Europa und Russland nach dem Krieg

Europa und Russland nach dem Krieg

[von Alexander Rahr] Die zwei Jahre Ukrainekrieg haben die geopolitische und geoökonomische Lage Europas dramatisch umgestaltet. Die „Zeitenwende“ hat Europa ein anderes Gesicht verliehen. Die Führungseliten in der Europäischen Unionwollen Russland, das sich gegen die „heilige europäische Ordnung“ auflehnt, in der Ukraine besiegen. Russland indessen hat den Krieg begonnen, um NATO und EU zu schwächen. Einen Kompromiss will weder die eine noch die andere Seite, es geht um alles oder nichts. Eine Eskalation scheint wahrscheinlich.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion und dem Ende des Kalten Krieges stützte sich der Westen auf zwei Postulate: Europa sollte von einer wirtschaftlichen Gemeinschaft zu einer politischen Union aufgebaut werden. Die beiden tragenden Säulen dafür sollten NATO und EU sein. Für eine Großmacht Russland mit eigener Einflusssphäre sollte kein Platzmehr sein in Europa. Im Gegenteil: das westliche Postulat besagte, dass ein neues russisches Imperium niemals mehr entstehen dürfe. Um das zu erreichen, fingen NATO und EU an, Bündnisse mit den neuen unabhängigen Staaten gegen Russland aufzurichten. Russland hielt dagegen und suchte die Reintegration mit den früheren Sowjetrepubliken. Der Ukrainekrieg war die Folge davon.

Der Ukrainekrieg war aber nur einer der Trigger für die großen geopolitischen Umwälzungen – Veränderung wäre wohl ein zu leichtfüßiger Begriff für den zu beobachtenden Weltumbruch. Der Krieg in Israel birgt die Gefahr eines neuen Flächenbrandes im Nahen Osten, aus dem der Westen diesmal nicht als Sieger hervorgehen wird. China und die USA kämpfen um die Vormachtstellung in Südostasien. Gleichzeitig wird Afrika von Bürgerkriegen erschüttert. Der Konflikt um Bergkarabach ist im Kaukasus nicht zu Ende, auch in Lateinamerika wächst die Kriegsgefahr. Europa wird von den Umwälzungen nicht verschont bleiben. Die regelbasierte Ordnung, die sich nach dem Ende des Ost-West-Konflikts zunächst durchgesetzt hatte, ist zerbrochen. Die Weltpolitik steht vor neuen Machtkonstellationen und die heutigen Konflikte sind nur die Vorboten für den bevorstehenden wirklichen Weltenumbruch.

Vor drei Jahrzehnten zerfiel der kommunistische Machtblock, der Westen stand als triumphaler Sieger da. Jetzt beginnt eine historische Schwächephase für den Westen, ausgelöst durch geoökonomische Umwälzungen in der Weltwirtschaft. Die normative Ordnungspolitik des Westens gerät aus den Fugen, den USA droht das Gespenst eines Bürgerkrieges. Dies wäre das Ende vom Westen, wie wir ihn kannten.

Die Welt entwickelt sich hin zu einer polyzentrischen Weltordnung, in Wahrheit zur Aufteilung der Welt in neue Militär- und Wirtschaftsblöcke. Neben NATO und EU beginnen sich neuartige Institutionen in Asien zu formieren, wie etwa die BRICS. Der Westen verliert seinen Einfluss auf den Globalen Süden, dadurch wird die weltpolitische Stellung der transatlantischen Gemeinschaft bedroht.

Der EU stehen geoökonomisch schwere Zeiten bevor. Die USA sind an einer gleichwertigen Partnerschaft und einem Schutzschirm für Europa immer weniger interessiert. Kommerziell sieht Amerika in der EU einen Konkurrenten. Putins Ansinnen, Energie als Waffe gegen Europa zu nutzen, war ein Schuss, der nach hinten losging. Die USA werden keine Skrupel haben, Energie als Waffe gegen Europa einzusetzen, um die Europäer zu disziplinieren. Ohne die USA wird Europa auf globaler Ebene zu einem politischen Zwerg. Ein Zusammenrücken der Europäer angesichts der Gefahr wird jetzt von den liberalen Eliten beschworen, doch diese verlieren an Autorität und eine Neufindung Europas scheint heute nur übereinen Rechtsruck realistisch.

Die großen Gewinner des Weltumbruchs sind die USA und China; die USA beherrschen die Europäer stärker als jemals zuvor. China drängt Russland in eine Juniorpartnerrolle, die Russland in Europa niemals spielen wollte, vor den Chinesen wohl aber kapitulieren muss. Das Verhältnis Russland Europa könnte künftig, falls die Europäer sich auf einen Krieg mit Russland einstellen, von Gegensätzen gezeichnet werden. Ein neuer Eiserner Vorhang ist wahrscheinlich. Durch die undurchsichtige Weltlage, den Wegfall von alten Bündnissen sowie veränderte Machtkonstellationen und Regierungen könnte es auch wieder zu einer logischen Annäherung zwischen Europa und Russland kommen. Zunächst aber werden die EU und Russland infolge des Ukrainekrieges militärisch stark geschwächt sein, der Materialverbrauch und die Kriegsopfer auf russischer und ukrainischer Seite sind nicht ersetzbar. Eine Aufrüstungsspirale würde die Volkswirtschaften Europas und Russlands in Bedrängnis bringen.

Heute kämpft Deutschland um seine Führungsrolle in Europa. Die Abwendung Amerikas zwingt die Europäer zum Handeln. Deutschland soll künftig nicht mehr Zahlmeister der EU sein, sondern auch dessen militärischer Arm. Dafür gibt Deutschland seine frühere Ostpolitik auf und bringt große Opfer für die Ukraine, deren Zukunft völlig ungewiss ist. Morgen wird es Aufrufe zur atomaren Bewaffnung Deutschlands geben. Moskau wird Europa mit einem Militärbündnis mit China bedrohen, möglicherweise den Iran und Nordkorea atomar aufrüsten. Das Mindeste, was die USA tun können, wäre, ihre Atomraketen in Osteuropa zu stationieren. Doch dieser Schritt würde Europa nur verwundbarer machen, zumal die Europäer, deren Staatskassen leer sind, sich nicht mehr um alle Weltkonflikte kümmern können. Sollten die USA die Europäerin einen globalen Konflikt mit China hineinziehen, droht der EU weiteres Unheil: die Zerstörung von Lieferketten, gefährliche Rohstoffkriege, ein Verlust von lebenswichtigen Transitrouten, weitere Migrationsströme infolge neuer Kriege im Nahen Osten und Afrika, und nicht zuletzt schwere Wohlstandsverluste, gefolgt von einer Deindustrialisierung Europas, inneren politischen und sozialen Konflikten.

Man kann sich heute nur noch an den Kopf fassen. Die Chancen für eine globale Friedensordnung nach dem Ende des Kalten Krieges standen gut, der Westen als der Sieger im Kalten Krieg hätte sowohl China als auch Russland von vorneherein eine Führungsrolle in einer gemeinsamen Architektur geben müssen. Diese Fehler könnten den Westen jetzt teuer zu stehen kommen. Das eigentliche Problem ist, dass die westlichen Eliten die neue Weltordnung nicht wahrhaben wollen, in ihren Vorstellungen, die Welt mit liberalen Werten beglücken zu müssen, verharren, und die Umwälzungen nach dem Motto ignorieren, dass „nicht sein kann, was nicht sein darf“. Der Westen will sich eine Weltordnung, in der antiwestliche Staaten mitreden, gar nicht vorstellen. Er will diese Weltordnung notfalls mit Gewalt verhindern.

Die Gesetze der künftigen Weltordnung werden nicht durch die Gegensätze Freiheit – Unfreiheit ausgefochten werden, wie das die westliche Vorstellung ist. Die Hauptaufgabe aller Staaten wird sein, eine funktionierende Weltordnung zu erhalten, in der zehn Milliarden Menschenleben, obwohl der Planet in allen Belangen für diese Überbevölkerung ungeeignet ist. Probleme wie ökologischer Umbau, Ernährung, Zugang zu Energie oder Völkerwanderungen könnten von der kommenden Generation nicht gelöst werden, falls man nur gegeneinander agiert und den Gegner verbissen zerstören will.

Die Globalisierung der Weltwirtschaft, wie sie Ende des 20. Jahrhunderts konzipiert wurde, wird es nicht mehr geben. Nachdem der Westen die bekannte Art von Sanktionen gegen den größten Flächenstaat der Erde, nämlich Russland, verhängt hat, ist anderen Mächten sofortklar vor Augen geführt worden, dass sie bei nächsten Verstößen gegenbestimmte Regeln ebenfalls mit zerstörerischen Sanktionen rechnen müssen. Und dass die viel gepriesenen Gemeinsamkeiten und Interdependenzen im Welthandel (WTO) jederzeit vom stärksten Akteur – den USA – für beliebige Strafmaßnahmen instrumentalisiert oder missbraucht werden können.

Eine friedliche Neuordnung der Welt wird es angesichts der gravierenden System, Werte und Politikunterschiede vermutlich so nicht mehrgeben. Hinzu kommt, dass die fürchterlichen Zerstörungen der Weltkriege des 20. Jahrhunderts in den Erinnerungen der jetzigen Politikergeneration verblasst sind. Vergessen ist sogar der Kalte Krieg, jedenfalls dass der Ost-West-Konflikt durch eine Entspannungs, Abrüstungs und Friedenspolitik beendet wurde. Stattdessen überwiegt heute verbreitet ein historisches Narrativ, wonach der Kalte Krieg durch eine Niederringung des Gegners vom Westen gewonnen wurde.

Durch den Verlust Russlands, das immer zu Europa gehört hatte, wird das EU-Europa in eine Schieflage geraten. Die Ukraine gegen Russland auszutauschen, wird nicht funktionieren. Durch den von Europa nachdem Ukrainekrieg initiierten Kalten Krieg 2.0 mit Russland verliert der Westen sein Rohstoffreservoir in Sibirien. EU-Europa wird sich an den Rockzipfel der USA klammern müssen, um zu überleben, aber die USA werden ihre europäischen Verbündeten nach dem Ukrainekrieg nur noch als Vasallen betrachten.

In diesem Sturm – besser Hurrikan – werden Russland und Europa ihre Identität, Existenz und Rolle in der Weltpolitik neu definieren müssen.

Prof. hon. Alexander Rahr geb. 1959, Historiker, Buchautor. Vorsitzender der Eurasien Gesellschaft, Berlin, Senior Research Fellow am Welt-Trends-Institut für Internationale Politik Alexander.rahr@yahoo.de

COMMENTS

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    Horst Beger 2 Wochen

    „Zwei Jahre Ukrainekrieg haben nicht nur die geopolitische und geoökonomische Lage Europas dramatisch umgestaltet“, wie Alexander Rahr das aufzeigt. Sie sind auch Ergebnis des gescheiteren Versuches, das untergegangene christliche Abendland noch einmal wieder zu beleben, wie die katholischen Gründungsväter der EU das versucht haben, und des Bestrebens der NATO, Russland aus Europa zu verdrängen, wie der erste NATO-Generalsekretär deren Ziele formuliert hat. Der Begriff „Zeitenwende“ kennzeichnet daher auch das spirituelle Scheitern Europas, auch wenn die Politiker/innen, die diesen Begriff in Unkenntnis der ursprünglichen Bedeutung aufgegriffen haben, das nicht wissen. Und die banalen Physiognomien unserer Politiker/innen sind Ausdruck dieser Geistlosigkeit.

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    Bernd Murawski 3 Wochen

    Der Analyse Alexander Rahrs und den daraus abgeleiteten Befürchtungen für die nahe Zukunft kann ich mich zu großen Teilen anschließen – vorbehaltlich einiger Seitenhiebe gegen Russland, die wohl persönlicher Art sind und aus seiner Enttäuschung angesichts der hoffnungsvollen Annäherungsschritte der Vergangenheit resultieren.
    Für Rahr ist Russland wie der Westen hochgradig mitschuldig am Zerwürfnis, was er damit begründet, dass die Moskauer Führung den Aufbau einer eigenen Einflusssphäre verfolgt habe. Diese Behauptung erscheint zumindest für den Zeitraum vor 2008 fragwürdig. Ebenso wenig lässt sich belegen, Russland hätte Energie als Waffe gegen EU-Staaten eingesetzt. Noch abstruser ist die Annahme, der Kreml könnte den Iran und Nord-Korea atomar aufrüsten.
    Darüber, dass die EU ein großer Verlierer des Ukraine-Konflikts ist, dürfte weitgehend Konsens bestehen. Diese Aussage ist in ihrer Pauschalität jedoch kaum auf Russland, nicht einmal auf die Ukraine als Ganzes, übertragbar. In jenen Teilen der Ostukraine, die sich Russland angeschlossen haben bzw. – nach anderer Lesart – von Russland annektiert wurden, finden aktuell beträchtliche Wiederaufbauaktivitäten statt. Und in Russland selbst lässt sich ein patriotisch gefärbtes Erwachen beobachten, das zu besonderen wirtschaftlichen Leistungen anspornt. Die von Putin kürzlich vorgestellten Zukunftsvisionen dürften eine realistischere Grundlage haben als die Programme westlicher Regierungen. Sogar das russische Militär hat seit Beginn der „Sonderoperation“ an Stärke gewonnen – so sieht es zumindest der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr Harald Kujat.
    Dennoch hat auch Russland Rückschlage zu erleiden. Am dramatischsten dürfte das Kappen der kulturellen Bande zu den EU-Staaten sein. Der russischen Gesellschaft werden infolgedessen wertvolle Impulse vorenthalten. Überdies verstärkt die Wiederbelebung traditioneller Werte die Abschottung vom Westen.

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    Juno 3 Wochen

    Alexander Rahr hat diesen Krieg nicht verstanden, der seit 10 Jahren in der Ukraine tobt. Der Putsch 2014 wurde vom Westen gegen eine gewählte Regierung aus geopolitischen Gründen unterstützt und wahrscheinlich auch gesteuert.
    Seitdem lief der Krieg der ukrainischen Putschisten- Armee gegen die rund 5,6 Millionen Russen in der Ukraine, die diesen Putsch nicht hinnehmen wollten.
    Im Februar 2022 reagierte Moskau auf den immer weiter eskalierenden Bürgerkrieg auf Seiten der beiden abtrünnigen „Republiken“ Donezk und Luhansk.
    Darauf hinzuweisen, wäre zumindest angebracht gewesen!

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    Horst Beger 1 Monat

    Geschichte ist immer auch Geschichtsdeutung. Und die Spekulationen von Alexander Rahr auf „Europa und Russland nach dem Krieg“ sind mehr als pessimistisch, wenn er „eine Eskalation für wahrscheinlich hält“. Dass Russland den Krieg in der Ukraine begonnen habe „um die EU und die NATO zu schwächen“, ist jedoch eine Behauptung, die den Fakten widerspricht. Die EU wurde von den katholischen Gründungsvätern 1957 in den Römischen Verträgen gegründet, um das in zwei Weltkriegen untergegangene christliche Abendland noch einmal wieder zu beleben. Und in den Vorgesprächen saß der römische Kardinal Tisserant mit am Tisch, der im gleichen Jahr in Rom ein kleines Frauenkloster nach orthodoxes Ritus gründen ließ, in dem Betschwestern für die Rückkehr Russlands in die römische Kirche beten müssen, an der Russland nie Anteil hatte. Im Ukrainekrieg gibt es daher im Hintergrund von Anfang an einen Mitspieler gegen Russland. Und die NATO wurde im gleichen Jahr 1957 gegründet, „um die Amerikaner in Europa zu halten, die Russen draußen zuhalten un die Deutschen klein zu halten“, wie der erste NATO-Generalsekretär das formuliert hat. Und die Deutschen haben sich diesen Zielen von Anfang an masochistisch angeschlossen. Russland hat daher den Krieg in der Ukraine begonnen, „um die russische Welt der Orthodoxie gegen die westliche Welt des Antichristen zu verteidigen“.

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