Die Welt von morgenAlexander Rahr

Die Welt von morgen

[von Alexander Rahr] Es ist reiner Unfug, wenn in der heutigen Zeit ausgebildete Politikwissenschaftler oder Historiker nicht nach ihrem Wissen beurteilt werden, sondern rein nach ihrer Haltung. Kaum wagen manche hochqualifizierten Experten, ihr im Studium erlangtes Fachwissen

konträr zum beängstigend verengten Meinungskorridor des Mainstreams vorzubringen, werden sie gnadenlos auseinandergenommen. Warum muss jemand, der eine langjährige wissenschaftliche Ausbildung an einer Hochschule erhalten hat, selbst als Professor lehrt, heute ständig bekennen, ob er für Russland oder die Ukraine, für Israel oder für Palästina, für Biden oder Trump, für Armenien oder Aserbaidschan ist? Von ihm wird doch zunächst Expertise verlangt! Diese Expertise mag gefallen oder missfallen, das spielt keine Rolle –entscheidend ist, dass sie wissenschaftlich fundiert, also belegt ist.

Die meisten Menschen scheinen beim Konsum von Nachrichten einfach überfordert zu sein, sie werden getragen von reinen Gefühlen, Sympathien und nichts anderem. Überwältigt vom Ansturm der sozialen Medien und dem Glaubensdruck seitens der Leitmedien, geben sie sich Gefühlen wie der Entrüstung ungehemmt hin. Doch vordergründige Aufgabe des Experten ist es nicht, Emotionen zu bedienen, sondern Licht ins Dunkle der Zeitenwende zu bringen.

In diesem Sinne – die folgende Expertise zum Weltumbruch: Der Krieg in Palästina könnte einen Flächenbrand im Nahen und Mittleren Osten entfachen, ebenso der Ukraine-Krieg, der zum Atomkrieg ausarten könnte. Diesen Gedanken einfach verächtlich mit der Hand wegzuwischen – wird nicht gehen.

These 1: Mit dem Ukraine-Krieg begann sich der Umbau der unipolaren Weltordnung zu beschleunigen. Konflikte um Taiwan scheinen unvermeidlich, aber auch in der Türkei, in Palästina, im Kaukasus, in Nordafrika oder im Nahen und Mittleren Osten nehmen die Spannungen erheblich zu. Die Experten sollten hier nicht von den unverantwortlichen Äußerungen einzelner russischer Politiker vom Führen eines Atomkriegs ablenken, aber sie müssen auf die beängstigende US-Ansicht hinweisen, der Westen müsse sein liberales westliches Demokratiemodell überall hin importieren und die Welt von den „Diktatoren säubern“. Die Europäische Union steht in diesem Bestreben vollkommen unkritisch hinter Washington. Die Nicht-westliche Welt dagegen opponiert wie nie zuvor.

Der Westen steht an der Seite Israels, die Nicht-westliche Welt, der globale Süden – auf der Seite der „Opfer westlicher Kolonisation“, also der Palästinenser. Das sind die wahren Vorboten einer neuen Zweiteilung der Welt.

Die Weltordnung hat sich eigentlich schon immer durch Gewalt verändert. Dies war der Fall während des Ersten Weltkriegs, als die alten Imperien Österreich-Ungarn, das Osmanische Reich, das zaristische Russland und Deutschland für immer verschwanden. Ähnliche Umwälzungen der Weltordnung gab es nach dem Sieg über Napoleon und dem anschließenden Wiener Kongress 1815. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg schrieben die drei Siegermächte USA, Großbritannien und die UdSSR die neue Ordnung des 20. Jahrhundert. So wird es auch in den 2020er Jahren des 21. Jahrhunderts kommen, und leider wird die neue Weltordnung wieder durch Gewalt gestaltet werden. Wir können nur hoffen, dass sie im Wesentlichen durch Wirtschaftskriege und nicht durch bewaffnete Kämpfe geformt wird.

Man wäre schon zufrieden, wenn die Mächte zumindest miteinander Kompromisse verhandeln könnten, wie sie es am Ende des Zweiten Weltkriegs in Jalta und Potsdam getan haben. Wünschenswert wäre, dass die heutigen Großmächte wenigstens eine funktionierende Friedensordnung – errichtet zumindest auf einer friedlichen Koexistenz – hinbekommen. Sie müssen sich dafür aber als gleichberechtigte Partner zusammensetzen, im gegenseitigen Respekt. Dieser Wunsch ist in der nicht-westlichen Welt derzeit vorhanden, trotz Ukraine-Krieg. Der Westen will aber keine gleichberechtigten Debatten mit autoritären Mächten und fordert „seine Experten“ zu sagen, die Idee einer multipolaren Welt sei eine Schimäre.

Es besteht noch eine gewisse Hoffnung, dass sich die führenden Mächte der Welt auf eine demokratische Umgestaltung des UN-Sicherheitsrats einigen können, welche die Kräfteverhältnisse besser widerspiegelt. Darin müssen Indien, Brasilien und ein afrikanisches Land definitiv einen Platz haben. Dies könnte der entscheidende Schritt zu einem relativ friedlichen Übergang sein. Dafür sollten aber auch die führenden Industrieländer Deutschland und Japan im UN-Sicherheitsratberücksichtigt werden.

Wenn es keinen Konsens über eine gerechtere Globalisierung und ein internationales System gibt, dann werden Amerika und Europa einen Pol bilden, während der andere Pol – Eurasien – von China, Russland, Indien, Iran, der Türkei gestaltet wird. Diese asiatischen Länder werden sich untereinander über die internen Verhältnisse dieses zweiten Pols einigen, im Rahmen der BRICS oder Schanghai Organisation für Zusammenarbeit. In diesem Fall können sie gewillt sein, ihre eigene alternative UNO zu gründen, während Europa und Amerika weiterhin in „ihrer“ UNO in New York bleiben.

Der dritte Pol könnte aus den arabischen und afrikanischen Ländern bestehen, die sich von der Pax Americana fernhalten. Aber sie werden auch nicht zu Chinas Vasallen. Sie werden die neuen Blockfreien. Es ist natürlich noch zu früh, über diese Begriffe zu sprechen, da sich die Konturen der neuen Weltordnung erst abzeichnen. Die Welt ist bereits einigermaßen multipolar, aber die Institutionen dieser Ordnung sind noch lange nicht etabliert.

Fazit: Der Ukraine-Krieg ist einer der Mosaiksteine der multipolaren Ordnung. Sein Ausgang könnte das Schicksal der Nato und der europäischen Sicherheitsordnung bestimmen. Am Ende des Krieges könnte ein russisch-chinesisches Bündnis entstehen. Auch das asiatische Militärbündnis AUKUS würde gestärkt. Eine konfrontative Weltordnung wäre die Folge.

Wenn Russland gewinnt, wird die Nato auf jeden Fall geschwächt werden. Ein Sieg der Ukraine könnte wiederum das Machtbewusstsein des Westens stärken, um sich dann gegen China zu wenden. Ein westlicher Sieg über Russland und China wäre das Ende der BRICS und der alternativen multipolaren Weltordnung.

Eine Schwächung des Westens würde genau das Gegenteil bewirken.

These 2: Es handelt sich in der Ukraine um einen Krieg mit mehreren Vektoren. Die beiden slawischen Völker haben sich wie Bluthunde ineinander verbissen. Der slawische Konflikt hat einen historischen Hintergrund, denn die Menschen in der Westukraine und die Russen haben sich in der Geschichte seit der Kiewer Rus niemals verstanden. Diese Animositäten waren entscheidend für den Zusammenbruch der Sowjetunion. Doch im Wettkampf um die Zugehörigkeit der Ukraine – zur westlichen oder russischen Einflusszone – haben sich seit 2014 auch der Westen und Russland ineinander verbissen.

Russland bekämpft dabei weniger die EU, mit der sie lange Zeit eine Modernisierungspartnerschaft unterhielt, als vielmehr die Nato-Osterweiterung. Der Hauptgrund für den Ausbruch des Ukraine-Krieges war nicht zuletzt die Expansion des nordatlantischen Bündnisses an die russischen Grenzen.

Am Ende ist die Ukraine wahrscheinlich der größte Verlierer in diesem Krieg. Auch wenn Europa und Russland den Krieg selbst einigermaßen schadlos überstehen, werden sie in den Auseinandersetzungen für die Zukunft doch erheblich geschwächt sein – politisch, wirtschaftlich und militärisch.

Reicht die Kraft Europas, die Existenz der Ukraine langfristig abzusichern? Die beiden größten Nutznießer dieses Konflikts sind zweifelsohne die beiden Supermächte Vereinigte Staaten von Amerika und China. Von beiden hängt nicht zuletzt ab, wann der Krieg endet.

Wann endlich endet der schreckliche Ukraine-Krieg? Der Westen muss sich wohl damit abfinden, dass die Ukraine einen Teil ihres Territoriums verliert. Zumindest die Krim und den Donbass.

Was wird aus dem Westen, was aus Europa? In wirtschaftlicher Hinsicht sind die ehemaligen „asiatischen Tiger” heute ernstzunehmende Mächte und überholen Europa. Die deutsche oder französische Wirtschaft kann mit Vietnam oder Singapur gerade noch mithalten, aber nicht mit China. Von den Spaniern, Italienern, Britten und Griechen gar nicht zu sprechen. Europa schwächelt, während Amerika, die westliche Führungsmacht, starke Konkurrenz durch die BRICS-Staaten bekommt, die die werte- und regelbasierte Ordnung des Westens (Washingtoner Konsens 1945) in Frage stellen. Wir reden hier nicht von Zukunftsmusik, sondern von der Gegenwart.

Amerika geht eigene Wege und orientiert sich pragmatisch nach Asien. Geld, wie im Kalten Krieg für Europa auszugeben, haben die USA nicht mehr. Europa erwarten schwierige Zeiten, die Sozialsysteme sind nicht mehr aufrechtzuerhalten. Vermutlich stehen der EU größere Protestbewegungen ins Haus. Man sollte vorsichtig sein mit Angstmacherei von einer „Dämmerung” Europas, aber wir müssen aufpassen. Der Wegfall der Energiepartnerschaft mit Russland infolge des Krieges hat die EU geschwächt. Natürlich auch Russland, das seinen besten Kunden verloren hat. Beides zerstört Wohlstand, schürt Aggressionen.

Und die Menschheit steht vor enormen Herausforderungen, so viele an der Zahl, dass sie kaum bewältigt werden können. Da ist zunächst der Klimawandel. In Afrika, in den arabischen Ländern wird man das vorherige Leben nicht mehr leben können. Wir in Europa müssen uns auf eine Welle von Migranten einstellen. Es ist unwahrscheinlich, dass diese und andere Herausforderungen ganz friedlich, ohne Kriege gelöst werden.

Wie kann die Weltwirtschaft eine Gesamterdbevölkerung von 9 Milliarden Menschen aushalten? Hat der Planet für diesen rasanten Bevölkerungswachstum genug Ressourcen? Langen die Wasservorräte, Energieträger? Die Armut in bestimmten Regionen wird immer unerträglicher werden. Dies führt zu Spannungen und wahrscheinlich ethnischen und religiösen Konflikten. In einigen Regionen der Welt sind bewaffnete Konflikte um Wasserressourcen und Nahrungsmittel gang und gebe.

Gleichzeitig altert Europa. Es wird an globaler Bedeutung verlieren. Und dann ist da noch der unkontrollierte Aufstieg der künstlichen Intelligenz, die beschleunigte Aufrüstung, weil neue Kriege kommen. In den nächsten Jahren wird die Menschheit erkennen, dass die wichtigsten Probleme nicht Demokratie oder Moral sind, sondern die Frage, wie man auf dieser Erde zusammenleben kann und wie man die Menschheit ernähren kann in einer Zeit, wo das Klima auf dem Planeten kippt.

Aus mancher Sicht wird sich Amerika von Europa langfristig strategisch abwenden und auf den Hauptrivalen China konzentrieren. Sicherlich werden die Vereinigten Staaten Europa nicht einfach fallenlassen, aber die Europäer zwingen, für ihre Sicherheit selbst zu zahlen. Das kann schon beim nächsten Machtwechsel in den USA passieren.

Dritte These: Europa hat es sträflich verpasst, seine globale Autorität und Autonomie zu stärken. Manche Beobachter fragen sich, ob Europa überhaupt noch Europa ist. In Sicherheitsfragen ist Europa weiterhin von den USA abhängig, amerikanischen geopolitischen Interessen untergeordnet.

Lassen die USA keine europäische Autonomie zu, oder sind die Europäer in Wirklichkeit entzweit? Eine wirkliche Suche nach der gemeinsamen europäischen Identität hätte vielleicht den Konflikt mit Russland verhindert. Ein gemeinsamer Raum Lissabon-Wladiwostok wäre zukunftsweisender gewesen, er hätte für mehr, nicht weniger Stabilität gesorgt.

Die Deutschen sagen, Europa sei eine Wertegemeinschaft. Die Türken sagen, Europa sei ein geographischer Begriff. Die Britten wollen aus Europa eine geopolitische Sicherheitsgemeinschaft machen. Die Osteuropäer wollen ein Europa der Nationalstaaten. Europa hat noch einen langen Weg vor sich, es muss eine gemeinsame Außen-und Sicherheitspolitik nicht nur ständig debattieren, sondern institutionalisieren. Vielleicht braucht die EU ein anderes Gerüst, neue Institutionen, mehr eigene Entscheidungsgewalt als Bürokratie.

Sieht man in Brüssel denn nicht, dass die Mehrheit der Europäer mit der jetzigen Europäischen Union unzufrieden ist? Bei den nächsten Europawahlen könnte es ein politisches Erdbeben geben. Die heutigen Herrschaftseliten wirken ziellos und hilflos, auch und gerade angesichts der großen Krisen und Herausforderungen, die hereinbrechen. Die heutige Politikergeneration scheint weltfremd, sie erkennt das Ausmaß der Herausforderungen nicht.

Die Aufnahme der Ukraine könnte die EU für immer zerreißen. Viele Experten können sich beim besten Willen eine größere Erweiterung der derzeitigen EU nicht vorstellen. Die Europäische Union wird eher den Weg der verschiedenen Geschwindigkeiten bei der Integration gehen. Sie wird wie eine Matrjoschka sein, eine große Puppe, die man mehrfach öffnen und in deren Körper verschiedene kleine Puppen auf unterschiedlichen Ebenen hineinpassen. Berlin wird ein Kerneuropa fördern, Staaten um sich scharen, die sich voll integrieren wollen. In einem äußeren Kreis werden diejenigen Länder verweilen, wie Norwegen, Schweiz, Großbritannien und künftig vielleicht Ungarn, aber bestimmt noch weitere Staaten geben, die keine vertiefte Integration wollen.

Und was wird dann mit der Ukraine geschehen? Die EU plant eine völlig neue Form der Mitgliedschaft für die Ukraine zu finden. Es wird keine bloße Assoziierung sein, sondern ein „Protektorat“. Das wird im Großen und Ganzen die Rechte einer Mitgliedschaft für die Ukraine bedeuten – aber keine rechtliche Vollmitgliedschaft. Damit würde die EU die Ukraine für ihre Verluste im Krieg mit Russland kompensieren. Das Interesse der EU an der Ukraine ist rein geopolitischer Natur. Die Ukraine soll, der Vorstellung Brüssels nach, als wichtiger Brückenkopf gegen Russland fungieren. Kiew versucht natürlich, diese Position für eigene Zwecke auszunutzen, aber wie sich diese neue Kooperations- bzw. Integrationsform in der rauen Realität bewähren wird, steht in den Sternen.

Und was ist mit der Nato? Der verbleibende Teil der Ukraine wird vermutlich durch eine spezielle institutionelle Form Mitglied der Nato. Ebenfalls als eine Art Entschädigung für den Krieg. Und man wird eine friedliche Koexistenz mit der Atommacht Russland unbedingt hinbekommen müssen.

Letzte These: Russland muss sich vor allem entscheiden, ob es ein europäisches oder ein asiatisches Land sein will. Wenn es sich für Ersteres entscheidet, muss es einen Weg zur Aussöhnung mit Europa finden. Wenn Russland sich für Asien entscheidet, was in der Geschichte noch nie vorgekommen ist, könnte es Europa ganz verlieren. Und Europa würde Sibirien – die „Rohstoffkammer“ Europas seit 600 Jahren – verlustig werden, eine Gefahr, die den heutigen bellizistischen West-Eliten gar nicht bewusst ist. Sollen die Europäer Sibirien mit seinen Bodenschätzen China überlassen? Wir würden dann auch in Europa in einer permanenten Kriegsgefahr leben. Ja, dies sind wahrhaftig historische Zeiten.

COMMENTS

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    Horst Beger 3 Monaten

    Die klaren und unabhängigen Thesen Alexander Rahrs zur „Welt von Morgen“ vom Oktober 2023 bestätigen sich mehr und mehr. Dies zeigt insbesondere der pathologische Militarismus der deutschen Politik und Medien, der „die niedrigste Kulturform ist, der je dagewesen ist“, wie Theodor Fontane das bereits aus dem Berlin von 1897 geschrieben hat. Dieser hat bekanntlich zu zwei verlorenen Weltkriegen Deutschlands gegen Russland geführt, und der neu entstehende „Eiserne (und kulturelle) Vorhang“ gegenüber Russland ist für beide Seiten nicht ohne eine gewisse Tragik.

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    Steffen Hebenstreit 6 Monaten

    Hier wird viel Richtiges mit bisschen Falschem vermischt. Z.B. war der Grund für den Ukraine-Krieg nicht die drohende NATO-Mitgliedschaft der Ukraine. Russland müsste der Ukraine nur anbieten, ihr für dauernde Neutralität den Donbass und die Krim (außer Oblast Sewastopol mit Stadt+Stützpunkt, 15% der Krim) wieder zurückzugeben und den Krieg zu beenden, die Ukraine würde sofort mit Freude unterzeichnen. Kriegsgrund war nackte Länder- und Beutegier und imperialer Wahn, alles andere nur Vorwand. Ich empfehle, die Rede Putins vom 24.02.2022 zu lesen, als er endgültig die Maske fallen ließ und der Ukraine und ihren Menschen die Existenz und das Recht auf Existenz abgesprochen hat, als er die demokratisch gewählte Regierung der Ukraine mit ihrem jüdischstämmigen Präsidenten als drogenabhängige Nazis beschimpft hat. Und ich bezweifle, dass Xi und Putin wirklich eine multipolare Welt wollen. In Wahrheit wollen sie doch eine unipolare welt, wo sie selbst die Macht haben, der „Westen“ und alle anderen weitgehend machtlos sind und machen müssen, was sie wollen. Eine multipolare Welt ist übrigens eine gefährliche und instabile Welt, wo sich die Pole ständig gegenseitig bekriegen, mit wirtschaftlichen und militärischen Mitteln, wechselnde Bündnisse schließen und wieder brechen. Das sollten wir nicht schönreden und herbeisehnen. Zudem ist eine multipolare Welt immer nur eine kurze Übergangsphase zu einer neuen unipolaren Welt, die wieder für längere Zeit stabil ist. Der Hegemon in einer unipolaren Welt muss keine finstere egoistische Supermacht sein, sondern kann ein großer Block wohlmeinender Staaten sein, die sich in guter Absicht die Macht teilen und solche Regeln durchsetzen, welche nicht bestimmte Staaten bevorzugen, sondern für alle Staaten die einzige Möglichkeit darstellen, friedlich und gerecht auf dieser Welt zusammenzuleben. Völlig korrekt ist, das der heutige „Westen“ bedeutende Staaten des „globalen Südens“ an der Macht ernsthaft und wohlmeinend beteiligen muss, wenn er sie nicht gänzlich verlieren will. Das heißt auch nicht, dass das Völkerrecht damit grundlegend geändert werden muss. Die Aufnahme weiterer Mitglieder wie Indien und Brasilien in den UN-Sicherheitsrat kann dabei ein richtiger und wichtiger Baustein sein. Aber erstens muss eine klare Regel definiert werden, ab welcher Einwohnerzahl und welchem BIP ein Staat Mitglied des UN-Sicherheitsrates werden kann bzw. muss, es sei denn, dass dem Aspekte entgegenstehen, die ebenfalls genau zu definieren sind, wenn alles Sinn machen soll. Und zweitens muss das Vetorecht der Mitglieder des UN-Sicherheitsrates nicht abgeschafft, aber stark beschnitten werden, sonst wird die UN komplett handlungsunfähig und kann abgeschafft werden. Z.B. wenn der UN-Sicherheitsrat nur noch dann ein Veto einlegen könnte, wenn mindestens ein Drittel seiner Mitglieder ein Veto einlegen will. Wenn Russland den Krieg gewinnen sollte, wird es sich nicht nur die Ukraine, sondern auch Moldawien und Belarus für immer einverlaiben, egal wie lange ein Wiederaufbau und eine russische Besiedlung der zestörten und durch Tötung, Flucht und Vertreibung entvölkerte Gebiete auch immer dauern mag. Eine solche geostrategische Machtverschiebung zugunsten dieses heutigen aggressiven und imperialen Russlands können weder China noch die Türkei wirklich wollen, mögen sie sich auch momentan darüber freuen, dass sich Russland und der Westen gegenseitig schwächen. Wenn die Ukraine dagegen der EU angehört, sogar wenn sie zusätzlich der NATO angehören sollte, dann ist das weder für China noch für die Türkei eine Bedrohung. Für China ist der Nachbar Russland ein unberechenbarer geostrategischer Rivale, Europa mit oder ohne Ukraine dagegen weit weg hinter Russland und auch deshalb nicht bedrohlich, weil es ein Konglomerat aus vielen Staaten ist, die sich selten alle einig sind. Übrigens möchte ich noch bemerken, dass die Eurasische Union niemals weit über eine Zollunion hinausgehen wird und keine Rolle bei der Neuordnung der Welt spielen wird. Ursache ist einzig und allein das zu extreme Größenverhältnis von Russland und dem Rest. Wenn sich die Eurasische Union ein Parlament wie die EU in Straßburg zulegen würde, dann hätten die Abgeordneten Russlands mehr als 75% der Sitze, und die anderen Mitglieder würden ihre staatliche Selbständigkeit komplett aufgeben und sich Russland komplett ausliefern und unterwerfen. Eine Währungsunon würde bedeuten, dass alle anderen den russischen Rubel einführen müssten, ohne wirklich Einfluss auf die Zentralbank in Moskau nehmen zu können. Dass der US-Dollar seine dominante Rolle verlieren wird und verlieren muss, dem stimme ich zu. Es ist fraglich, ob es überhaupt wieder einer Macht möglich sein wird, seine Währung zur Welt-Leitwährung zu machen. Für notwendig und sinnvoll halte ich das jedenfalls nicht. Wenn Staaten des „globalen Südens“ wirtschaftlich aufholen, dann wird das relative Gewicht Europas und Nordamerikas natürlich abnehmen. Das muss keine Katastrophe sein. Es ist aber keinesfalls notwendig oder zwingend, dass wir auch absolut ärmer werden. Das wäre unsere eigene Schuld, durch Fehlentscheidungen selbst verursacht. Aber Europa muss seine Verteidigungsfähigkeit soweit stärken, dass es sich notfalls auch ohne den Partner USA gegen Staaten wie Russland und China verteidigen könnte. Und es muss seine Politik gegenüber den Staaten des „globalen Südens“ überdenken und deutlich ändern, wenn es nicht unter die Räder kommen will. Eine langfristige Blockkonfrontation von Europa und Nordamerika mit Russland und China (ein neuer Kalter Krieg) ist leider bereits Realität und auf lange Sicht nicht auflösbar, da mindestens Russland, aber auch China keine friedliche Koexistenz und echten Interessensausgleich auf Augenhöhe wollen, sondern eine Revision der globalen Ordnung mit einseitigem Macht- und Gebietszuwachs anstreben. Das ist der Unterschied zu den Zeiten von Willy Brandt: Breschnew wollte damals seine überdehnte und kriselnde Machtsphäre stabilisieren und war deshalb am Erhalt des Status Quo durch Verträge interessiert und wollte diese auch einhalten. Das macht auch einen Friedensvertrag der Ukraine mit Putin fast unmöglich: Wie kann man einen Vertrag mit jemandem verhandeln, der ständig lügt und Tatsachen verdreht sowie mehrmals gesagt und bewiesen hat, dass er es nicht für notwendig hält, sich mit seinem großen und starken Land an paraphierte Verträge zu halten, wenn ihm ein Vertragsbruch vorteilhafter erscheint. Auch mit einem Nachfolger kann es kaum einfacher werden, da hat Putin vorgesorgt. Erinnern wir uns noch, welche Verwüstung 12 Jahre Göbbels-Propaganda in den Köpfen der Deutschen damals angerichtet haben? Die Bürger Russlands sind jetzt schon 24 Jahren Kreml-Propaganda ausgesetzt, wo bewusst falsch und einseitig informiert wird sowie Hass auf den Westen, die liberalen Demokratien und die Ukraine geschürt wird. Es wird ein extremer Nationalismus geschürt und die gesamte Gesellschaft militarisiert. Russland ist heute prinzipiell nicht mehr kompromissfähig, jeder Kompromiss würde heute einen Gesichtsverlust des Staatschefs bedeuten, den der sich eigentlich nicht mehr leisten kann. Die Ukraine kann auch nicht eben mal so ganz einfach auf Gebiete verzichten. Erstens würde sie einen gefährlichen Präzedenzfall schaffen und der Welt ein Beispiel geben, dass sich Kriege lohnen. Das kann eigentlich niemand wollen. Außerdem würde sie ihre strategische Lage extrem verschlechtern. Im Donbass liegen zudem 90% der mineralischen Ressourcen der Ukraine, und eine russische Krim riegelt nicht nur einen Großteil der Ukraine vom Schwarzen Meer ab, sondern wäre eine ständige strategische Bedrohung und Einkreisung, wie dieser Krieg bewiesen hat. Einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine will Russland nicht zustimmen, aber wie kann die Ukraine ohne NATO-Mitgliedschaft jemals glaubhaft Sicherheit bekommen, dass Russland wirklich niemals wieder angreifen wird? Vage Sicherheitsgarantien weit entfernter Staaten des „globalen Südens“ werden sie jedenfalls nicht beruhigen können. Es ist eine extrem schwierige Situation. Wir haben im Augenblick keine andere Wahl, als der Ukraine maximal mit Waffen und Munition zu helfen und auch unsere eigene Verteidigung zu stärken, um notfalls auch ohne USA jeden potenziellen Angreifer abschrecken zu können. Ich fürchte, der Krieg wird noch lange dauern. Am Ende könnten der Ukraine die Soldaten langsam ausgehen, dann werden wir bereit sein müssen, mit Soldaten („Freiwilligen“) auszuhelfen, und ich fürchte, erst diese Bereitschaft und Druck aus China könnten den Krieg beenden und Putin oder seinen Nachfolger zu Verhandlungen und etwas Kompromissbereitschaft bewegen. Aber auch bei echten Verhandlungen wird es fast unmöglich sein, ein für alle Seiten akzeptables und vor allem langfristig tragbares Ergebnis auszuhandeln. Die Welt wird auf jeden Fall nicht besser durch diesen Krieg, sondern schlechter. Eine „Neue Weltordnung“ ist für alle Staaten nur dann wünschenswert und unterstützenswert, wenn sie es schafft, künftig solche Kriege zu vermeiden!

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      Horst Beger 6 Monaten

      Mit Tatsachenverdrehungen bezüglich der Osterweiterung der NATO als Auslösegrund für den Ukrainekonflikt und Phantastereien über zusätzliche deutsche Waffenhilfen und militärisches Eingreifen in der Ukraine versucht der Kommentar von Steffen Hebenstreit vergeblich, seine pathologischen Vernichtungs-Wahnvorstellungen gegen Russland zu begründen.

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    Horst Beger 6 Monaten

    Die von Alexander Rahr aufgestellten „Thesen zur Welt von morgen“ sind in ihrer Reihenfolge und Gewichtung ja interessant, wenn auch nicht unbedingt neu. Und ob sie wissenschaftlichen Ansprüchen genügen, wie er das selbst fordert, wird die Zukunft zeigen. Ich will daher nur auf seine „Dritte These“ eingehen, in der er erklärt, eine wirkliche Suche nach einer gemeinsamen europäischen Identität hätte vielleicht den Konflikt mit Russland verhindert. Diese Hoffnung auf „ein Europa von Lissabon bis Wladiwostok“, die Russland (Michail Gorbatschow) nach dem Zerfall der Sowjetunion hatte, war aber, von Ausnahmen abgesehen, von Deutschland und der NATO nicht gewollt, und die NATO wurde immer weiter nach Osten ausgedehnt. Von daher ist die Forderung seiner „Letzte These“, Russland müsse sich entscheiden, ob es ein europäisches oder ein asiatisches Land sein wolle, nicht ganz redlich. Denn mit der Ausdehnung der NATO bis an die Grenzen Russlands und dem daraus folgenden Ukraine-Konflikt wurde Russland geradezu in Richtung Asien getrieben.

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    Franz Stangl 6 Monaten

    Hier wird ein selten klares, obektives Weltbild gezeichnet. In einer Zeit in der man seitens des Staatsfunks oder generell aller gleichgeschalteten Medien des Landes mit Propaganda überschüttet wird, wo Informationen nur selektiv und zum Schaden der jeweils anderen Seite verbreitet werden ist es eine Wohltat, unabhängig informiert zu werden.

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