadt, die darin Eingeschlossenen werden zu unförmigen Klumpen verbrannt oder von der ungeheuren Hitze ausgeglüht. Nur die wenigen Steingebäude überstehen die Katastrophe. Für Napoleon ist das Ganze, das zweifelsohne eine apokalyptische Ästhetik entwickelt, ein „schönes Schauspiel“. Doch am nächsten Morgen ordnet er an, die überlebenden Russen entsprechend zu versorgen.

Smolensk ist nur das Vorspiel für den zentralen Höllenakt auf Napoleons Weg nach Moskau: Bei dem östlich von Gschazk (Gagarin) gelegenen Borodino (etwas nördlich der E30) stellt sich die russische Armee endlich der lange geforderten „Entscheidungsschlacht“. Die Schlacht wird zum größten Massaker, das je an einem einzigen Tag von statten gegangen ist. Erst im Ersten Weltkrieg wird es gelingen, diesen „Rekord“ in den Kämpfen Deutschlands gegen Frankreich einzustellen. Von der Theorie her hat Napoleon die Schlacht gewonnen, denn er hat die russischen Stellungen um zwei Kilometer Richtung Moskau verschieben können. In der Praxis ergibt sich aber eine Pattstellung und nachdem die Russen geordnet abziehen können, dürfen sie einen moralischen Sieg für sich verbuchen.

Der russische Oberbefehlshaber Kutusov fällt nun gegen große Widerstände in den eigenen Reihen die beste und schwerste Entscheidung seines Lebens: Moskau aufzugeben und Napoleon sich darin verfangen zu lassen. Kutusovs Armee marschiert also nach Moskau hinein, um es umgehend am anderen Ende wieder zu verlassen und sich südlich davon in eine Warte- und Auffrischungsstellung zu begeben. Der Plan geht voll auf.

Im Juli 1941 wird also Smolensk von den Hausherrn nicht so mir nichts dir nichts der Wehrmacht überlassen werden. Die deutschen Angreifer müssen jetzt vollends in der Realität dieses Feldzugs ankommen: Die selben Soldaten, die zuvor noch meinten, dass „der Russe“ nicht lange durchhalten werde und der Krieg bald wieder zu Ende sei, liegen nun in ihren Erdlöchern und können nichts anderes tun, als dabei zuzusehen, wie die sowjetische Artillerie die Landschaft umpflügt, mitsamt ihren Kameraden.

Es sei die Hölle gewesen, schreibt ein deutscher Überlebender nach Hause. Und ein Anderer: ein Hexenkessel, aus dem er nur mit Glück entkommen sei. Die Kameraden seien grau geworden, das Lachen aus ihren Gesichtern verschwunden.

Aus Wut und Frustration über die Situation, in die sie hier gebracht worden sind, schlachten sich deutsche und sowjetische Soldaten buchstäblich gegenseitig ab, wobei es die Sowjets mit dem Schlachten offenbar genauer nehmen. „Keine wesentlichen Neuigkeiten“, merkt Generalstabschef Halder in einer Niederschrift an. Smolensk fällt schließlich.

Hitler macht jetzt den „glücklichen Fehler“, dass er den Sturm auf Moskau unterbricht und die Schwerpunkte der Offensive nach Süden und Norden verlegt. Erst im Oktober kann der Angriff auf Moskau wieder aufgenommen werden. Angeblich der letzte Sturm, dann soll der Kampf vorüber sein. Inzwischen hat Generalstabschef Halder aber wieder etwas notiert: Der Koloss Russland sei von uns unterschätzt worden, schreibt er.

Auch wenn nun der Angriff auf Moskau furios beginnt: In Wirklichkeit ist man sich in der deutschen Führung nicht mehr so richtig darüber im Klaren, wie es weitergehen soll. Nach der für Deutschland im September erfolgreich geschlagenen Kesselschlacht von Kiew, setzen die deutschen Truppen die sowjetische Armee mit den Kesseln von Wjasma (E30) und Brjansk doppelt unter Druck. Wieder ziehen die Sowjets den kürzeren. Der Fall von Wjasma und die anschließende Verfolgung der sowjetischen Kräfte macht die Rollbahn von Smolensk nach Moskau praktisch frei. Allerdings ist diese durch die Kampfhandlungen schwer beschädigt.

Mit dem bald darauf hereinbrechenden Herbstwetter beginnt die gefürchtete Schlammperiode. Die Wege werden unpassierbar. Auch die Rollbahnen sind in Mitleidenschaft gezogen. Mühsam arbeiten sich die Deutschen meterweise voran. Dann setzt Frost ein. Dieser macht die Straßen wieder befahrbar, wird bald darauf aber so stark, dass er die Angreifer buchstäblich außer Gefecht setzt. Einige deutsche Spitzen erreichen gerade noch Moskau, doch dort ist ihre Offensivkraft endgültig verbraucht. Ein konzentrierter sowjetischer Gegenschlag schiebt die Angreifer aus dem Umfeld der sowjetischen Hauptstadt heraus. Moskau ist gerettet. „Es gibt keine Helden“, notiert ein deutscher Soldat, „nur Opfer“.

Diejenigen deutschen Kämpfer, die den Weg bis vor Moskau überlebt haben und dann den darauf folgenden, dem Zusammenbruch nahen Rückzug, sind jetzt durch die Erfahrungen derart gehärtet, dass sie durch nichts mehr so schnell zu erschüttern sind. Dies ist mit ein Grund, wieso sich die Sowjets, nach anfänglichen Erfolgen ihrer Gegenoffensive, schließlich festbeißen. Anfang 1942 brechen die sowjetischen Truppen südwestlich von Moskau, sowie südwestlich vom westlicheren Rshew, weit in die deutschen Linien ein. Dadurch entsteht dazwischen ein Frontvorsprung der deutschen Linien. In und vor diesem Vorsprung stehen drei deutsche Armeen. Nördlich bei Rshew ist diese Ausstülpung geschlossen, südlich bei Wjasma ist sie gegen die Rollbahn Smolensk – Moskau (E30) hin offen. Die Sowjets drücken dort nun von Norden und Südosten auf die Rollbahn, um so den Sack zuzumachen. Doch das gelingt nur ansatzweise. Dadurch entwickelt sich um diese Ausstülpung bei Rshew eine der blutigsten Schlachten des gesamten Krieges, die diesbezüglich mit Stalingrad mehr als mithalten kann. Über ein Jahr lang rennt ein ganzes Konglomerat von sowjetischen Armeen gegen die sich dort verteidigenden Deutschen an, ohne Erfolg. Fehlendes taktisches Vermögen versucht die sowjetische Kampfleitung durch den gnadenlosen Einsatz von Menschenleben zu ersetzten. Umsonst. Erst als die Deutschen aufgrund der allgemeinen Verschlechterung der Lage Anfang 1943 aus dem Frontvorsprung abziehen, können die Sowjets nachstoßen und auf der Verbindung Moskau – Smolensk weiter nach Westen rücken. Der Großraum Rshew bleibt als riesiges Leichenfeld zurück. Ein Unfriedhof, aus dem noch immer die Überreste der getöteten Soldaten beider Seiten geborgen werden, um sie in Gräber umzubetten. Manchmal liegen die sowjetischen Gefallenen unter den Feldern in bis zu sieben Schichten übereinander.

In dieser Rückzugssituation bekommen die Nazis die Gelegenheit, den fehlenden Erfolg am Schlachtfeld durch einen Propagandafeldzug wettzumachen. Nahe Smolensk, unweit der Rollbahn, stoßen die deutschen Truppen auf ein Massengrab. Nach eingehenden Untersuchungen stellt sich heraus, dass darin polnische Offiziere und Zivilpersonen verscharrt worden sind. Erschossen von den Häschern Stalins, nachdem die Sowjetunion 1939 den Osten Polens besetzt hatte. Wie man heute weiß, nur einer von mehreren Orten, wo derartiges passiert ist, aber der hiesige ist mit seinem Namen Katyn das Symbol dafür. Reichspropagandaminister Goebbels erkennt sofort das Potential des Fundes und zieht die Sache international groß auf. Sein Ziel: durch Anprangerung des Massenmordes die gegen Deutschland gerichtete Kooperation des Westens mit der Sowjetunion zu zerstören. Obwohl die Glaubwürdigkeit der Sowjetunion massiv in Frage gestellt ist, hat es nur ansatzweise die Folgen, die sich Goebbels erhofft. Schließlich müssen die Deutschen die Bearbeitung des Fundes aufgeben. Sowjetische Panzer nähern sich unaufhaltsam.

Die Sowjets beginnen damit, die Deutschen langsam aber stetig von der Rollbahn Moskau – Smolensk – Orscha (E30) wegzuschieben. Das geschieht in den sog. „Rollbahn-“ oder „Autobahnschlachten“ vom Herbst 1943 bis zum Frühjahr 1944. Diese werden von der sowjetischen Führung in der üblichen Manier geführt: fehlende militärische Ideen, dafür umso größerer personeller Aufwand, sprich Verluste an Menschenleben. Im Frühjahr 44 stehen die sowjetischen Truppen schließlich östlich der Linie Witebsk – Orscha – Mogilew, d. h. etwa an der Ostgrenze Weißrusslands. Dort werden die sowjetischen Truppen neu gruppiert und in einer Reihe von „Fronten“ zusammengefasst. Diese werden von Norden nach Süden gestaffelt für einen fundamentalen Angriff auf die deutschen Linien im Mittelabschnitt des Kriegsschauplatzes bereitgestellt. Die Operation trägt den Namen eines in der Schlacht von Borodino 1812 tödlich verwundeten Generals der Russen Bagration. Angriffstermin ist der 22. Juni 1944. Sozusagen die Jubiläumsfeier zum dritten Jahrestag des Überfalls Nazideutschlands.

Was jetzt folgt, ist die größte militärische Katastrophe der Wehrmacht. Eigenartigerweise ist der Vorgang aber nie wirklich im allgemeinen Bewusstsein der Deutschen und Österreicher angekommen. Innerhalb von drei bis vier Wochen durchquert die sowjetische Armee Weißrussland. Die Kräfte der Wehrmacht lösen sich dort binnen kurzem auf, ganze Divisionen der Deutschen verschwinden gleichsam über Nacht von der Landkarte. Auch die 45. ID, die in den Raum Bobruisk im Südosten Weißrusslands zurückgezogen worden ist, wird vollständig vernichtet. Brest fällt am 28. Juli in die Hände der Sowjets. Nachdem die Operation Bagration heutigen polnischen Boden erreicht hat, muss die Kampagne zunächst gestoppt werden. Der Nachschub ist mit dem schnellen Vormarschtempo nicht mehr mitgekommen, nicht zuletzt, da die Infrastruktur in großem Ausmaß zerstört ist. Die Deutschen brechen auf ihrem Rückzug nicht nur alle Brücken hinter sich ab. Hitler und seine Generäle stehen vor dem Scherbenhaufen ihrer Selbstüberschätzung.

Teil 3

Wir drehen die Zeit ein wenig zurück:

Herbst 1812. Mit der Feststellung, er werde lieber mit dem geringsten seiner Bauern im hintersten Winkel Sibiriens Kartoffeln essen, als mit diesem Ungeheuer zu verhandeln, schlägt Zar Alexander die Verhandlungsangebote des in Moskau sitzenden Napoleon aus. Letzterer kann also nur mehr einpacken gehen und Moskau verlassen. Kaum biegen die napoleonischen Truppen wieder auf den Weg nach Smolensk ein, heften sich verschiedene russische Korps an deren Fersen. Russlands Oberbefehlshaber Kutusow scheut sich aber, Napoleon direkt herauszufordern und lässt dessen Armee ziehen, in der Hoffnung, dass weiter westwärts eine Falle zuschnappen werde. Fast wäre es dazu gekommen.

Die Rückkehr der Invasionsarmee nach Hause entwickelt sich bald zu einem veritablen Chaos. Das hat einerseits mit mangelnder Vorbereitung und Ausrüstung zu tun, andererseits mit fehlenden Versorgungsmöglichkeiten, sowie mit der Masse an Menschen, die sich über einen sehr begrenzten, engen Raum, nämlich diese eine Straße von Moskau nach Smolensk vorwärts bewegt. Der Armee hat sich noch eine unüberschaubare Menge an Zivilisten angeschlossen, die nun gemeinsam westwärts ziehen, in einem langen Zug, der sich über eine Ausdehnung von mehreren dutzend Kilometern erstreckt. Das bedeutet, dass die Marschbedingungen mitunter sehr verschieden sind. Wer an der Spitze des Trosses geht, kommt gut voran, wer hinten mitzieht, ist oft den fürchterlichsten Bedingungen ausgesetzt. Außerdem steigen die Überlebenschancen des oder der Einzelnen stark an, wenn er/sie in einer Gruppe kooperativ zusammenarbeitet. Wer dagegen nur auf seinen Eigennutz sieht, für den ist zumeist früher oder später Endstation.

Während die ersten Tage des Rückzugs noch einigermaßen tragbar erscheinen, ändert sich das Anfang November schlagartig, als Frost und Schneefall einsetzen. Darauf ist man so wenig eingestellt, dass viele Soldaten gleich in der ersten winterlichen Nacht im Schlaf erfrieren. Als die Offiziere am nächsten Morgen ihre Mannschaften wecken wollen, stellen sie mit Entsetzen fest, dass viele in die ewige Ruhe übergegangen sind.

Der Weg der napoleonischen Armee steigert sich nun zu einem unvorstellbaren Elend, das nur durch die Hoffnung ertragen wird, dass es weiter westwärts irgendwie besser werden würde. Trotz dieser fürchterlichen Bedingungen entwickeln die Soldaten Napoleons aber, wenn sie von den Russen angegriffen werden, eine kaum zu glaubende Kampfkraft.

Skizze E30 östlicher Teil. Straßen sind rot eingezeichnet, Gewässer blau. Die grauen Linien bilden die Staatsgrenzen.

Skizze E30 östlicher Teil. Straßen sind rot eingezeichnet, Gewässer blau. Die grauen Linien bilden die Staatsgrenzen.

Nach ersten Gefechten östlich von Wjasma errichten die Russen schließlich westlich von Smolensk Straßensperren und positionieren sich gleichzeitig südlich der Sperren im Gelände. Napoleon und die ihm folgenden Truppen kämpfen sich unter großen Opfern und mit einer Portion Kriegslist an den Russen vorbei. Doch der Kaiser der Franzosen zahlt dafür einen Preis, nämlich den, seine Nachhut aufzugeben. Diese wird von Marschall Ney angeführt und besteht beim Abmarsch aus Smolensk aus noch etwa sechstausend Mann. Ney gilt als besonders tapferer Kämpfer. Als er aber erkennt, dass er mit seinem Korps, von allen verlassen, in der Falle sitzt, entlockt ihm das nicht nur ein populäres Wort aus der Fäkalsprache: Seine Wut macht sich in lautstarken Beschimpfungen Napoleons Luft. Doch der kann das zum Glück nicht hören. Dann stellt Ney sich dem Kampf. Mit ungeheurer Zähigkeit versuchen die Regimenter Neys durchzubrechen, die Russen aber mähen eine anstürmende Reihe nach der anderen nieder. Die einbrechende Nacht beendet vorerst die Kämpfe. Es scheint aber nur mehr eine Frage der Zeit, bis auch der Rest von Neys Korps in die Hände der Russen fällt. 

Ney gibt sich aber noch nicht geschlagen. Während er vortäuscht, ein Biwak aufzuschlagen, setzt er sich mit seinen Mannen langsam Richtung Norden ab, um dort den Fluss Dnjepr zu überschreiten. Der Dnjepr ist zugefroren. Das Eis trägt zunächst, bricht aber schließlich unter der anhaltenden Belastung des darüber ziehenden Korps ein. Etliche Unglückliche versinken im Wasser, ohne dass ihnen die Kameraden helfen können. Der Großteil des Korps gelangt dennoch ans andere Ufer. Von dort zieht man in westlicher Richtung weiter nach Orscha, wo Napoleon und die anderen verzweifelt auf Ney hoffen.

Neys Zug bewegt sich jetzt genau durch das Gebiet, durch das viel später die E30 verlaufen wird. Eine nördlich davon stehende russische Armee entdeckt ihn und verfolgt ihn durch dichten Wald. Dieser erschwert allerdings auch den Angriff auf die Flüchtenden. Etwa noch eintausend von Neys Mannen entkommen völlig erschöpft nach Orscha.

Napoleon ahnt, dass er mit dem Erreichen Orschas der Falle noch nicht entkommen ist. Er interpretiert den bisher ausgebliebenen Generalangriff Kutusows auf seine Armee damit, dass er zunächst durch den langen Rückzug so sehr geschwächt werden sollte, dass er dann im finalen Kampf umso leichter zur Strecke gebracht werden kann.

Dieser finale Kampf wird sich im Bereich der letzten und größten Hürde abspielen, die seine zusammengeschmolzene Große Armee zu nehmen hat: dem Fluss Beresina. Die Beresina teilt Weißrussland gleichsam in einen Ost- und einen Westteil. Im Raum der Beresina operieren nun Reservearmeen bzw. Korps sowohl der Russen als auch Napoleons. Napoleon ist sich aber der Gesamtlage nicht bewusst. So läuft er nach seinem Aufbruch nach Borisow (Barysau E30) direkt in die Falle. Von allen Seiten bewegen sich russische Armeen auf ihn zu. Eigentlich eine ausgemachte Sache für die Hausherren. Doch die Falle schnappt nicht zu. Die Eigenmächtigkeit eines russischen Kommandeurs und die Fehleinschätzung eines anderen öffnen Napoleon doch noch ein Fenster.

Nachdem die Russen in Borisow die Brücke über die Beresina zerstört haben, muss Napoleon umdisponieren. Der dort geplante Übergang über die Beresina fällt ins Wasser, die Lage ist damit für Napoleon eigentlich hoffnungslos. Doch er erkennt seine letzte Chance. Er hängt die russischen Armeen ab und weicht an eine seichtere Stelle des Flusses 12 km nördlich von Borisow aus, wo er von seinen Spezialisten zwei Brücken bauen lässt. Über die ziehen, schieben und drängen sich nun die Reste der verschiedenen Korps der einstigen Grande Armée. Das geht mit etlichen Opfern einher, aber immerhin nimmt man auf der gegenüberliegenden Seite einigermaßen geordnet Aufstellung.

Hinter den Kampfverbänden dürfen die Nachzügler und Zivilisten die Brücken passieren. Doch nur die wenigsten nehmen das Angebot auch in Anspruch. Da inzwischen die Nachhut ihrer Armee eingetroffen ist, die die Ostseite der Brücken absichern soll, entschließen sich die Meisten die Nacht am Ostufer der Beresina zu verbringen – ein verhängnisvoller Fehler. Am nächsten Morgen erscheinen zu beiden Seiten des Flusses russische Armeen und greifen die dort lagernden napoleonischen Truppen frontal an. Doch Napoleons Soldaten verbeißen sich in den Gegner. Obwohl eine ihrer Einheiten nach der anderen aufgerieben wird, weichen sie nicht zurück. Der Schnee färbt sich rot, rot, blutrot. Aber sie halten ihre Stellungen. Am Abend müssen die Russen den Kampf aufgeben. Sie sind keinen Zentimeter vorwärts gekommen, haben aber selbst immense Verluste davongetragen.

Hinter diesen Kämpfen spielt sich am Ostufer noch ein weiteres Drama ab. Die Russen schießen mit ihrer Artillerie direkt in das ufernahe Gebiet, wo die Nachzügler und Zivilisten lagern. Daraus entsteht eine Massenpanik, in der alle gleichzeitig versuchen, durch das Nadelöhr der einzigen Fluchtmöglichkeit zu entkommen: den beiden Brücken. Doch eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr! Wer nicht von den russischen Geschoßen zerfetzt wird, wird von der Menge niedergetrampelt oder unrettbar ins eisige Wasser gestoßen. Die wenigsten kommen durch. Die Geschehnisse an der Beresina sind zweifelsohne ein Sieg Napoleons – und eine der größten Tragödien der Menschheitsgeschichte.

Napoleon entschließt sich nun, seinen ursprünglichen Plan aufzugeben, nach Minsk zu ziehen und steuert wieder Wilna an, von wo der Feldzug seinen Ausgang genommen hat. Damit entfernt er sich mit seiner Armee aus dem Gebiet, durch das später die E30 verlaufen wird und wir verlieren ihn damit aus den Augen. Es sei noch dazu gesagt, dass die härtesten Tage des Rückzugs noch bevorstehen. Die Temperaturen werden ins Bodenlose fallen und die kümmerlichen Reste der Grande Armée sich langsam aber sicher auflösen. Allerdings sind auch die Russen von den Vorkommnissen derart geschwächt, dass sie nur mehr erschöpft nachhinken werden, ohne das Potential zu haben, nochmals konzentriert anzugreifen.

Nur rund hundertdreißig Jahre später ziehen wieder Invasoren auf der beschriebenen Strecke nach Moskau und werden genauso wieder zurückgedrängt wie Napoleons Armee. Napoleons Feldzug gegen Russland war eine Art europäisches Projekt: Soldaten aus fast aller Herren Länder des Kontinents zogen für ihn in diesen Krieg. Portugiesen, Spanier, Italiener, Holländer, Belgier Schweizer, Kroaten, Österreicher, und vor allem Deutsche und Polen stellten neben den Franzosen selbst die wichtigsten Kontingente. An der Beresina kämpften neben einer französischen Einheit vor allem Polen, Holländer, Schweizer und Deutsche.

Diese Illusion einer europäischen Erhebung gegen Russland hat Hitler propagandistisch wiederzubeleben versucht, als „Europäischen Kreuzzug gegen den Bolschewismus“. Tatsächlich hatte er eine Menge Verbündete, Freiwillige und Kollaborateure an seiner Seite. Ein Drittel der während des Ostfeldzug eingesetzten Uniformierten waren Nicht-Deutsche. Obwohl diese Idee der europäischen Erhebung gegen Moskau kolossal gescheitert ist, hat sie den Untergang des Nazi-Reiches in Nischen überstanden.

Letztendlich hat sich diese Idee aber gegen ihre Propagandisten selbst gerichtet. 1944/45 bedeutete das, dass der Hauptvorstoß der Sowjetarmee nach dem Fall Warschaus von dort im Großraum der Verbindungsstraße nach Berlin verlief, also der späteren E30, auf der die Sowjets eine große Flüchtlingswelle vor sich herschoben. Zuerst fiel Posen, dann wurde – als Teil der im Oderbruch stattfindenden letzten großen Durchbruchsschlacht – Frankfurt an der Oder zerstört und schließlich ging Berlin unter.

Wie immer hat sich Macht- und Gewaltanspruch als völlig banal und für sich belanglos erwiesen.

Die E30 ist also eine Straße, die West und Ost und Ost und West miteinander verbindet. Sie ist ein Ort, auf dem mit blutiger Tinte „große“ Geschichte geschrieben wurde und auf dem gleichzeitig versucht worden ist, aus dieser Art von Geschichtsschreibung zu lernen. Und sie ist ein Denkmal. Ein Denkmal für Hybris und Dummheit in der Geschichte. Eine entsprechende Gedenktafel wurde, soweit bekannt, noch nicht angebracht. Aber das kann ja noch werden.

 

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    Steffen Hebenstreit 2 Monaten

    Beim heutigen Ukraine-Krieg kommen Hybris und Herrschaftsanspruch aus dem Osten, und das ist auch nicht besser. Russland, welches im 20. Jahrhundert Opfer eines Raub- und Eroberungskrieges der faschistischen deutschen Diktatur war, ist nun selbst eine faschistische Diktatur geworden und führt nun selbst einen Raub- und Eroberungskrieg. Es hat also nichts aus seiner Geschichte gelernt. Wenn die russische Regierung ständig einseitig Russland als Opfer der Geschichte und uns Europäer als böse Täter über 1000 Jahre Geschichte hinweg darstellt, dann ist das pure Geschichtsfälschung und Propaganda. Die meisten Kriege und Konflikte der letzten 1000 Jahre in Europa fanden zwischen den vielen kleinen europäischen Staaten statt, nur sehr wenige zwischen europäischen Staaten und Russland. Russland hat in seiner Geschichte mehr Kriege gegen asiatische Völker als gegen europäische Völker geführt. Aus Asien kam übrigens auch der einzige erfolgreiche Eroberungskrieg gegen Russland: Der Mongolen-Sturm von Dschingis Khan, der Russland über 200 Jahre Fremdherrschaft brachte, deren Brutalität und Grausamkeit die russische Geschichte und die russische Mentalität bis heute prägen. Und Russland hat selbst auch viele Raub- und Eroberungskriege geführt, angefangen von Iwan dem Schrecklichen, der die Tataren-Khanate Kasan und Astrachan angegriffen und erobert hat und damit sein Herrschaftsgebiet bis zum Ural und zum Kaspischen Meer ausgedehnt hat. Seine Nachfolger eroberten Sibirien bis zur Behringstraße, Alaska (welches später an die USA verkauft wurde), die Kaukasusregion (heute Südrussland zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer sowie die heutigen Republiken Georgien, Armenien und Aserbaidschan) und Zentralasien (die heutigen Republiken Kasachstan, Turkmenistan, Usbekistan, Tadschikistan und Kirgisien). Keines der eroberten Völker hat sich freiwillig unter russische Fremdherrschaft begeben, genausowenig wie die Indianervölker Nordamerikas unter die Herrschaft Kanadas und der USA. Wenn also Putin behauptet, Russland sei das einzige europäische Land, welches nie Kolonien gehabt hätte, und Russland beim BRICS-Gipfel als antikoloniale Macht darstellt, dann ist das einfach gelogen. Russland hat null demokratische, republikanische und humanistische Tradition, dort gab es bisher immer nur Diktatur, Gewalt, Unterdrückung, Lüge und Korruption. Dieser Artikel hier möchte aus einer richtigen, aber selektiven Geschichtsdarstellung heraus suggerieren, dass das „böse Europa“ auch am Ukraine-Krieg schuld sei und nicht der Aggressor Russland. Das ist aber falsch, wie hier in Deutschland jeder weiß.

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      Horst Beger 1 Woche

      Steffen Hebenstreit konstruiert sich hier zum wiederholten mal seine eigene jesuitistische antirussische Welt, die durch die Wiederholung nicht glaubwürdiger wird. Das wissen auch diejenigen in Deutschland, die sich intensiver mit der russischen Geschichte befasst haben, wie der amerikanische Geostratege Samuel Huntington, der in seinem Buch „Kampf der Kulturen“ von 1996 aufgezeigt hat, dass das römische Christentum das orthodoxe Christentum seit über tausend Jahren bekämpft, und dass diese „Kulturgrenze“ auch die Ukraine in eine vom russischen Christentum geprägte Ostukraine und eine vom römische Christentum beeinflusste Westukraine teilt, also ganz aktuell ist.

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    Horst Beger 3 Monaten

    Die eindrucksvolle Schilderung der Schlachten Napoleons und Hitlers mit Russland entlang der „Europastraße 30“ lassen es fragwürdig erscheinen, ob diese Heerstraße je „Brücke und Graben zugleich“ war, wie der Autor das erklärt; und ob „eine zukunftsfähige, aufgeklärte und intellektuell wache Gesellschaft (falls es das gibt) aus dieser Geschichte ihre Lehren ziehen wird.“ Der gegenwärtige Stellvertreterkrieg Europas und der USA mit Russland in der Ukraine beweisen eher das Gegenteil, vergleichbar ist allenfalls, dass es „Ein Schlachten war, nicht eine Schlacht zu nennen“, wie Friedrich Schiller das in seiner „Jungfrau von Orleans“ ausgedrückt hat.

    Interessant ist, dass der Autor in diesem Zusammenhang auf den katholischen König Sigismund III. von Polen hinweist, der 1609 ermuntert vom Vatikan, „dass es kein glorreicheres und verdienstvolleres Unternehmen für den polnischen König geben könne, als die Eroberung Moskaus“, mit der Invasion und Belagerung von Smolensk begann. Und, dass die Polen erst 1611 durch den Volksaufstand eines „Fleischermeisters“ (Kosma Minin aus Nischni Nowgorod) wieder aus Moskau vertrieben werden konnten. Dies zeigt, dass es im Hintergrund des West-Ost-Konfliktes seit jeher einen Mitspieler gab, wie der amerikanische Geopolitologe Samuel Huntington das in seinem Buch „Kampf der Kulturen“ von 1996 wieder aufgezeigt hat. Darin weist er darauf hin, dass das westliche (römische) Christentum das östliche (russische) Christentum seit Jahrhunderten bekämpft, und dass diese „Kulturgrenze“ auch die Ukraine in eine vom russischen Christentum geprägte Ostukraine und eine vom römischen Christentum beeinflusste Westukraine teilt, also ganz aktuell ist. „Diese Vorgänge sind für die Wahrnehmung der Geschichte durch Russland (bis heute) von zentraler Bedeutung“, wie der Autor zu Recht feststellt.

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