Erinnerungen an die Zukunft

Erinnerungen an die Zukunft

[von Michael Schütz] Es war das Jahr 1997, als der Großmeister der US-amerikanischen Geopolitik Zbigniew Brzezinski sein Großes Schachbrett auspackte, die Figuren aufstellte und dann die Nichtwestliche-Welt einlud auf eine Partie Weltherrschaft. Zbigniew machte den Eröffnungszug, lehnte sich in seinem Ohrensessel zurück, zog entspannt an seiner Marlboro und wartete im Gefühl der sicheren Überlegenheit auf den Zug des Gegners. Zbigniew murmelte dann noch so ein Zeugs wie, dass es das erste Ziel seiner Spielzüge sei, Russland auszuhebeln, aber das haben die Zuschauer, die wie üblich um ein solches Schachspiel herumgestanden sind, gar nicht so richtig mitbekommen.

Damals hatten die Kontrahenten am Spieltisch noch einige Monate oder gar Jahre Zeit, sich den nächsten Spielzug zu überlegen.

Aber das ist vorbei.

Jetzt wird Blitzschach gespielt und der Zuseher der Partie hat den Eindruck, dass bei den Nachfolgern von Brzezinski, die inzwischen am Spieltisch Platz genommen haben

– Zbigniew wurde 2017 vom Lieben Gott seines Postens enthoben –

der Kopf rotiert und ihnen bereits ganz schwindlig wird, weil sie gar nicht mehr so richtig verstehen, was eigentlich am Schachbrett vor sich geht.

Der globale Süden und Osten wartet jetzt mit zugekniffenen Augen auf den nächsten Spielzug des Westens. Er weiß, dass der Westen keinen Plan hat, keine Strategie und mit seinen wenigen übriggebliebenen Figuren irgendwie noch auf Eskalation setzt. Das ist jetzt dieser angespannte Moment im Spiel, in dem die Luft angehalten wird, weil jeder weiß, dass das magische Wort Schachmatt im Raum steht.

Der Autor hat an dieser Stelle früher einmal geschrieben, dass der Westen der Ära der Zeitenwende, die 1987 in Moskau mit Gorbatschows Perestroika begonnen hat, nicht entgehen wird.

Die Pax Americana, die Brzezinski auf seinem Großen Schachbrett verwirklichen wollte, ist vor aller Augen gescheitert und das haben auch in den USA bereits einige Leute mitbekommen und so artikuliert. Der damit einhergehende Autoritätsverlust des Westens wird das Gefüge der Welt neu ordnen, der globale Süden und Osten ist dabei, sich vom Westen abzukoppeln und die politischen Gebilde des Westens können schauen, wo sie bleiben. Die Wahrscheinlichkeit ist daher hoch, dass wir unsere Welt in einigen Jahren nicht mehr wiedererkennen werden.

Der Artikel verspricht, sich an die Zukunft zu erinnern.

Die Zukunft ist das, was wir jetzt daraus machen und daher haben sich einige Leute in den zurückliegenden Jahren Gedanken darüber gemacht, wie denn eine solche Zukunft aussehen sollte.

Inmitten dieser Zeiten der Wirren erscheint es daher angebracht, sich wieder an diese grundlegenden Aussagen zu erinnern, damit wir ein Verständnis dafür entwickeln, welche Wege in die Zukunft die Staatengemeinschaft einschlagen könnte bzw. sogar tatsächlich wird.

Wir werden hier drei Konzepte in umgekehrter zeitlicher Reihenfolge präsentieren, also das jüngste und aktuell gerade erschienene zuerst und das älteste aus dem Jahr 2019 zuletzt.

Zwei dieser Überlegungen stammen aus der Nicht-westlichen Welt, das dritte hat aber ein Guter formuliert, obwohl der deutschsprachige Mainstream bereits ernsthaft Zweifel daran angemeldet hat, ob er tatsächlich zu den wirklich Gutengehört.

Der Autor geht nicht von einer multipolaren, sondern von einer Vernetzten Weltordnung aus.

Eine solche Vernetzte Weltordnung steht für ein Ordnungsprinzip, in dem es darüber hinaus kein gut oder böse gibt, sondern es geht um die Frage, welchen Beitrag man zu einer kreativen, schöpferischen Weiterentwicklung des Netzwerkes geleistet hat.

Bezüglich des dritten Konzepts, um das es hier gehen wird, sei auch noch einmal daran erinnert dass Europa ein Kind der Polarität zwischen West- und Osteuropa (= Russland) ist. Polarität erzeugt (eine dynamische) Stabilität und deshalb erscheint eine solche europäische Polarität für die globale Staatengemeinschaft als wichtig.

Das erste Konzept, an das wir hier erinnern, haben Leserinnen und Leser von russland.NEWS wahrscheinlich noch in Erinnerung, das Medium hat nämlich ausführlich darüber berichtet.

Es geht um die Rede des Präsidenten Russlands Wladimir Putin auf dem diesjährigen Valdai-Forum in Sotschi. Vielen internationalen Beobachtern ist diese Rede im besonderem Maße aufgefallen und als wichtiger Beitrag zur Etablierung einer neuen Weltordnung eingeordnet worden.

Putin hält dabei zwar seine Rede über die „multipolare Welt“, sagt aber dabei, dass wir in einer „vernetzten Welt“ leben und zählt dann einige Kriterien auf, nach denen sich diese vernetzte Welt organisieren sollte. Angesichts der realen Verfasstheit unserer Welt könnte man fast schon von einem scheinbar revolutionären Gedankengut sprechen, das Putin hier zum Besten gibt:

Wir leben „in einer offenen … Welt, in der niemand jemals versuchen wird, künstliche Barrieren für die Kommunikation, die kreative Verwirklichung und den Wohlstand der Menschen zu errichten. Es muss ein barrierefreies Umfeld geben…“

„Die Vielfalt der Welt (muss) nicht nur bewahrt werden, sondern ist die Grundlage für eine universelle Entwicklung…“

„Wir sind für eine maximale Repräsentativität. Die Welt der Zukunft ist eine Welt der kollektiven Entscheidungen, die auf den Ebenen getroffen werden, auf denen sie am effektivsten sind, und von den Teilnehmern, die wirklich in der Lage sind, einen wesentlichen Beitrag zur Lösung eines bestimmten Problems zu leisten.“

„Wir sind für universelle Sicherheit und dauerhaften Frieden, der auf der Achtung der Interessen aller beruht…“ „Wir (sprechen) von der Unteilbarkeit der Sicherheit, davon, dass es unmöglich ist, die Sicherheit der einen auf Kosten der Sicherheit der anderen zu gewährleisten.“

„Wir sind für Gerechtigkeit für alle. Die Ära der Ausbeutung von wem auch immer … ist vorbei. Die Länder und Völker sind sich ihrer Interessen und Fähigkeiten klar bewusst und bereit, auf sich selbst zu vertrauen – und das vervielfältigt ihre Kräfte.“

„Wir sind für Gleichheit, für die unterschiedlichen Potenziale der verschiedenen Länder. Niemand (ist) bereit, sich zu unterwerfen, seine Interessen und Bedürfnisse von wem auch immer abhängig zu machen, und vor allem von den reicheren und stärkeren.“

Diese Aussagen Putins sind eigentlich Resultat eines Entwicklungsprozess, den die Weltgemeinschaft insbesondere die Nicht-westliche Welt in den letzten Jahrzehnten, angesichts des real existierenden Westens durchlebt hat. In ihrem Geist sind sie aber so neu auch wieder nicht.

Es geht hier um Global Governance  und dazu hat die UNO schon 1995 ihre Vorstellungen davon entwickelt:

Eine wirksame globale Entscheidungsfindung müsse auf, auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene getroffenen Entscheidungen aufbauen und diese ihrerseits beeinflussen. Dazu sollte auf die Fähigkeiten und die Ressourcen unterschiedlichster Menschen und Institutionen auf vielen Ebenen zurückgegriffen werden. Weiters stellt das Papier der UNO fest, dass es weder ein einziges Modell oder eine einzige Form der Weltordnungspolitik gibt, noch eine einzige Ordnungsstruktur oder Gruppe solcher Globalstrukturen existiere. Es handele sich um einen breit angelegten, dynamischen und komplexen Prozess interaktiver Entscheidungsfindung, der sich ständig weiterentwickeln und sich den verändernden Bedingungen anpassen müsse.

Auch 28 Jahre später sind wir von solchen Vorstellungen weit entfernt und es hat den Anschein als müsse erst mit Waffengewalt darum gerungen werden, dass sich neue Wege im Miteinander der Staatengemeinschaft durchsetzen können.

Beim Begriff Global Governance geht es, vereinfacht ausgedrückt, um die Frage, wie sich die Völker und Staaten der Welt gemeinsam so organisieren können, dass sie eine kreative und schöpferische Staatengemeinschaft bilden. Global Governance meint keine Weltregierung, sondern einen demokratischen Prozess, in dem sich die Völker auf Augenhöhe begegnen.

Der Autor beschreibt einen solchen Zustand eben als Netzwerk.

Im Grunde genommen hat Präsident Putin in seiner Rede am Valdai-Forum bereits Aspekte eines solchen Netzwerkprinzips beschrieben. Eine der dabei wichtigsten Aussagen war wohl neben der  hier als ersten zitierten die, dass Entscheidungen von den Teilnehmern getroffen werden, die wirklich in der Lage sind, einen wesentlichen Beitrag zur Lösung eines bestimmten Problems zu leisten, wie es Putin formulierte.

Der gesellschaftlichen Basis kommt hier eine Bringschuld zu. Das heißt, sie muss dazu fähig sein, ihre Interessen zu formulieren und in den Diskussions- und Entscheidungsprozess einzubringen.

Sch(l)afdemokratie ade!

Das zweite Konzept, an das hier erinnert wird, ist den meisten wahrscheinlich gar nicht aufgefallen, oder wenn doch, dann schnell wieder vergessen worden. Mit dabei ist wieder ein gewisser Herr Putin, der zweite im Bunde ist sein chinesischer Kollege Präsident Xi.

Es ist Februar 2022 und anlässlich der bevorstehenden Eröffnung der Olympischen Winterspiele in Peking geben sich die beiden ein Stelldichein, bei dem sie eine gemeinsame Erklärung verabschieden. Auch diese Erklärung ist nicht vom Himmel gefallen, sondern Ausfluss eines mehrjährigen Entwicklungsprozesses.

Diese Winterspiele von Peking 2022 werden uns in Erinnerung bleiben, weil sie das darauffolgende Zerbrechen der Welt symbolisch bereits vorwegnehmen.

Die Wogen gehen hoch, weil bei einer russischen Eiskunstläuferin Spuren einer Substanz gefunden werden, die auf der internationalen Dopingliste steht. Ein weiterer Dopingfall, der zur gleichen Zeit am olympischen Eis passiert, interessiert dagegen niemanden in der (westlichen) Öffentlichkeit. Betroffen war eine Spanierin.

Das Besondere an diesem sog. Dopingfall der Russin ist, dass gar keine Klarheit darüber besteht, ob die gefundene Substanz tatsächlich leistungssteigernd wirkt und wenn doch, dann keinesfalls im Eislaufsport. Da darf sich jetzt jeder seinen Teil dazu denken. Im November wird übrigens der Fall vor dem Sportgericht weiterverhandelt, nachdem neue Unterlagen angefordert worden sind.

Während all das geschieht und sich die Welt noch über gedrehte oder auch nicht gedreht Pirouetten freut bzw. leidet, wird im Donbass bereits schwer geschossen, ohne dass die meisten von uns davon etwas mitbekommen. Mit ihrer darauf folgenden Reaktion wollte die russische Führung aber offenbar China seine Spiele nicht kaputt machen, hatte es anschließend aber auffällig eilig.

Etwa drei Wochen zuvor vermitteln China und Russland der Welt allerdings noch ein Konzept, das an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt. Unter den gegebenen Umständen steht es für die Abkoppelung des globalen Süden und Ostensvom Westen und stellt eine Einladung dar, einer neuen Weltordnung zu folgen.

Diese Abkoppelung vom Westen lässt sich, so weit es an konkreten Handlungen sichtbar gemacht werden kann, in mehreren Schritten beschreiben:

– Die chinesisch-russische Erklärung;

– Der Einmarsch Russlands in der Ukraine und seine geopolitischen Folgen;

– Die BRICS-Erweiterung;

– Der aktuelle Palästina-Konflikt mit dem neuen Phänomen, dass er weltweit die Massen mobilisiert, also auch die Basis involviert ist. Das schafft neue Spielregeln.

Im außenpolitischen Kern der Erklärung weist das Papier den universalistischen Anspruch des transatlantischen Westens klar zurück und geht sogar deutlich auf Konfrontation:

„Russland und China lehnen die Handlungen externer Kräfte zur Untergrabung von Sicherheit und Stabilität in den gemeinsamen Nachbarregionen ab und beabsichtigen, sich der Einmischung externer Kräfte unter jedwedem Vorwand in die inneren Angelegenheiten souveräner Länder zu widersetzen. Sie lehnen „Farbrevolutionen“ ab und werden die Zusammenarbeit … verstärken.“

Trotzdem betont auch dieses sog. „High level-Dokument“ die Wichtigkeit einer Global Governance, insbesondere im Bereich der internationalen Sicherheit, aber auch auf anderen Gebieten wie etwa dem Naturschutz:

„Die Seiten (China und Russland; Anm.) sind zutiefst besorgt über die ernsten Herausforderungen auf dem Gebiet der internationalen Sicherheit und gehen von der Tatsache aus, dass die Schicksale der Völker aller Länder miteinander verbunden sind. Kein Staat kann und sollte seine Sicherheit isoliert von der Sicherheit der ganzen Welt und auf Kosten der Sicherheit anderer Staaten gewährleisten. Die internationale Gemeinschaft muss aktiv in die Global Governance eingebunden werden, um eine umfassende, unteilbare, nachhaltige Sicherheit für alle zu erreichen.“

Um dann gleich auszuholen:

„Die Seiten  bekräftigen ihre feste gegenseitige Unterstützung beim Schutz ihrer grundlegenden Interessen, ihrer staatlichen Souveränität und ihrer territorialen Unversehrtheit und wenden sich gegen Einmischung externer Kräfte in ihre inneren Angelegenheiten.“ 

Und weiter:

„Die Seiten sind der Auffassung, dass einzelne Staaten, militärpolitische Bündnisse oder Koalitionen das Ziel verfolgen, direkt oder indirekt einseitige militärische Vorteile zum Nachteil der Sicherheit anderer zu erlangen, unter anderem durch Methoden des unlauteren Wettbewerbs, der Verschärfung der geopolitischen Rivalität, des Antagonismus und der Konfrontation, die die Ordnung auf dem Gebiet der internationalen Sicherheit und der globalen strategischen Stabilität ernsthaft untergraben. Die Seiten lehnen eine weitere Erweiterung der NATO ab. Sie fordern das Nordatlantische Bündnis auf, ideologische Ansätze des „Kalten Krieges“ aufzugeben, die Souveränität, Sicherheit und Interessen anderer Länder, die Vielfalt ihrer zivilisatorischen und kulturhistorischen Wege zu respektieren und die friedliche Entwicklung anderer Staaten objektiv und fair zu behandeln.“

Darüber hinaus wird auch die Absicht betont, die Rolle der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) bei der Ausbildung einer polyzentrischen Weltordnung umfassend zu stärken.

Dieses lange und ausführliche Dokument spricht viele Themen bilateralen oder internationalen Interesses an, einen besonderen Schwerpunkt legt es jedoch auf die Interpretation des Begriffes  „Demokratie“.

Die Verfasser wenden sich dagegen, dass eine Gruppe von Staaten den Begriff „Demokratie“ exklusiv für sich reklamiere und ihn als Kampfinstrument einsetze:

„Die Seiten wenden sich gegen den Missbrauch demokratischer Werte, die Einmischung in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten unter dem Vorwand des Schutzes von Demokratie und Menschenrechten. Sie wenden sich gegen die Versuche, Spaltung und Konfrontation in der Welt zu provozieren. Die Seiten rufen die internationale Gemeinschaft auf, die Vielfalt der Kulturen und Zivilisationen sowie das Recht der Völker der verschiedenen Länder auf Selbstbestimmung zu achten.“

Die beiden Mächte betonen, jedes Volk habe selbst das Recht, solche Formen und Methoden der Umsetzung der Demokratie zu wählen, die den Besonderheiten ihres Staates entsprechen. Das Recht zu beurteilen, ob ein Staat demokratisch ist, habe nur sein eigenes Volk.

Sodann wird gesagt, „dass Russland und China Weltmächte mit reichem kulturellen und historischen Erbe sind, tiefe Traditionen der Demokratie haben, die auf Tausenden von Jahren Entwicklungserfahrung, breiter Unterstützung in der Bevölkerung und Berücksichtigung der Bedürfnisse und Interessen der Bürger basieren.“

Außerdem wird Demokratie auch in den internationalen Beziehungen zwischen den Völkern eingefordert und festgestellt, dass Hegemonialversuche eine ernsthafte Bedrohung für den globalen und regionalen Frieden und die Stabilität darstellen und die Standhaftigkeit der Weltordnung untergraben würden .

Wir verstehen: Dieses „High Level-Dokument“ ist mehr oder weniger eine einzige Abgrenzung zur Praxis des real existierenden Westens, verbunden mit der Ansage, sich diesen Praktiken aktiv zu widersetzen.

Damit rennt China und Russland in weiten Teilen der Welt offene Türen ein. Angesichts der wirtschaftlichen Kräfteverschiebung Richtung Osten, der demographischen Tatsachen und der neu entstandenen  militärischen Fähigkeiten – etwa die Achse Russland, Iran, China plus Nordkorea –, kann es sich für den Westen, insbesondere aber für die klugen Europäer, als nützlich erweisen, sich mit den im Papier formulierten Gedankenwelten ausführlich zu beschäftigen.

Mit dem dritten Konzept kommen wir zurück nach Europa und damit endlich zu den Guten.

Denkt man an die (West-)Europäer, könnte man diese schon fast als die Zinnsoldaten der Weltpolitik assoziieren. Stocksteif und ohne mit der Wimper zu zucken, ziehen sie auf Geheiß ihres Schöpfers in das Gefecht.

Die Schwäche der Europäische Union, die in der aktuellen Groß-Krise so grell aufleuchtet, wird es notwendig machen, sich neue Formen des europäischen Zusammenlebens zu überlegen, etwa eine kontinentale Governance, die den gesamten Kontinent und anschließende Räume mit einschließt.

Gewissermaßen Vorarbeiten zu einer solchen Governance, genauer gesagt, Vorgedanken dazu, hat sich ein nicht ganz unbekannter europäischer Politiker bereits im Sommer 2019 gemacht:

Immer gegen Ende August ruft der Élysée-Palast in Paris seine Diplomaten aus aller Welt zusammen und der französische Präsident hält vor der versammelten außenpolitischen Crème de la Crème seines Landes eine außenpolitische Grundsatzrede.

Im August 2019 bekam diese Rede einen besonderen Charakter, denn Präsident Macron agierte dabei doch tatsächlich als „Abweichler“, seine Ideen passten nämlich so gar nicht zu der den Kontinent desintegrierenden Politik der Europäischen Union.

Für kurze Zeit kam unter den Beobachtern die Erwartung auf, dass der von der EU beschrittene Weg doch noch aufgehalten werden kann und man sich einmal seiner eigenen Interessen und seiner angeblichen Werte besinnt.

Wie wir heute wissen, war die Rede aber nur ein kurzes Strohfeuer, bei dem allerdings auch nicht alles Stroh verbrannt ist. Es bleibt also noch ein Rest von Stroh für einen Funken Hoffnung…

In unserem deutschsprachigen Mainstream haben wir damals erwartungsgemäß praktisch nichts von dieser Rede gehört – unsere Journalisten dürften sich gerade alle auf Urlaub befunden haben – die weltpolitischen Beobachter haben allerdings ihre Ohren gespitzt und aufmerksam zugehört.

Diese Rede ist sehr lange gewesen, etwa eine Stunde und 45 Minuten, am starken Schlussapplaus konnte man jedoch ablesen, dass Macrons Zuhörer die Ausführungen aufmerksam verfolgt haben:

Es ist noch zu bemerken, dass bei dieser Rede das gesprochene Wort gilt. Da der Autor aber des Französischen nicht mächtig ist, greift er hier auf das von der französischen Botschaft übersetzte Redekonzept zurück. Wir schauen uns hier also an, was der französische Präsident ursprünglich tatsächlich sagen wollte.

Macron beginnt damit, dass er zunächst einmal allgemein den Zustand der Welt beschreibt. Es gäbe tiefgreifende Veränderungen in nahezu allen Bereichen, sagt er, vor allem aber sei es eine geopolitische und strategische Neuordnung. Die Dinge würden durch die von den westlichen Ländern begangenen Fehler in bestimmten Krisen ins Wanken geraten. Zu den Veränderungen hätten auch der Aufstieg neuer Mächte beigetragen, namentlich China, Russland und Indien, die heute stärker politisch geprägt seien und die die Welt wahrhaft logisch, philosophisch und visionär betrachten würden, wozu wir (der Westen, bzw. Europa; Anm.) nicht mehr imstande seien: „Und all das bringt uns ordentlich aus dem Konzept und veranlasst uns dazu, die Karten neu zu mischen“… … “unsere Gewohnheiten und die Gegebenheiten sind nicht mehr die gleichen.

Deshalb sollten wir unsere eigene Strategie überdenken, denn die einzigen beiden, die derzeit in dieser Sache das Sagen haben, das sind die Vereinigten Staaten von Amerika und die Chinesen. Zudem müssen wir uns in diesen Zeiten des Wandels, der großen Umwälzung positionieren: Wir können entweder unbedeutende Verbündete des Einen oder des Anderen sein oder ein bisschen vom dem Einen und ein bisschen von dem Anderen, oder wir entscheiden uns dafür, unseren Teil beizutragen und mitzugestalten.“

Macron geht dann in seiner Rede auf 18 verschiedene Themen ein, die von „Marktwirtschaft“ bis „Methoden erneuern“ reichen. Dazwischen kommt er u.a. auf die Rolle Frankreichs in der Welt zu sprechen und natürlich auf China sowie Russland. Letzteres Thema werden wir uns hier etwas genauer anschauen:

Zunächst betont Macron aber, dass es Frankreichs Rolle sei, die Weltordnung aktiv mitzugestalten und zwar auf Basis des Humanismus, eines französischen Humanismus. Frankreich müsse in diesem Durcheinander seiner Rolle als ausgleichende Macht gerecht werden.

Als ausgleichende Macht brauche Frankreich Spielräume und müsse mobil und flexibel bleiben. „Wir sind eine eigenständige Macht. Das sage ich hier mit Nachdruck. Wir haben Verbündete, wir sind Europäer und wir müssen mit unseren europäischen Partnern respektvoll zusammenarbeiten…. Wir sind keine Macht, die der Auffassung ist, dass die Feinde unserer Freunde auch zwangsläufig unsere Feinde sind und wir deshalb nicht mit ihnen reden…. Wir brauchen also unsere eigene Strategie, denn diese Strategie dient unseren Interessen und somit unserer Nützlichkeit für die ganze Welt.“

Nachdem Macron das geklärt hat, kommt er auf den Iran, China und eben Russland zu sprechen: „In meinem Wunsch, diese Beziehungen (zu Russland; Anm.) neu zu gestalten, bin ich frei von jeglicher Naivität. Ich bin mir aber einiger Dinge gewiss. Wir befinden uns in Europa, genauso wie Russland. Und wenn wir es an einem bestimmten Punkt nicht schaffen, etwas Sinnvolles mit Russland anzufangen, wird eine grundlegend unproduktive Spannung fortbestehen. Es wird weiterhin festgefahrene Konflikte überall in Europa geben. Europa wird weiterhin Schauplatz eines strategischen Machtkampfes zwischen den USA und Russland sein. Und wir werden im Grunde weiterhin die Auswirkungen des Kalten Krieges auf unserem Boden zu sehen bekommen und nicht die Bedingungen für das Projekt der Neuschöpfung der europäischen Zivilisation, das ich eben erwähnt habe, schaffen können. Denn dies ist nur möglich, wenn wir unsere Beziehungen zu Russland sehr, sehr gründlich überdenken. Ich denke zudem, dass es ein schwerwiegender strategischer Fehler ist, Russland von Europa abzustoßen….“

Macron spricht dann das vom Westen so interpretierte Fehlverhalten Russlands in einer Reihe von Fällen an, kommt aber trotzdem zum Schluss: „ Ich glaube, wir müssen in Europa ein neues Gerüst aus Vertrauen und Sicherheit aufbauen. Denn der europäische Kontinent wird nie stabil, nie sicher sein, wenn wir unsere Beziehungen zu Russland nicht befrieden und klären. Dies liegt nicht im Interesse einiger unserer Partner, das muss klar gesagt werden. Und einige werden uns immer zu mehr Sanktionen drängen, weil es in ihrem Interesse ist, auch wenn es unsere Freunde sind. Aber es liegt ganz klar nicht in unserem Interesse. Und ich glaube, dass die Europäische Union und Russland es unbedingt schaffen müssen, zusammen zu halten, um das gerade erwähnte Ziel zu erreichen, in dieser Welt, in der eine Polarisierung droht, wieder ein echtes europäisches Projekt aufzubauen…“, „… zahlreiche Akteure in den Behörden und wirtschaftliche Kräfte werden mittels Attacken und Provokationen versuchen, diesen Weg zu schwächen…. Aber wir müssen aus den festgefahrenen Konflikten auf dem europäischen Kontinent aussteigen.“

Macron geht schließlich auf eine Reihe von Feldern ein, bei denen Frankreich, bzw. die EU mit Russland kooperieren sollten: die Kontrolle der konventionellen, nuklearen, biologischen und chemischen Waffen, die Raumfahrt, der Cyberraum, sowie die Schaffung einer technologischen Souveränität auf industrieller Ebene. Weiter kündigt er die Gründung einer Arbeitsgruppe mit Russland an und meint, dass die Voraussetzung für diesen Weg, die Umsetzung des Minsker Abkommens in der Ukraine ist. Dann bittet Macron seine Zuhörer sich in Russland hineinzuversetzen und zu überlegen, welche Strategie das Land für sich selbst verfolgen würde und kommt zu dem Schluss, dass es geradezu auf eine Kooperation mit der EU angewiesen sei. Denn er, Macron, denke, dass es nicht Russlands Berufung sei, Minderheitspartner Chinas zu sein. Und daher müssten wir Russland ein strategisches Angebot machen….

Macron beendet seine Rede dann so: Frankreich und Europa müssten den Mut haben, ihre Denkmuster und Automatismen neu auszurichten. Dem Projekt der europäischen Zivilisation, das wir einst begründet haben, müsse neues Leben eingehaucht werden: in politischer, strategischer und kultureller Hinsicht sowie in Bezug auf unsere Denkweise. „Der Diplomatie kommt diesbezüglich eine entscheidende Rolle zu. Und dieser neue Humanismus, an den ich glaube, den wir errichten müssen und der im Mittelpunkt der Strategie der Regierung stehen muss, muss auch im Mittelpunkt unserer Diplomatie stehen.“

Nun, diese Rede Macrons ist mittlerweile in die Mottenkiste des Élysée-Palasts versenkt worden. Ob sie da jemals wieder raus geholt wird, hängt nicht zuletzt von den europäischen Bürgern und ihrer Bereitschaft ab, einen Schritt vorwärts zu machen.

COMMENTS

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    Horst Beger 6 Monaten

    Neben dem missverstandenen „Schachspieler“ Zbigniew Brzezinski gab es auch noch den von Michael Schütz nicht erwähnten Geostrategen Samuel Huntington, dessen Buch „Kampf der Kulturen“ von 1996 auch von Studenten in St. Petersburg diskutiert wird. Darin weist er darauf hin, das die Religionsgrenzen von 1500 Europa bis heute in ein östliches(russisches) Christentum, das vom westlichen(römischen) Christentum bekämpft wird, paltet. Und, dass diese „Religionsgrenze“ auch die Ukraine in eine vom russischen Christentum geprägte Ostukraine und eine vom römischen Christentum beeinflusste Westukraine teilt, also ganz aktuell ist. Insbesondere das katholische Polen hat sich in diesem „Kulturkampf“ im Laufe seiner Geschichte von Rom immer wieder gegen Moskau instrumentalisieren lassen. Von Russland wird daher die Ostukraine als „Russische Welt“ gegen die „westliche Welt des Antichristen“ verteidigt, auch wenn das vom „antichristlichen“ und materialistischen Westen nicht verstanden und anerkannt wird.“Wir müssen daher unser Denken verändern“, wie der Autor am Ende seiner Ausführungen zu Recht scheibt, auch wenn er darunter etwas anderes versteht.

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    Steffen Hebenstreit 6 Monaten

    Der erste Kommentar haut in die selbe Kerbe wie der Artikel. Ich möchte hier dennoch bemerken, dass deutsche Internet-User, welche diese Seite besuchen, hier egentlich detaillierte, differenzierte, objektive, sachliche und ausgewogene Informationen über die Vorgänge in und um Russland suchen und erwarten. Sie suchen hier keine seichte Unterhaltung und keine plumpe Kreml-Propaganda, sie wollen sich sich nicht totlachen oder mit dem Finger an die Stirn tippen, und sie wollen auch nicht verarscht werden. Wen bitte interessieren hier und heute die absurden Thesen des durchgeknallten amerikanischen Politrentners Zbigniew Brzezinski, der lange verstorben und zu Recht vergessen ist? Was soll uns das sagen? Was will der Autor damit erreichen? Die ebenso absurden eurasischen Thesen des noch lebenden Alexander Dugin in Moskau hatten sicher mehr Einfluss auf die Politik des Kreml als die Thesen Brzezinskis auf die Politik der Admininistrationen Obama, Trump und Biden. Natürlich ändert sich die Weltordnung durch den grundsätzlich wünschenswerten ökonomischen Aufstieg früher bettelarmer Nationen. Und das relative Gewicht von Europa und Nordamerika wird damit natürlich kleiner. Der Aufstieg anderer auf unser Wohlstandsniveau muss aber keinesfalls unseren Abstieg zur Folge haben. Übrigens sinkt dabei auch das relative Gewicht Russlands. Europa und Nordamerika haben jeweils ca. 500 Mio Einwohner, Russland hat heute 140 Mio Einwohner, in 25 Jahren ca. 120 Mio und in 50 Jahren noch ca. 100 Mio. Die kulturelle und zivilisatorische Anziehungskraft des heutigen Russlands ist nahe Null, nicht umsonst will die Ukraine in die EU und nicht nach Russland (wie auch der Krieg beweist). Ebenso sehen es die Flüchtlinge aus dem globalen Süden. Putins Rede zur Weltordnung auf dem Valdai-Forum offenbart einfach nur einen riesigen und erschreckenden Abgrund zwischen seinen Worten und seinen Taten, unübersehbar für jeden Menschen, der seine Scheuklappen abgelegt hat. Wer sich für die künftige Weltordnung wirklich interessiert, dem empfehle ich das neue Sachbuch „Welt in Aufruhr“ von Herfried Münkler, das ist sachlich, ausgewogen, informativ und detailreich, obwohl auch Hr. Münkler natürlich nicht wirklich in die Zukunft schauen kann. Auch über Russland gibt ein neues, sachliches, informatives und lesenswertes Buch, das ich hier wärmstens empfehlen kann: „Putins Helfer“ von Guido Knopp. Der Beitrag des Autors hier ist offensichtlich unausgewogen, polemisch, unsachlich, wenig objektiv und wenig informativ. Der Tonfall ist höhnisch, verächtlich und unverkennbar bösartig. Die Art und Weise, wie der Autor hier mit Schaum vor dem Mund über den „bösen Westen“ geifert und wieder mal versucht, dem „Westen“ hintenrum eine Mitschuld oder sogar die Hauptschuld an Putins Raub- und Eroberungskrieg in der Ukraine zu geben, ist widerlich und riecht unangenehm nach Kreml-Propaganda. Was Hr. Schütz hier ausführt, könnten auch Dimitri Peskow oder Wladimir Solowjow im Kreml-Fernsehen gesagt haben. (Deren theatralische, ausfällige und vom Hass auf den „Westen“ geprägte Propaganda, die sehr flexibel mit Fakten umgeht, ist den meisten Deutschen inzwischen im Grundsatz bekannt.) Dieser Artikel von Hr. Schütz dürfte auf die meisten deutschen Internet-Leser abstoßend und abschreckend wirken. Diese informieren sich heutzutage immer mehrseitig und mehrgleisig, und sie merken schnell, wo sie nur selektiv informiert, belogen und verarscht werden. Solche Internet-Seiten werden sie künftig meiden.

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      Michael Schütz 6 Monaten

      Sehr geehrter Herr Hebenstreit,
      ich weiß nicht wie Ihr Kommentar unter meinen Artikel gelangt ist, denn mit meinem Aufsatz hat er ganz offensichtlich nichts zu tun. Auch in dem von Ihnen beschriebenen Autor kann ich mich nicht wiedererkennen.
      Ich gebe zu, mit dem Herrn Peskow verglichen zu werden, also das wäre schon ein richtiger Ritterschlag.

      Ich habe in meinem vorigen Artikel eine Einladung ausgesprochen, nämlich das Denken zu verändern. Ich schrieb, dass es jetzt nichts nützt, noch irgendwelche Entspannungspolitik etc. zu machen, sondern wir müssen unser Denken verändern.
      Ich möchte diese Einladung noch einmal auch an Sie persönlich aussprechen, denn Sie haben schon zuvor erkennen lassen, dass Sie dieser nicht wirklich folgen wollen.

      Nun sagte bekanntlich schon Papa Einstein sinngemäß, dass ein Problem nicht mit derselben Denkweise gelöst werden könnte, mit der man es verursacht hat und auch Präsident Macron folgt offenbar meinen Vorschlag, wenn er sagt, dass wir unsere Denkmuster neu ausrichten müssten.

      In meinen diversen Artikeln hier habe ich immer wieder ein solches Neues Denken anklingen lassen, zuletzt schrieb ich eben, dass es nützlicher sei, von einer „Vernetzten Weltordnung“ zu sprechen, weil das eine bestimmte, erfolgreichere Sichtweise auf die Welt impliziert, wobei ich hier diesen Gedanken mit der Verknüpfung zur Global Governance weitergesponnen habe.

      Ihre künftige Weltordnung wird übrigens nicht eintreten. Die Menschheit wird jetzt ordentlich durchgeschüttelt und mit dem Ergebnis dieser „Therapie“ hat dann wahrscheinlich kaum jemand gerechnet.
      Grüße vom Schütz

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    Horst Beger 6 Monaten

    Die „Erinnerungen an die Zukunft“ von Michael Schütz unterschätzen Zbigniew Brzezinskis „Großes Schachbrett“ von 1997 und den Einfluss, den dieser auf die amerikanische Außenpolitik seiner Zeit hatte. Dieser hat von Anfang an die Aufnahme Georgiens und der Ukraine in die NATO gefordert, wohl wissend, dass er damit Russland als Mitspieler auf dem „Eurasischen Schachbrett“ verdrängt hätte. Das hat Russland als Schachnation natürlich durchschaut und hat zu dem Krieg Russlands in Georgien und der Ukraine geführt. Insofern kann man sagen, dass Brzezinski mitverantwortlich ist für den Stellvertreterkrieg der USA in der Ukraine. Aber auch Deutschland und Frankreich sind mitverantwortlich, weil sie als NATO-Mitglieder nicht bereit waren, sich Russland gegenüber zu verpflichten, dass die Ukraine niemals Mitglied der NATO wird. Hinzu kommt, dass beide glauben, den Krieg in der Ukraine mit Waffenlieferungen an die Ukraine beenden zu können. Insofern ist auch die interessante Rede Macrons von 2019 etwas für die Mottenkiste. Und von „Deutschlands pathologischem Militarismus als niedrigster Kulturform, die je dagewesen ist“(Theodor Fontane 1897) war und ist eine solche Rede nicht zu erwarten. Aber Brzezinski hat interessanterweise noch auf einen weiteren Mitspieler im Hintergrund auf dem „Eurasischen Schachbrett“ gegen Russland aufmerksam gemacht, auf den Vatikan. Seit 1976 hatte er nämlich einen intensiven Briefwechsel mit dem damaligen Erzbischof Wojtyla in Polen, dem späteren Papst Johannes Paul II., der mit dem amerikanischen CIA zusammengearbeitet hat, um die polnische Widerstandsbewegung „Solidarnosc“ zu unterstützen, wie die Journalisten Carl Bernstein und Marco Politi das in ihrem entspr. Buch von 1997 aufgezeigt haben. Und der derzeitige Jesuit auf dem „selbst ernannten Heiligen Stuhl“ (Augstein) ist ein Wolf im Schafspelz.

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