Grossmacht oder Regionalmacht? In Europa oder Eurasien?

Grossmacht oder Regionalmacht? In Europa oder Eurasien?

[von Alexander Rahr] Ein bedeutsames Ziel Russlands in den kriegerischen Auseinandersetzungen in der Ukraine ist es, den Westen, bzw. die NATO, aus der selbsterklärten russischen Einflusszone zu vertreiben. Dafür muss aus russischer Sicht die Ukraine demilitarisiert werden und die pro-westliche Regierung in Kiew durch eine pro-russische ersetzt werden. Von diesen Zielen will Moskau nicht abrücken. Der kriegerische Konflikt endet dann, wenn Russland seinen wieder angestrebten und 1991 teils verlorenen Grossmachstatus zu zementieren vermag.

Zahlreiche Experten im Westen meinen, dass Russlands Anspruch auf eine Einfluss- bzw. Sicherheitszone angemessen ist. Die USA würden auch nicht einfach zuschauen, falls Mexiko einem russisch-chinesisch geführten Bündnis beitreten würde. Andere westliche Experten sehen das anders. Sie argumentieren, dass Russland eine Kolonialmacht, wie das Britische Empire oder das Osmanische Reich gewesen war, das seine Existenzberechtigung 1991 verloren hat.

War Russland in seiner Geschichte ein solches Empire? Es muss beachtet werden, dass die akademische Diskussion darüber stets aus dem bestehenden Zeitgeist heraus geführt wird. Es existieren Argumente, dass das zaristische Russland mit den westlichen Kolonialreichen nicht vergleichbar war.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion im Jahre 1991 haben sich die meisten der neuen unabhängigen Staaten eine typische postkoloniale Identität gegeben, die vom Westen befördert wurde. Aber der Satz „Russland ist an unserem Schicksal schuld“, ertönte zunächst nur im Baltikum und der Westukraine. In den anderen postsowjetischen Ländern gab es dagegen eine positive Akzeptanz für das gemeinsame historische Erbe. Es ist nicht falsch anzumerken, dass die Länder des Kaukasus und Zentralasiens einst auf freiwilliger Basis und aus Schutz nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches Russland beitraten. Bis vor kurzem sprach man in der Ostukraine, in Moldawien und in Belarus sehr positiv über Gemeinsamkeiten in der Ära der Sowjetunion.

Der Zerfall der Sowjetunion ist von Russland anerkannt worden, nebst einer unabhängigen Ukraine. Grenzen in Europa zu verändern – das verstösst gegen das Völkerrecht, auch wenn sich der Westen im Jugoslawienkrieg und woanders rechtsbrüchig gezeigt hat. Lassen Sie uns aber die Frage erläutern, inwieweit die Ukraine als Staat in der Geschichte existiert hat, ob es eine Kolonie von Russland war, oder ob es das Recht hat, für sich die Nachfolge der Kiewer Rus’ zu beanspruchen.

Die Kiewer Rus’, der erste ostslawische Staat, wurde bekanntlich von den Wikingern etabliert, wobei die römischen Byzantiner identitätsstiftend wirkten. Beide – Wikinger und Griechen – standen Pate bei der Gründung des 1000jährigen russischen Reiches. Der ostslawische Kiewer Staat zerfiel im Mittelalter. Die Ländereien, die heute die Westukraine sind, drifteten nach Polen/Litauen. Die grossen Gebiete im Norden und Osten der Kiewer Rus’ vereinigten sich im Verlauf von 30O Jahren zum russischen Reich.

Während der Mongolenherrschaft kamen die Gebiete der heutigen Ukraine unter die „Goldene Horde“ und wurden danach türkisch. Erst Zarin Katharinas Sieg über das Osmanische Reich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, führte zur Integration des östlichen und zentralen Teils der heutigen Ukraine mit Russland. Seitdem waren sie Bestandteil der russischen Hochkultur.

Die „Ukraine“ bedeutet im Russischen „Grenzland“, also Provinz im weiteren Sinne. Das ist nichts Niederträchtiges, sondern war geographisch bedingt. Das was heute die zentrale und östliche Ukraine angeht, so wurden diese Ländereien zu Neu-Russland. Die eigentliche ethnische Kernukraine ist nur die heutige Westukraine, wo die überwiegend katholische Bevölkerung die russische Kultur und geopolitische Vormachtstellung strikt ablehnte. Trotzdem war die Ukraine bis 1991 niemals ein eigenständiger Staat, auch die Westukraine gehörte lange Zeit zu Polen und Österreich-Ungarn. Während also die heutige Ostukraine, Kiew, Odessa, Kharkov und die meiste Landfläche der heutigen Ukraine nach Katharina der Grossen zum Zarenreich gehörten und danach 80 Jahre lang im Staat UdSSR existierte, entwickelte sich in der heutigen Westukraine im 19. Jahrhundert eine typisch europäische Nationalstaatlichkeit, gepaart mit dem Wunsch nach Eigenstaatlichkeit und kultureller Autonomie.

Waren Russland und die Sowjetunion typische Kolonialreiche, die sich auf Eroberungen fremder Gebiete stützten? Die westliche Geschichtsschreibung sagt ja. Ich will nicht, dass man mir ein grossrussisches Denken unterstellt, aber das russische Imperium war doch ein besonderes historisches Gebilde. Eher mit dem Römischen Reich und Byzanz zu vergleichen, als mit den expansiven Kolonialreichen der Britten und anderer Westeuropäer. Sibirien wurde von den Russen, anders als von den europäischen Siedlern Amerika, eher kampflos erobert.

Zwischen westlichen und russischen Historikern gibt es Streit darüber, ob Stalin durch den Pakt mit Hitler (1939) Osteuropa auf imperialistische Art und Weise überfiel und besetzte, oder einfach die Gelegenheit nutze, die einstigen Gebiete des Zarenreich nach 2O Jahren Verlust, wieder ins (rote) Imperium zu inkorporieren.

Die zuvor polnische Westukraine wurde 1939 gewaltsam der UdSSR zugeführt. Der Widerstand in der Bevölkerung war beträchtlich und äusserte sich in der Unterstützung von Wehrmacht und SS beim Hitler-Angriff auf die Sowjetunion zwei Jahre später. Nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 kam die gesamte Russophobia und Rachegelüste der sich immer als anti-sowjetisch fühlenden Westukraine hoch und wurde zur Staatsräson in der neuen unabhängigen Ukraine.

Der gegenwärtige Krieg ist auf diese Reminiszenzen zurückzuführen. Allerdings wurde diese antirussische Phobie in der Ost- und Zentralukraine nicht geteilt. Dort verhält sich die ukrainische, russischsprachige Bevölkerung distanziert zum nationalen Ukrainertum, der vor allem aus der Westukraine gewaltsam eingeführt wurde. Das bedeutet keineswegs, dass die östliche Bevölkerung der 1991 neugeschaffenen Ukraine von den Russen erobert werden möchte.

Nach Ende des Krieges werden sich die in Mitleidenschaft gezogenen Ukrainer nicht nach Russland zurücksehnen, wenngleich sie eine ultra-nationalistische Staatsidentität ebenfalls ablehnen werden. Diese westukrainische Identität bekämpft Putin heute als faschistisch und sagt, die Westukrainer hätten kein Recht auf die zuvor russische Gesamtukraine. Er konnte die Mehrheit seiner russischen Landsleute von seiner Idee überzeugen, wodurch der Krieg in Russland an Legitimität gewonnen hat.

Wir haben die Frage, ob Russland ein Kolonialreich war, immer noch nicht beantwortet. Jedenfalls dominierte vom 18. bis 20. Jahrhundert auf dem gesamten Territorium des Zarenreiches die russische Kultur. Russische Städte wurden gebaut, es entstanden orthodoxe Kirchen und Gemeinden, Garnisonen zum Schutz Russlands von aussen. In das sich mit dem Ende anderer Reiche erweiterte Gebiet, siedelten sich massenhaft Russen aus dem Kernland an. Sie bildeten dort die Intelligenz und die Herrschaftselite, mit Ausnahme des Baltikums, wo der dort seit Jahrzehnten lebende deutsche Adel sich freiwillig dem Dienst für den Zaren verpflichtete.

Nochmals die Frage: Kann man von den nichtrussischen Kerngebieten als von  Kolonien Russlands sprechen? Kann man von Eroberungskriegen der Russen sprechen, oder waren es Inkorporationen nachbarschaftlicher, „herrenlos“ gewordener Gebiete ins Imperium? Ich schliesse mich hier gerne einer akademischen Diskussion an.

Führte Russland Eroberungskriege, oder kämpfte es eher um die Aufteilung von sich ständig veränderten Einflusssphären mit Polen-Litauen und den Türken? Polen und die Ukraine waren nie Kolonien der Russen, wie es afrikanische Länder unter westeuropäischer Machtausdehnung gewesen sind. Und die Sowjetunion? War sie typisches Kolonialreich, oder ein sozialistisches ideologisches Staatssystem, in dem die russische Teilrepublik selbst rechtlos war. Herrschten die Russen über die anderen Völker nach dem Vorbild des westlichen Kolonialismus in Afrika, Ostasien und Orient? Warum waren dann die Staatsführern der Sowjetunion wie Chruschtschow und Breschnew Ukrainer, Stalin Georgier – nur Lenin und Gorbatschow waren Russen.

Wir können und müssen uns ernsthaft darüber streiten, ob Lenin, Trotzki und Stalin die sich nach der Oktoberrevolution für unabhängig erklärten Ukraine, Baltikum, Zentralasien und Kaukasus wieder gewaltsam kolonisierten, oder aber innerhalb dieser Nationen nicht selbst kommunistische Kräfte wirkten, die in die Sowjetunion, als einen neuen Arbeiter-und Bauernstaat, hineinwollten, weg vom kapitalistischen Westen? Die Sowjetunion schuf einen neuen Menschen, den Homo Sovieticus, der anti-kapitalistisch, anti-imperialistisch und anti-nationalistisch erzogen wurde. Wir haben uns im Westen, vor allem nach der Wende, viel zu wenig mit diesem Phänomen beschäftigt.

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Nun zur Zukunft Russlands. Auf der grossen politischen Weltkarte erscheint der Globale Süden. Er wird stärker, geoökonomisch und geopolitisch. Die Anstösse für zukünftige Zivilisationen werden voraussichtlich aus dem Global South und weniger vom Westen kommen. Die EU wird sich mit den USA zur Schicksalsgemeinschaft verbinden, aber in die Defensive kommen. China steigt zur zweiten, vielleicht ersten Supermacht auf. BRICS wird ein alternatives Finanzsystem und vielleicht sogar eine alternative UNO kreieren. Die Welt wird -ganz nach der Orwellschen Formel – trilateral. Ich habe das ausführlich in meinem Roman „2054“ beschrieben. Die Friedensperiode der Nachkriegszeit ist zu Ende, nicht erst am 24.2.2023, sondern am 11.9.2001. USA und China sind eindeutig die bisherigen globalen Gewinner. Die USA beherrschen die Europäer wie noch nie, die Chinesen dominieren in Asien und im Orient.

Wenn die Ukraine gewinnt, wird der Westen gewillt sein, den Kampf der Demokratien gegen Diktaturen unter US-Führung fortzusetzen, mit einer neuen Dynamik was Regime Change Strategien in der nichtwestlichen Welt angeht. Sollte Russland gewinnen, wäre der Westen angeschlagen und möglicherweise die NATO in ihrem heutigen Status in Frage gestellt.

Die eigentliche Frage lautet, ob sich der Westen angesichts seiner Krisen überhaupt noch eine weltverbesserische Wertepolitik leisten kann. Wir stehen vor einem Weltenumbruch, der um vieles dramatischer, gefährlicher und substantieller Natur sein wird, als der erlebte Umbruch von 1989/91.

Man gerät politisch in die Defensive, wenn man hierzulande argumentiert, dass der Global South, die Schanghai Organisation für Zusammenarbeit, die BRICS und die G20 gegenüber der G7, EU und NATO an Stärke und Übergewicht gewinnen wird. Die einen statistischen Zahlen sprechen von der wirtschaftlichen Überlegenheit des Westens. Andere Zahlen behaupten das Gegenteil. Ich bleibe bei der Ansucht, dass der Westen, vielmehr die EU, vom Abstieg betroffen ist. Inwieweit die asiatischen Staaten sich zu einem echten Wirtschaftsblock verbinden, ist ungewiss. In der Tat bleibt bei vielen Staaten des Global South tiefe Skepsis gegenüber China. Der Westen versucht derzeit mit allen diplomatischen Mitteln die BRICS zu spalten, doch bisher ohne Erfolg. Im Gegenteil, der Druck auf den Westen, den Sicherheitsrat der UNO zu reformieren und die westliche Dominanz dort zu vermindern, wächst. Der US-Dollar gewinnt nicht mehr an Stärke, obwohl er als globale Leitwährung noch konkurrenzlos ist. Wir befinden uns in einer Zwischenphase, die weitere Entwicklung hängt von so vielen unbekannten Variablen ab.

Alle historischen, geopolitischen Ansichten und Theorien von Eurasien sind veraltet. Im 19. und 20. Jahrhundert war Eurasien eine Chimäre. Eurasien existierte nur in der Theorie, heute bildet sich auf dem Territorium, welches geographisch Eurasien umfasst, ein weltpolitisches Machtzentrum, das das Potential besitzt, einen politischen Gegenentwurf zum Westen zu schaffen. Russland wird sich daran beteiligen. Das chinesisch-russisch Bündnis, der Aufstieg Zentralasiens, welches jahrhundertelang nur ein Dasein als Peripherie fristete – das sind harte Tatsachen. Heute ist Zentralasien ein Subjekt, kein Objekt mehr der Weltpolitik.

Intellektuelle in Berlin haben sich in der Eurasischen Gesellschaft vereinigt, um die hochinteressanten Prozesse in Eurasien zu verfolgen.

COMMENTS

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    Horst Beger 1 Jahr

    PS
    Der „Umbruch“ von 1989/91 war zwar substanziell aber weder dramatisch noch gefährlich, sondern ein Friedensangebot von Michail Gorbatschow, das der antichristliche Westen abgelehnt hat.

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    Horst Beger 1 Jahr

    In seiner Fragestellung, ob Russland eine „Großmacht oder Regionalmacht in Europa oder Eurasien“ ist, geht Alexander Rahr von der Prämisse aus: „Ein bedeutsames Ziel Russlands in den kriegerischen Auseinandersetzungen mit der Ukraine sei es, den Westen bzw. die NATO aus der selbsterklärten russischen Einflusszone zu vertreiben.“ Das sieht Russland selbst genau umgekehrt, Ziel des Westens und der NATO sei es, „die Amerikaner in Europa zu halten, Russland draußen zu halten und Deutschland klein zu halten,“ wie der erste NATO-Generalsekretär das bei deren Begründung formuliert hat. Daran hat sich nichts geändert, im Gegenteil, die NATO versucht heute, diese auch im eurasischen Raum zu etablieren. So gesehen hat Alexander Rahr recht, wenn er am Ende seiner Ausführungen schreibt: „Wir stehen vor einem Weltenumbruch, der um vieles dramatischer, gefährlicher und substanzieller sein wird, als der erlebte Umbruch von 1989/91.“

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      Horst Beger 1 Jahr

      PS
      Der „erlebte Umbruch“ von 1989/91 war zwar substanziell, aber weder dramatisch noch gefährlich, sondern ein Friedensangebot von Michail Gorbatschow, das der antichristliche Westen bis auf die Wiedervereinigung Deutschlands abgelehnt hat.

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