[von Alexander Rahr] Im Ukraine-Krieg zeichnet sich möglicherweise eine Lösung zur Beendigung der Kampfhandlungen ab. Vladimir Putin gab auf der letzten Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates eine weitreichende Erklärung ab, die im Westen kaum zur Kenntnis genommen wurde. Sie wurde im russischen TV übertragen, was von einer bedeutenden Dringlichkeit zeugte. Der russische Präsident sprach von einer möglichen Teilung der Ukraine.
Sollte Kiew die Westukraine unter ein polnisch-litauisches Protektorat stellen, würde Russland, so Putin, „nicht eingreifen“. Dies könnte bedeuten, dass Moskau die Westukraine abgeschrieben hat, sich sogar mit einer dortigen NATO quasi Präsenz abfinden könnte – wenn der andere Teil der Ukraine – der Osten – an Russland fallen würde.
Putin untermauerte seinen Fernsehauftritt mit heftigsten Vorwürfen an die Adresse Polens. Polen habe sich nach dem Ersten Weltkrieg zunächst Galizien von Österreich-Ungarn „geschnappt“, dann, während des russischen Bürgerkrieges (1918-20), die dem Zarenreich gehörenden ukrainischen Gebiete gewaltsam angeeignet, und schliesslich, nach Scheitern des Münchner Abkommens (1938), Teile der Tschechoslowakei okkupiert. Stalin, so Putin weiter, habe 1945 Polen die deutschen Ostgebiete „geschenkt“. Und jetzt strebe, Putins Aussage zufolge, Polen nach der Wiedereroberung der westukrainischen und belorussischen Gebiete, die es gemäss dem Hitler-Stalin Pakt 1939 gewaltsam an die Sowjetunion verloren hatte. Man kann den Auftritt Putins unterschiedlich bewerten. Nur eine Schimpftirade gegen Polen war sie nicht. Die Rede könnte eine Vorlage für die Beendigung des Krieges gewesen sein.
Einen Angriff Polen und Litauens gegen Belarus, vor dem Putin in seiner Ansprache warnte, wird es nicht geben. Ebenso wenig steht ein Angriff der Wagner-Söldnertruppe auf Litauen bevor, wie es ukrainische Politiker behaupten. Das wäre nämlich der Beginn des Dritten Weltkrieges mit Atomwaffen. Die eigentliche Kernaussage Putins betraf die russische Nichteinmischung, sollten die Westukraine von polnisch-litauischen Truppen okkupiert werden. Weissrussland, dessen Westgebiete vor 1939 zu Polen gehörten, würde Putin aber niemals abgeben.
An anderer Stelle zeigte sich Putin einverstanden mit dem westlichen Ruf nach etwaigen Sicherheitsgarantien für die Ukraine – vorausgesetzt, dies würde keine NATO Mitgliedschaft für die Ukraine bedeuten. Dass man in Moskau und Kiew durch den andauernden Stellung- und Abnutzungskrieg erschöpft ist, ist nicht von der Hand zu weisen. Auch den USA und ihren Verbündeten kann nicht entgangen sein, dass die Ukraine, nach ihren heutigen Möglichkeiten, nicht in der Lage ist, eine Rückeroberung der östlichen Gebiete, geschweige denn der Krim, vorzunehmen. Auch nicht mit amerikanischen Streubomben, die den Kriegsverlauf nicht verändern, sondern nur verschärfen. Aber auch Russland kann ausser massiven Luftangriffen auf die ukrainische Infrastruktur, dem Kriegsverlauf keine entscheidende Wende geben. Es bleibt beim Patt.
Endet der Krieg durch eine Teilung der Ukraine in einen russisch-besetzten und einen polnisch-besetzten Teil nach dem alten deutschen Modell oder nach dem Beispiel Koreas? Überlegungen in diese Richtung sind in amerikanischen Think Tanks nicht zu überhören.
COMMENTS
Die Jahrhunderte alte kulturelle Teilung der Ukraine hat der amerikanische Politologe Samuel Huntington schon in seinem Buch „Kampf der Kulturen“ von 1996 (1993) aufgezeigt und auf einer Europa-Karte dargestellt. Darin bezeichnet er diese „Religionsgrenze von 1500“ zwischen Westlichem(römischem) Christentum und Östlichem(russischem) Christentum als Kriterium für die Zugehörigkeit zur EU und zur NATO. Die grob gezeichnete „Religionsgrenze“ schlägt die gesamte Ost-und Mittel-Ukraine einschließlich Odessa dem Östlichen Christentum zu. Und er stellte die Frage, „ist dies Europas Front von morgen?“ Heute, fast 30 Jahre später ist diese Frage durch den Ukraine-Krieg konkreter geworden und Alexander Rahr zeigt ein ein mögliches Szenario auf.
Die Teilung der Tschechoslowakei folgte nicht auf ein Scheitern des Münchner Abkommens, sondern war die Umsetzung des Münchner Abkommens.