Ein Weg zum Frieden – vielleicht

Ein Weg zum Frieden – vielleicht

[Kommentar von Gunnar Jütte] Der militärische Konflikt zwischen Russland und der Ukraine dauert seit über einem Jahr an und hat viele Menschenleben gefordert. Welche Wege zum Frieden gibt es? Ich möchte einen aufzeigen, der vielleicht eine Möglichkeit sein könnte. Wichtig bei allen Überlegungen ist immer, was möglich sein könnte. Es gibt viele phantasievolle Vorschläge, die aber völlig unrealistisch sind.

Mit oder ohne Putin

Die Dialogbereitschaft der westlichen Staaten und auch der Ukraine mit dem russischen Präsidenten Putin ist derzeit nicht gegeben. Erst recht nicht nach dem Haftbefehl des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag.

Wo soll da der Ausweg sein?

Im Jahr 2024 sollten eigentlich die turnusmäßigen Präsidentschaftswahlen in Russland stattfinden. Da bisher kein Nachfolger für Putin aufgebaut wurde, was angesichts der militärischen Auseinandersetzung zwischen Russland und der Ukraine auch unwahrscheinlich erscheint, könnte Putin 2024 noch einmal zur Wahl antreten. Damit wäre aber für den notwendigen Friedensprozess nichts gewonnen und auch Putins Ansehen in Russland könnte bei weiteren Rückzügen in der Ukraine bis zu den Wahlen 2024 weiter schmelzen.

Eine Alternative wäre, wenn Putin den Weg Jelzins einschlagen würde. Am 31. Dezember 1999, knapp vier Monate vor Ende seiner Amtszeit, erklärte Jelzin seinen Rücktritt und übergab um 12 Uhr Moskauer Zeit die Regierungsgeschäfte an Ministerpräsident Wladimir Putin. Als eine seiner ersten Amtshandlungen sicherte Putin Jelzin Straffreiheit zu.

Sollte Putin am 31. Dezember 2023 zurücktreten, würde nach derzeitigem Stand der amtierende Ministerpräsident Michail Wladimirowitsch Mischustin das Präsidentenamt übernehmen. Mischustin gilt nicht als Ideologe, sondern als Pragmatiker und Bürokrat.

Mischustin war Chef der russischen Steuerbehörde. Er hat seine Behörde tiefgreifenden Reformen unterzogen. Die Zahl der Steuerprüfungen bei Unternehmen und Geschäftsleuten ging deutlich zurück, parallel wurden vor allem die Digitalisierung und die Vereinfachung von Prozessen vorangetrieben. Mischustin gilt als der Mann, der die russische Steueridentifikationsnummer – die sogenannte INN – flächendeckend eingeführt hat. Durch die umgesetzten Maßnahmen konnten die Steuereinnahmen deutlich gesteigert und die Schattenwirtschaft zurückgedrängt werden. Die auch im internationalen Vergleich beachtlichen Erfolge und technischen Innovationen fanden in der westlichen Wirtschaftspresse Beachtung.

In der militärischen Auseinandersetzung mit der Ukraine hat sich Mischustin bisher den Möglichkeiten entsprechend sehr zurückgehalten.

Mishustin würde, wie es Putin bereits bei Jelzin praktiziert hat, dem scheidenden Präsidenten eine weitgehende Amnestie gewähren und Putin könnte sich auf einen seiner Landsitze zurückziehen.

Damit wäre der Weg frei für Friedensverhandlungen mit Mischustin als relativ unbelastetem Partner. Zudem hätte Mischustin einige Monate Zeit, sich auf seine Präsidentschaftswahl vorzubereiten.

Da Mischustin seit vielen Jahren Premierminister ist, dürfte er bereits über Netzwerke in den Geheimdiensten und im Militär verfügen. Die Übergabe des Präsidentenamtes von Putin an Mischustin könnte auch ein Signal an die Geheimdienste und das Militär sein, die Füße still zu halten.

Ein Bürokrat und Organisator wie Mischustin könnte sich auch der Unterstützung der kremltreuen Oligarchen sicher sein.

Wie sagte doch der eigentlich kremltreue Oligarch Deripaska auf dem Wirtschaftsforum im sibirischen Krasnojarsk Anfang März: “Schon im nächsten Jahr wird es kein Geld mehr geben. Wir brauchen ausländische Investoren. Das Geld wird knapp, und das macht uns schon jetzt zu schaffen. Wir können nicht jedes Quartal die Spielregeln ändern. Die steinzeitliche Praxis, Geschäftsleute zu verhaften, muss endlich aufhören“, sagte Deripaska, Gründer von Rusal, dem größten Aluminiumproduzenten außerhalb Chinas.

Um Korruption zu bekämpfen und Rechtsstaatlichkeit zu organisieren, braucht man keine Ideologie, sondern Bürokraten.

Frieden mit der Ukraine

In den letzten fast 10 Jahren haben sich die Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine aufgrund historischer Vorwürfe immer weiter verschlechtert, bis hin zu der jetzigen katastrophalen militärischen Auseinandersetzung.
Hier muss man wirklich einen Blick in die Geschichte werfen. Nicht in die ukrainische oder russische, sondern in die französische und algerische.

Von 1954 bis 1962 führte Frankreich einen blutigen Krieg in Algerien, vor allem gegen die algerische Befreiungsfront FLN. Die Niederlage Frankreichs im Algerienkrieg gilt als Schlüsselmoment der Dekolonisierungsprozesse im 20. Jahrhundert.

Als Algerien in den 1830er Jahren französisch wurde, war der Gedanke des Kolonialismus durch die Unabhängigkeitsbewegungen lateinamerikanischer Staaten im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts in Vergessenheit geraten, so dass Algerien nicht als Kolonie, sondern als Teil Frankreichs betrachtet und die Algerier zu französischen Staatsbürgern erklärt wurden. Ein Teil der algerischen Bevölkerung besaß die aktive französische Staatsbürgerschaft. Die Stimmen der Algerier zählten, es gab algerische Künstler und algerische Politiker, die in Frankreich eine wichtige Rolle spielten.

Algerien wurde zu einem paradigmatischen Fall von Dekolonisierung, obwohl es bis dahin als absolute Ausnahme unter den französischen imperialen Besitzungen gegolten hatte. Die französische Regierung beschloss schlicht und einfach, dass das Empire zu Ende war, dass es nicht mehr existierte.

Indem man den Verlust Algeriens als Teil einer unvermeidlichen historischen Entwicklung darstellte, konnte man es vermeiden, sich mit diesem Verlust auseinanderzusetzen. So konnte man sich der Vorstellung entledigen, Frankreich sei besiegt worden, obwohl dies eindeutig der Fall war. Von dem Moment an, als Algerien nicht mehr Teil des Imperiums war, wurde die koloniale Vergangenheit Frankreichs totgeschwiegen. Die Tatsache, dass Frankreich nicht mehr über Algerien herrschte, erlaubte es ihm wiederum, sich als weiße europäische Nation zu präsentieren. Und das viel deutlicher als zuvor!

Was die Situation in Algerien damals in Frankreich zu einem ernsthaften politischen Thema machte, waren weniger die toten Soldaten als vielmehr die Einberufung französischer Bürger aus den Großstädten zum Militärdienst in Algerien. Fast alle männlichen Franzosen einer Generation waren Ende der 1950er Jahre in Algerien. Jede französische Familie hatte plötzlich eine tiefe Verbindung zu diesem Teil der Welt. Die Regierung musste ihren Bürgern erklären, was ihre Söhne oder Ehemänner dort taten, und dem Ganzen einen Sinn geben.

Angesichts des Verlustes Algeriens begannen die französischen Eliten ab 1960, die imperiale Vergangenheit als Teil der französischen Geschichte zu verdrängen, obwohl Algerien über 130 Jahre lang zu Frankreich gehört hatte.

Wie funktioniert dieses „produktive Vergessen“?

Der Begriff des „produktiven Vergessens“ entstand als Reaktion auf die Behauptung einiger Wissenschaftler, die Franzosen seien durch die Gewalt des Krieges und insbesondere durch die von den Franzosen begangenen Gräueltaten so traumatisiert, dass sie nicht mehr über Algerien sprechen könnten.

Die französische Regierung führte sehr bewusst die „Dekolonisation“ als neues Paradigma ein. Damit ermöglichte sie es den Menschen, nicht mehr über Algerien sprechen zu müssen und die Verbindungen zu Algerien zu vergessen. Ein Teil der Anziehungskraft des Begriffs „Dekolonisation“ bestand darin, dass er es den Franzosen erlaubte, die Idee der Niederlage zu vergessen. Produktives Vergessen ist aktives Auslöschen. Es ermöglicht ein Weiterleben, hinterlässt aber auch viele Leerstellen.

Die Betonung von Wahrheit und Versöhnung, die sich nach 1989 vor allem als Lehre aus dem Beispiel Südafrikas herausgebildet hat, ist nicht unbedingt hilfreich. Algerier und Franzosen haben sich nie auf einen solchen Prozess eingelassen. Frankreich hat die Debatte über die Kriegsgräuel einfach abgebrochen. Auch in Algerien ist es bis heute verboten, öffentlich über die Gewalttaten während des Bürgerkriegs in den 1990er Jahren zu sprechen.

Generell gilt, dass Wahrheit und Versöhnung nicht automatisch zu Gerechtigkeit und besseren Gesellschaften führen. Es gibt durchaus die historische Möglichkeit, weiterzuleben, indem man dafür sorgt, dass die Menschen nicht mehr über die schrecklichen Dinge sprechen, die geschehen sind.

Die Entkolonialisierung Frankreichs ist sicherlich ein Modell für den Ausstieg aus dem Imperium. Sie basierte vor allem auf Lügen und der Bereitschaft der übrigen Welt, diesen Prozess zu akzeptieren. Sie ist auch ein fruchtbares Beispiel für den Umgang mit einer Niederlage: Die Algerier bekamen, was sie wollten, und die Franzosen konnten weiterziehen.
Tatsächlich nutzte de Gaulle die Entkolonialisierung Frankreichs, um den Staat umzugestalten: Große Teile der Institutionen der heutigen Französischen Republik entstanden parallel zur Unabhängigkeit Algeriens und wurden durch den juristischen Prozess der Sezession Algeriens von Frankreich beeinflusst.

Was Frankreich schließlich half, seine imperiale Nostalgie zu überwinden, waren die dreißig „glorreichen“ Jahre des wirtschaftlichen Aufschwungs, die Ende der 1950er Jahre begannen. Dieser löste viele Probleme. Die Probleme zwischen Frankreich und Algerien blieben, aber die Beziehungen zwischen den beiden Ländern sind nach wie vor eng. Die algerische Bevölkerung ist auch heute noch an Frankreich interessiert und eng mit dem Land verbunden.

Alles in allem vielleicht ein Format, das man sich als Grundlage für eine zukünftige Friedensorganisation zwischen Russland und der Ukraine vorstellen könnte.

Das alttestamentarische Auge um Auge, Zahn um Zahn muss ein Ende haben, sonst wird der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine noch Jahrzehnte andauern. Zu viele Konflikte sind immer wieder mit dem Argument vermeintlicher historischer Gegebenheiten oder aus Rache für vermeintliche Gräueltaten ausgebrochen. Dieser Teufelskreis muss durchbrochen werden.

COMMENTS