Fragwürdige Zahlen zur russischen Corona-Sterblichkeit

Fragwürdige Zahlen zur russischen Corona-Sterblichkeit

[von Bernd Murawski] In einem am letzten Mittwoch veröffentlichten Artikel auf diesem Portal wird eine Studie des „Institute for Health Metrics and Evaluation“ (IHME) vorgestellt, die den Anspruch einer umfassenderen Berechnung der Covid-Todesfälle erhebt. Die Ergebnisse weichen beträchtlich von den offiziellen Zahlen ab. Zu den Staaten mit den größten Differenzen gehört Russland, für das ein Faktor von 5,4 ermittelt wird. Anstelle der zwischen März 2020 und Mai 2021 offiziell bekannt gegebenen 109334 Personen, die infolge der Corona-Epidemie ihr Leben verloren, würde sich die tatsächliche Sterblichkeit auf 593610 belaufen.

In der Beschreibung werden die Faktoren aufgeführt, die in die Berechnungen der Studie eingehen. Ausgehend von der im Jahr 2020 festgestellten Übersterblichkeit werden die eingeschränkte gesundheitliche Versorgung bei anderen Krankheiten, die Zunahme psychischer Störungen und ein vermehrter Rauschmittelgenuss berücksichtigt. Eine gegenteilige Wirkung haben die sozialen Distanzierungsmaßnahmen, die geringere Mobilität und der relative Rückgang anderer Virusinfektionen. Gleichwohl wird nicht spezifiziert, wie die jeweiligen Faktoren in die Berechnung eingehen, was einen Spielraum für Manipulationen belässt.

Die Studie erscheint dennoch als verlässlich, da die zugrundeliegende Argumentation schlüssig ist und ein Universitätsinstitut dahintersteht. Erste Bedenken kommen auf, wenn der Standort bekannt wird: Washington. Weitere Zweifel dürfte verursachen, dass im Artikel die „Bill and Melinda Gates Foundation“ als wichtiger Förderer genannt wird. Da es zu weiteren Finanziers keine Angaben gibt, besteht reichlich Stoff für Spekulationen. Es erscheint daher angebracht, die Zahlen im Folgenden näher unter die Lupe zu nehmen.

Tatsächlich ist Russland nicht der einzige Staat, für den in der IHME-Studie höhere Corona-Todeszahlen ermittelt werden. Dasselbe trifft praktisch auf alle Länder zu, wenn auch in unterschiedlichem Umfang. Die Werte sind der folgenden Karte zu entnehmen:

Neben Russland erscheinen die ehemaligen Sowjetrepubliken – mit Ausnahme der baltischen Länder und der Ukraine – in extrem schlechtem Licht. Die Angaben der westlichen Staaten weichen hingegen nur geringfügig von den IHME-Werten ab. Deren Position wird allein durch die hohen Werte Japans und Südkoreas getrübt. Ebenfalls dürfte das gute Abschneiden Chinas auf manchen Freund des Westens störend wirken. Dem Land die Erfolge abzuerkennen, hätte jedoch die Glaubwürdigkeit der Studie erheblich beeinträchtigt.

Gemäß den offiziellen Zahlen lag in Russland die Übersterblichkeit für 2020 signifikant höher als während der Jahre zuvor. Zwischen Januar und November übertraf sie den entsprechenden Vorjahreszeitraum um 13,8 Prozent. Dass die Corona-Epidemie dafür ausschlaggebend war, liegt auf der Hand und wird von den russischen Behörden nicht bestritten. Trotz des deutlichen Anstiegs erscheint die Sterblichkeitsrate dennoch moderat, wenn die Zahlen der letzten 16 Jahre für einen Vergleich herangezogen werden:

Wie aus der Tabelle ersichtlich ist die relative Sterblichkeit während eines längeren Zeitraums im Sinken begriffen. Ein Grund für diesen Trend dürfte die vergleichsweise geringe Lebenserwartung der russischen Bevölkerung sein, die im Jahr 2019 mit 73,3 Jahren um etwa 8 Jahre niedriger lag als in Deutschland. Die Aufholjagd wurde durch die Corona-Epidemie jäh gestoppt. Eine Sterblichkeitsrate von 113,2 auf 10000 Personen erscheint dennoch im Vergleich mit früheren Werten erträglich.

Russland wird häufig unterstellt, die Zahl der Corona-Opfer aus politischen Gründen nach unten drücken zu wollen. Zwar liegen sie niedriger als wie bei einer Anwendung westlicher Kriterien zu erwarten wäre, jedoch wird der Grund dafür keineswegs verschwiegen. Nach Aussage der stellvertretenden Ministerpräsidentin Tatjana Golikova bemühen sich die russischen Behörden um eine differenzierte Erfassung. Eine im November 2020 erhobene Statistik hat etwa die folgende Gestalt:

Von den insgesamt 35645 registrierten Todesfällen von Personen, die mit Sars-CoV-2 infiziert waren, galten 19626 als durch Covid-19 verursacht. 2178 Personen wären durch andere Krankheiten gestorben, die durch das Virus verschlimmert wurden, in 9857 Fällen hätte das Virus keinen Einfluss auf den Tod gehabt und für den Rest gab es keine Untersuchungsergebnisse. Da bei jedem Verstorbenen eine Obduktion durchgeführt wurde, dürften die Zahlen verlässlich sein. Zu ähnlichen Relationen gelangte der Hamburger Rechtsmediziner Klaus Püschel, nachdem er im Frühjahr letzten Jahres begann, verstorbene Covid-19-Patienten zu obduzieren.

Im Gegensatz zur IHME-Studie, die einen weltweit mehr als doppelt so großen Totenstand infolge der Corona-Pandemie behauptet, legen die Obduktionsergebnisse nahe, dass die Opferzahlen in westlichen Staaten zu hoch angesetzt wurden. Nun wurden vom Institut der Washingtoner Universität andere Faktoren mitberücksichtigt, womit die eigenen Resultate erklärt werden. Stimmt aber die Größenordnung, bei der sich für Russland ein Faktor von 5,4 ergibt?

Aus der Sterblichkeitsrate von 113,2 auf 10000 russische Bürger lässt sich eine Gesamtmortalität von 1,66 Millionen Personen im Jahr 2020 errechnen. Sollten davon, wie die Studie behauptet, tatsächlich 539610 auf die Corona-Epidemie entfallen, dann wären ohne deren Einfluss lediglich 1,12 Millionen Personen verstorben. Dies hätte einer Sterblichkeitsrate von 76,4 auf 10000 Personen entsprochen, was gemäß der obigen Grafik einen Rückgang zum Vorjahr von etwa einem Viertel bedeuten würde.

Da dies faktisch nicht möglich ist, erfährt die anfangs geäußerte Vermutung Bestärkung, dass hinter der veröffentlichten Studie politische Intentionen stehen. Es sollen offenbar Zweifel an der Glaubwürdigkeit der statistischen Erhebungen Russlands gestreut werden. Damit reiht sie sich in die Liste jener westlichen Expertisen ein, die ein gezielt schlechtes Bild auf Russland werfen. Zu erwähnen wären etwa die periodisch erscheinenden Bulletins von „Human Right Watch“, „Transparency International“ und „Reporter ohne Grenzen“, deren Tätigkeit bekanntermaßen aus westlichen Staatsbudgets finanziert wird. Die relativ verhaltene Berichterstattung westlicher Medien über die IHME-Studie lässt allerdings vermuten, dass deren argumentative Schwächen erkannt worden sind, woraufhin sie als für ein Russland-Bashing ungeeignet eingeschätzt wurde.

 

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