[von Michael Schütz] Wir werden uns wohl kaum an den Historikern versündigen, wenn wir bereits jetzt die aktuellen Ereignisse in Zentraleuropa, am Schnittpunkt zwischen Ost und West als historisch ebenso bedeutsam einschätzen, wie das Geschehen des Jahres 1812 und seine Folgen.
Wir sind Zeugen eines dramatischen Moments der Weltgeschichte, trotzdem scheint das derzeit die meisten Leute nicht wirklich von den Hockern zu reißen. Diese historische Perlenkette der Jahreszahlen wird gerade um eine Zahl erweitert -1812-1917-1941-1991- und jetzt 2022 – die europäische Geschichte und Weltgeschichte hat sehr viel mit dieser Zahlenkette zu tun, die historische Schlüsselmomente bezeichnet, die in Zusammenhang mit Russland stehen. Es ist immer wieder Russland, das Eckdaten der Geschichte vorgibt. Möglicherweise liegt darin auch einer der Gründe, wieso man im westlichen Europa so gar nicht gut auf Russland zu sprechen ist. Geschichte wird in Moskau (bzw. St. Petersburg) gemacht und nicht in EU-Brüssel.
Angeblich, so wird berichtet, gäbe es beim Bruderkrieg in Zentraleuropa Gespräche im Hintergrund. Was auch immer bei etwaigen Gesprächen herauskommen sollte oder auch nicht, solche Verhandlungen können nur die eine Seite der Medaille sein.
Die andere Seite muss ein gesamteuropäischer Kongress sein, der das europäische Gefüge neu ordnet. Gleichsam ein Wiener Kongress 2.0 .
Es geht dabei um eine europäische Sicherheitsordnung, um eine Zukunft der Europäischen Union, vor allem aber um das Selbstverständnis, das die Europäer von sich selbst entwickeln möchten.
Nach über einem Jahrzehnt Gesprächsverweigerung des Westens mit Russland, ist die Zeit gekommen, den Kontinent Europa neu aufzusetzen!
Ein solcher Vorschlag erscheint im Moment doch als ziemlich illusorisch. Politik, sog. Experten und Medien im Westensind auf Konfrontation gebürstet. Es gibt keine Anzeichen in der offiziellen westlichen Öffentlichkeit, dass da irgendjemand die Fähigkeit besitzen würde, der Vergangenheit zu entfliehen. Ganz im Gegenteil, „Vordenker“ rufen sogar nach atomarer Bewaffnung für die Europäische Union. Wenn schon rückschrittlich, dann ordentlich.
Trotzdem hält es der Autor für durchaus möglich, dass sich die Dinge Richtung eines Zweiten Wiener Kongressesentwickeln.
Im Gebälk der westlichen Herrschaftssysteme knackt es ordentlich. Der Westen hat sich mit seinem Verhalten in den aktuellen Konfliktzonen in den Augen eines Großteils der Welt völlig desavouiert und seine Autorität eingebüßt. Die aktuelle Phase der Entkolonialisierung findet nicht nur auf der politischen, sondern vor allem auf einer geistigen und kulturellen Ebene statt. Wir stehen mit hoher Wahrscheinlichkeit vor Umbrüchen in den politischen Systemen des Westens.
Sagen wir es, wie es ist:
Für den Westen wäre ein neuer Wiener Kongress die wahrscheinlich letzte Möglichkeit sich ohne größeren Gesichtsverlust und mit Anstand aus der Affäre ziehen!
Ob in Anlehnung an die Folgen der Napoleonischen Kriege und ihre diplomatische Aufarbeitung in Wien ein solcher Kongress tatsächlich wieder in der Kaiserstadt stattfinden könnte, steht allerdings in den Sternen.
Die Russen müssten da schon alle Augen zudrücken und die Wiener haben wohl auch ihre Leichtigkeit und das Spielerische eingebüßt. Vielmehr könnten andere Standorte für einen solchen Kongress ins Rampenlicht rücken, wie etwa Istanbul, Budapest oder vielleicht Malta.
Es geht letztendlich um die Trademark Wiener Kongress. Dort wurde bekanntlich nicht nur verhandelt, sondern auch viel getanzt und geliebt. Das Atmosphärische spielt eine wichtige Rolle und wie die Verhandler miteinander können, ist ebenso wichtig wie die Vorgeschichte der Konflikte.
Um was es allerdings nicht gehen kann, ist, den ersten Wiener Kongress inhaltlich nachzuahmen. Er war bekanntlich eine restaurative Veranstaltung und man kann und muss ihn durchaus kontrovers diskutieren. Der Punkt ist die Zielsetzung der Veranstaltung von 1814/15, nämlich die Mammutaufgabe, den Europäischen Kontinent komplett neu aufzustellen und eine anhaltende Friedensordnung zu schaffen, was dann auch eindrucksvoll gelungen ist.
Auf dem Weg dorthin wäre der Kongress beinahe gescheitert und die Spannungen haben sich noch einmal massiv aufgebaut, aber geschickte Verhandler konnten ein weiteres Ungemach abwenden. Es scheint daher kein Wunder zu sein, dass die Namen der wichtigsten Verhandler in Wien Geschichtsinteressierten bis heute ein Begriff geblieben sind.
Heutzutage fragt man sich dagegen, wer ist es denn, die oder der für die westliche Seite verhandeln könnte. Gibt es da ein europäisches Gesicht, das ganzheitlich denken kann und einen offenen Horizont besitzt? Die westliche Diplomatie hat stark abgebaut, sich ideologisiert und bewegt sich in veralteten Weltbildern. Zudem sehen die Russen offenbar im Westenkeine Ansprechpartner mehr. Es müsse erst zu einem Generationswechsel im westlichen Europa kommen.
Was also tun?
Hier könnte man einen neuen Weg einschlagen und zunächst einmal inoffizielle Vertreter in die Runde schicken, die auch nicht unbedingt nur für ein Land sprechen müssen, sondern für die Sache.
Also Personen, die auf der zweiten oder dritten Spur unterwegs sind, die sogenannten „Gesprächskanäle“, die in den einschlägigen Strukturen gut vernetzt sind.
Da findet man oft die interessanteren Leute, mit den besseren Ideen.
Oder diejenigen Fachleute, die jetzt kein offizielles Gehör finden, aber ein fundiertes Wissen und Lösungsbereitschaft einbringen können. Oder diverse Altmeister aus den entsprechenden Fachrichtungen. Das Know How ist schließlich da, aber man versündigt sich an den nachfolgenden Generationen, wenn man dieses ungenutzt liegen lässt.
Damit die Ergebnisse solcherart Verhandlungen dann von den Staatsführungen nicht wieder umgedreht werden können, muss auch die Zivilgesellschaft sich aktiv in die Diskussionen dazu im öffentlichen Raum einbringen.
Bei einem solchen Wiener Kongress 2.0 kann es nicht einfach nur ums Raketenzählen und die Verschiebung militärischer Verbände gehen. Vielmehr steht die Frage im Mittelpunkt, wie eine ungeteilte europäische Sicherheit in der Praxis aufgebaut und gelebt werden kann.
Es wird um eine politische Neuordnung Europas gehen müssen. Und um die Frage, welchen Platz darin eine wie immer geartete Europäische Union einnehmen kann.
Diese Europäische Union steht gerade vor dem Sprung zu einem europäischen Superstaat mit maximaler Kontrolle seiner Bürger. Solche Konzepte sind allerdings hoffnungslos aus der Zeit gefallen und werden den Niedergang der EU nur noch weiter beschleunigen.
Wieso hat sich ein europäischer Einigungsprozess stets gegen Russland gerichtet?
Worin soll sich ein europäisches Bewusstsein manifestieren?
Welchen Stellenwert spielen für die Europäer Kultur, Religion und Geschichte, aber auch Wissenschaft und Sport
Wir werden über das Selbstverständnis reden müssen, mit dem der Kontinent Europa an einer neuen Weltordnung teilnehmen möchte. Ein solcher Kongress kann ein neues europäisches Bewusstsein aufbauen, statt der jetzigen ängstlichen Verengung des Weltbildes die Horizonte erweitern und den Kontinent im laufenden Prozess des Umbaus der Weltordnung als eine starke Stimme verankern.
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Weihnachten ist vorbei, und erfüllt haben sich nur die Wünsche der Rüstungsindustrie und deren Vertreter/innen. Das heißt, in Russland beginnt die Weihnachtszeit auf Grund der unterschiedlichen Kalender jetzt erst. Und ob sich dessen Wünsche erfüllen, wird die Zukunft zeigen, denn Verhandlungen unter Berücksichtung der russischen Interessen hat dieses nie abgelehnt. Im Gegenteil, weil Deutschland und die NATO nach dem Zerfall der Sowjetunion die Hoffnungen Russlands auf „ein Europa von Lissabon bis Wladiwostok“ (Michail Gorbatschow), von Ausnahmen abgesehen, zurückgewiesen und die NATO immer weiter nach Osten ausgedehnt haben, hat dies letztlich zu dem Stellvertreterkrieg in der Ukraine geführt. Da auf diese Hoffnungen von Deutschland und dem Westen nicht eingegangen wurde, bleiben nur Waffenstillstand, Verhandlungen und Kompromisse als sinnvolle Perspektiven, um weiteres Blutvergießen und einen Atomkrieg zu verhindern. Dabei hätte Deutschland eine Brückenfunktion zwischen Europa und Russland einnehmen können, und die Ukrainefrage hätte sich möglicherweise so nicht gestellt. Dass dies nicht gewollt und möglich war, ist für beide Seiten von einer gewissen Tragik.
Die „historische Perlenkette der Jahreszahlen 1812 – 1917 – 1941 und – 2022, die nach Meinung des Autors „im Zusammenhang mit Russland stehen“ zeigen, dass der Stellvertreterkrieg der USA und der NATO gegen Russland eine lange Vorgeschichte hat und, dass diese Kriege alle an „Russlands Weiten“ gescheitert sind. Es würde zu weit führen, das im Rahmen des Diskussionsforums im Einzelnen aufzuzeigen, aber die Nennung von einigen Stichworten zu den genannten Jahreszahlen ist für das Verständnis vielleicht hilfreich, wenn der Autor schreibt „1812 und seine Folgen“ und einen „Wiener Kongress 2.0“ zu Diskussion stellt.
Wie Napoleon I. 1812 an „Russlands Weiten“ vor Moskau scheiterte, scheiterte Hitlers Krieg von 1941 gegen die Sowjetunion an „Russlands Weiten“ in Stalingrad. Und der junge deutsche Dichter Herman Kükelhaus schrieb 1941 von der Front vor Moskau: „Wenn ich hier sterben sollte, möchte ich nicht im kalten Deutschland wiedergeboren werden, sondern im warmen Russland“. Schöner kann man den damaligen Zustand Deutschlands nicht beschreiben. Er ist übrigens nicht in Russland gestorben, sondern wurde nur verwundet und starb bei einem Bombenangriff der Alliierten auf Berlin 1943. Dies zu Deutschlands Kultur von damals und heute. Fehlt noch das Epochenjahr 1917, das Amerikas Eintritt in den Ersten Weltkrieg markiert, und auch keine neue Kultur gebracht hat. Der Erste Weltkrieg von 1914, den der Historiker Christopher Clark als „Urkatastrophe“ bezeichnet hat, in den die damaligen Staatenlenker wie „Schlafwandler“ hineingezogen seien, war übrigens ein von allen Beteiligten lange und gut vorbereiteter Krieg und die Folge der ungelösten Probleme Europas mit Russland im „Wiener Kongress von 1815“. Dieser war auch „kein Friedenskongress sondern ein Kriegskongress“. Insofern fällt es schwer, sich einen „Wiener Kongress 2.0“ vorzustellen, und wer mit wem „tanzen“ und verhandeln soll?
Sehr geehrter Herr Beger,
ich sehe das nicht so negativ wie Sie. Ihr Zitat, dass es sich beim Wiener Kongress um einen „Kriegkongress“ handle, habe ich dadurch versucht zu begegnen, dass ich geschrieben habe, man müsse den Kongress durchaus kontrovers diskutieren und, dass sich am Kongress die Spannungen noch einmal massiv aufgebaut haben. Trotzdem ließen sich diese Fragen dann eben lösen. Gerade deshalb erscheint mir der Kongress eben als Bild, auf das man gerade in der heutigen Situation zurückgreifen kann.
Der Wiener Kongress hat versucht das Unmögliche möglich zu machen und hat dabei immerhin gleichsam eine Quadratur des Halbkreises geschafft, was Europa dann eine lange Friedensperiode eingebracht hat.
In diesem Zusammenhang muss man auch die im zeitlichen Umfeld des Kongresses geschaffene Heilige Allianz sehen. Diese wird uns immer als Instrument zur Wahrung konservativer Machtansprüche dargestellt, man sollte dabei aber vielmehr den Focus darauf legen, dass sie zugleich bzw. viel mehr als eine erste gesamteuropäische Friedensinstitution zu sehen ist, die ernsthaft versucht hat, einen aktiven und mit der Zeit mitlaufenden Entspannungsmechanismus zu schaffen.
Dabei ist eben bemerkenswert, dass sich im Kern drei Herrscher verbündeten, die unterschiedlichen christlichen Glaubensrichtungen angehörten. Das heißt, dass dabei eben gerade diese scheinbar so unüberwindliche Kulturgrenze zwischen Ost und West übersprungen worden ist. Das finde ich äußerst bemerkenswert.
Historiker werden heutzutage von den Medien dazu herangezogen, um uns gleichsam das Gefechtsfeld erklären zu lassen bzw. welche Waffen wir brauchen etc.. Die eigentliche Aufgabe der Historiker in dieser aktuellen Situation wäre es allerdings, zu diskutieren, auf welche historische Erfahrungen wir bereits zurückgreifen können und was wir aus diesen Erfahrungen lernen können.
Dazu gebe ich mit meinem Artikel einen Anstoß.
Im übrigen dünkt mich immer mehr, dass für die Auslösung aktueller Ereignisse letztendlich nicht so sehr die historischen Vorläufe eine Rolle spielen, sondern die gerade agierenden Personen, sowie das kollektive Bewusstsein der Gesellschaften. Darauf wird in der Debatte kaum Wert gelegt. Beim Ersten Weltkrieg waren es zum Beispiel gerade junge (!) österreichische und ungarische Diplomaten am Ballhausplatz in Wien – also dort, wo der Wiener Kongress verhandelt wurde – die auf einen Angriff auf Serbien gedrängt haben. Darüber hinaus war es natürlich auch ein Aufbäumen eines in mehreren Akten untergehenden militaristischen Bewusstseins.
Michael Schütz
Sehr geehrter Herr Schütz,
schönen Dank für Ihre ergänzenden Hinweise zum Wiener Kongress 1915 und Ihre Erwartungen, darin ein Zukunftsmodell für die Lösung des gegenwärtigen West-Ost-Konfliktes und -Krieges zu sehen. Mein Hinweis auf die Einschätzung eines damaligen Teilnehmers erfolgte auch nur im Hinblick auf die weiteren historischen Ereignisse, an denen Deutschland nicht unbeteiligt war. So hat der bis heute vielfach geschätzte Fürst Bismarck mit seiner in Bezug auf Russland kurzsichtigen Bündnispolitik und der Unterschätzung Englands die Grundlagen für den Ersten Weltkrieg und eine Folgen geschaffen. Und noch einen Mitspieler im Hintergrund hat Bismarck unterschätzt, den Vatikan, der zu dem Ultimatum Österreichs an Serbien erklärt hat: „Er hoffe, dass (das orthodoxe) Serbien diesmal klein gemacht wird. Das ist im Ersten Weltkrieg zwar nicht gelungen, sondern hat erst die NATO geschafft – zeigt aber wie vielfältig und verwickelt historische Ereignisse sein können. Und die gegenwärtigen militaristischen deutschen „Michel“ haben nichts dazu gelernt und glauben tatsächlich, den Ukraine-Krieg mit Waffenlieferungen lösen zu können. Insofern bin ich mit Ihnen der Auffassung, dass vielleicht erst eine nächste politische Generation den West-Ost-Konflikt lösen kann, wenn die Ereignisse nicht vorher eskalieren.
PS.
Zu dem Epochenjahr 1917 muss man noch ergänzen, dass dies auch das Jahr der Oktoberrevolution und deren Folgen in Russland war, und diese mit Unterstützung und Finanzierung der deutschen Reichsregierung möglich wurde, die aus militärtaktischen Gründen Lenin aus dem schweizer Exil nach Petersburg schleußte in der Hoffnung, dadurch das Kriegsgeschehen des Ersten Weltkrieges noch wenden zu können. Die gleichen konservativen Kräfte haben dann nach dem verlorenen Krieg denn Psychopathen Hitler 1933 an die Macht gebracht in der Hoffnung, dadurch „ein Bollwerk gegen den Bolschewismus“ zu schaffen und in Kauf genommen, dass Hitler schon in „Mein Kampf“ von 1928 die „Lösung der Judenfrage“ versprochen hatte. Nachdem auch der von Deutschland ausgegangene Zweite Weltkrieg verloren war und der Kalte Krieg gegen die Sowjetunion 1991 scheinbar zu Ende war, hat Deutschland auf Grund seiner transatlantischen Fesselung die Chance auf „ein Europas von Lissabon bis Wladiwostok“(Gorbatschow) nicht ergriffen und die Osterweiterung der NATO einschließlich der Ukraine nicht verhindert, und damit den „Verteidigungskrieg“ Russlands gegen die NATO und die USA ausgelöst. Und die „Zeitenwende“ wurde diesmal nicht
von den Konservativen Kräften ausgerufen, sondern von den „Biedermännern und Brandstiftern“ der SPD. Von daher ist die Aussicht auf einen „Wiener Kongress 2.0“ auf lange Zeit nicht zu erwarten.