Innerrussische Diskussion außenpolitischer PrioritätenSchneider, Dr. Lic. Eberhard © Schneider

Innerrussische Diskussion außenpolitischer Prioritäten

[Eberhard Schneider] In letzter Zeit machten sich in Moskau Analytiker Gedanken über die außenpolitischen Prioritäten Russlands im Corona-Zeitalter. Beide Analysen von Carnegie Moskau scheinen sich auf den ersten Blick zu widersprechen, aber im Grund ergänzen sie sich, wenn sie in einen Zeithorizont gestellt werden.

Notannäherung Russlands an China

Alexander Gabujew – Leiter des Programms „Russland in der Asien-Pazifik-Region“ und vorher Stellvertretender Chefredakteur der Zeitschrift „Kommersant-Wlast‘‘“ („Kommersant-Macht“) – und Temur Umarow stellen eine Notannäherung Russlands an China fest, denn die Corona-Pandemie werde die Abhängigkeit Russlands von China erhöhen. [1] Russland müsse sich angesichts der zu Beginn des Jahres eingeleiteten internen politischen Veränderungen – gemeint sind wohl die Verfassungsänderungen – und der Verspechen an die Gesellschaft von der Krise schnell erholen. „In einer solchen Situation wird die Wirtschaft und die technologische Entwicklung des Landes zunehmend von China abhängen, was sich auf andere Bereiche der Zusammenarbeit auswirken wird.“ Das sei keine völlig neue Realität, sondern bestehende Trends würden nur beschleunigt. Wenn allerdings eine von oben durchgeführte Notannährung zu schnell erfolge, um die Unterstützung der Gesellschaften und der Eliten beider Länder zu erhalten, dann könne dies das gegenseitige Misstrauen und andere damit verbundenen Probleme verstärken.

In den letzten Jahren habe die „asymmetrische Annäherung der russischen Wirtschaft an die chinesische stetig zugenommen“. Der Anteil Chinas am russischen Außenhandel nahm von 10,5 % (88,8 Mrd. $) im Jahr 2013 auf 16,6 % (110,9 Mrd. $) im Jahr 2019 zu, in den ersten beiden Monaten 2020 auf 18,7 %. Die russische Zentralbank hat den Anteil des chinesischen Yuan an den Devisenreserven von 1 % auf 14,2 % erhöht. Das russische Finanzministerium plane, die Mittel des Nationalen Wohlfahrtsfonds in Yuan anzulegen.

China ersetzte auch den durch die westlichen Sanktionen seit 2014 nicht mehr möglichen Import westlicher Technologie. Im Jahr 2013 waren fast 60 % (24 Mrd. $) aller Importe aus Deutschland Maschinen und Geräte. Im Jahr 2019 kam fast ein Drittel (28 Mrd. $) aller nach Russland importierten Ausrüstungen aus China. Für die beiden Autoren ist bereits klar, dass China in einigen Bereichen ein „alternativloser Wirtschaftspartner“ für Russland sein wird. „Und die wachsende Macht der Volksrepublik China lässt heute Zweifel aufkommen, ob Peking Moskau als gleichberechtigen Partner betrachtet.“ Die Rolle Chinas werde in der für Russland wichtigen Region Zentralasien wachsen. Europa werde in naher Zukunft isoliert sein, und Moskau werde nicht über genügend Ressourcen verfügen, um den schwachen zentralasiatischen Staaten zu helfen, sich von dem Corona-Schock zu erholen.

Laut der beiden Autoren werde das Coronavirus und seine Folgen Russland und China dazu zwingen, sich schneller zusammenzuschließen, als es für die beiden Länder angenehm wäre, denn zwischen beiden bestehe „immer noch ein hohes Maß an Misstrauen“. Zum Beispiel hat China den russischen Ärzten trotz erklärter starker Freundschaft nicht den lebenden Coronavirus-Stamm zur Verfügung gestellt, der für die Herstellung eines Impfstoffs erforderlich ist. Die Kombination von Eile und Misstrauen werde sowohl die Eliten als auch die Gesellschaft immer mehr belasten. „Trotz aller negativen Konsequenzen hat Russland kurzfristig keine andere Wahl als die größere Annährung an China.“

Abhängigkeit von China verringern

Der Direktor der Denkfabrik Carnegie Moskau Dmitrij Trenin, bis 1993 Armeeoberst und von 1985 bis 1991 Mitglied der sowjetischen Delegation bei den Abrüstungsgesprächen mit den USA in Genf, ging im Mai der Frage nach, wie Russland in der bipolaren Welt nach der Krise im Gleichgewicht gehalten werden kann.[2] Er kam zu dem Ergebnis, dass Russland, um nicht zum Anhängsel des chinesischen Machtpols zu werden, seine Abhängigkeit von China verringern müsse, indem es seine Beziehungen zu anderen großen Wirtschafts- und Finanzakteuren entwickele, vor allem zu den europäischen Ländern, zu Indien und zu Japan.

Die durch die Coronavirus-Pandemie verursachte Krise beschleunige erheblich alle laufenden Prozesse auf der ganzen Welt, die zu einer Veränderung der Weltordnung führen. Als außenpolitische Haupttrends stellt Trenin fest:

  1. Die USA entfernen sich allmählich von der zu belastenden globalen Führung und konzentrieren sich auf die Stärkung ihrer nationalen Basis.
  2. Die Schwächung der Europäischen Union, die Unfähigkeit zeigt, Krisen wirksam zu bewältigen, und in der sich die Widersprüche zwischen ihren Mitgliedsstaaten vertiefen.
  3. Pekings Übergang zu einer aktiven Außenpolitik auf globaler Ebene und ein deutlicher Anstieg des Nationalismus in China.

In Zukunft könne man sich die Bildung zweier konkurrierender politischer und wirtschaftlicher Modelle in der Welt vorstellen:

  1. Das liberale in den englischsprachigen Ländern und – mit einer größeren Rolle des Staates – in der Europäischen Union und
  2. das staatskapitalistische in China und in Russland.

Die amerikanisch-chinesische Bipolarität – nicht nur wirtschaftlich und technologisch, sondern auch geopolitisch und militärstrategisch – werde am Ende immer realer. Sie werde zwar nicht so umfassend sein wie die Konfrontation zwischen der UdSSR und den USA während des Kalten Krieges, doch sie werde die russische Außenpolitik für mehrere Jahrzehnte „vor die größte Herausforderung stellen“. Moskau sei erleichtert zu akzeptieren, dass Washington China und nicht Russland als seinen Hauptkonkurrenten ansieht. Doch bringe diese Position des Feindes Nummer zwei nicht wirklich Vorteile, denn die feindliche Haltung der herrschenden amerikanischen Elite Russland gegenüber bleibe bestehen und verstärke sich zeitweise. Aufgrund der Ergebnisse der Präsidentschaftswahl 2020 sei es unwahrscheinlich, dass sich die Situation verbessere. Die Konfrontation zwischen Russland und den USA hält Trenin für „systemisch“.

Die Annäherung zwischen Russland und China, die unter den Bedingungen der Konfrontation mit den Vereinigten Staaten stattfand, stärkte die geopolitischen und geoökonomischen Positionen Russlands. Die Erhaltung und Stärkung der russisch-chinesischen Entente liege natürlich im Interesse Moskaus. China sei Russlands wichtigster wirtschaftlicher, finanzieller und technologischer Partner geworden. Weder Moskau noch Peking halten es für notwendig, die Handlungsfreiheit auf internationaler Ebene mit dem Abschluss eines militärpolitischen Bündnisses zu verbinden.

Im Verhältnis Russlands zu China stellt Trenin eine „offensichtliche Asymmetrie bei wirtschaftlichen und anderen Möglichkeiten“ fest. Russland, das grundsätzlich auf der Gleichheit der Beziehungen bestehe, werde einen Anreiz haben, seine Beziehungen zu China auszubauen. Die Formel für die Beziehungen zwischen beiden Ländern formuliert Trenin so: „Niemals gegeneinander, aber nicht immer und in allem zusammen.“

Moskau müsse „noch vorsichtiger“ handeln. Russland sei zwar keine Partei im Konflikt zwischen China und den USA, aber es sei unwahrscheinlich, dass es gelinge, ihre Konfrontation „aus der Ferne“ zu betrachten. Russland verbinde sich mit China durch den Wunsch, die „Überreste der auf die USA und den Westen ausgerichtete Weltordnung zu überwinden“. Gleichzeitig habe Russland „keine Lust, in einem China-zentrierten Block zu leben“. Der Eintritt in den Einflussbereich Chinas sei „nicht akzeptabel“. Die Realität sei jedoch, dass die „wachsende Abhängigkeit Russlands von China in wirtschaftlichen, technologischen und potentiell finanziellen Bereichen Moskau zwingen könnte, unfreiwillig der Außenpolitik Pekings zu folgen“.

Eine realistische russische USA-Politik sollte in den nächsten Jahren darauf abzielen, „Vorfälle zu verhindern, die zu einem bewaffneten Konflikt führen könnten“. Gleichzeitig sollten „Interaktionsmöglichkeiten“ gefunden werden, bei denen die Interessen Russlands und der USA „immer noch“ übereinstimmen. „Unter solchen Umständen ist der Versuch, die amerikanische Innenpolitik von außen zu beeinflussen, natürlich aus praktischer Sicht unerschwinglich teuer und erfolglos.“

Im Dreieck USA, China und Russland haben die USA laut Trenin die „Gipfelposition“ gegenüber den anderen beiden eingenommen. Russland könne die Rolle des Initiators eines trilateralen russisch-amerikanisch-chinesischen Dialogs über Maßnahmen zur Stärkung der „strategischen Stabilität in der Welt“ einnehmen.

Die Krise habe der Forderung der Europäischen Union nach strategischer Autonomie einen weiteren Schlag versetzt, jedoch die Rolle einzelner Staaten erhöht. Deutschland, das am erfolgreichsten aus der Krise hervorgegangen ist, habe seine Position innerhalb der EU und möglicherweise weltweit gestärkt. Daraus folgert Trenin, dass es „an der Zeit ist, einen ernsthaften Dialog mit der deutschen politischen und wirtschaftlichen Elite über die Perspektiven der Beziehungen und der Möglichkeiten der Interaktion aufzunehmen“. Bei dem „bereits begonnenen Dialog mit Frankreich“ sollte der Schwerpunkt auf den Problemen der kontinentalen Sicherheit sowie der Lage im Nahen Osten und in Nordafrika liegen. Für den Dialog mit Italien benennt Trenin das Thema Libyen, mit den nordischen Ländern die Arktis, mit Großbritannien die „Normalisierung der beschädigten Beziehungen“. Mit allen EU-Ländern sollte geredet werden, „ausgenommen Polen und die baltischen Staaten“. Es gebe auch Themen für Gespräche mit der Europäischen Kommission. Im „gegenwärtigen Umfeld“ mache es „keinen Sinn, Zeit damit zu verschwenden, die EU und die NATO von innen heraus zu untergraben zu versuchen“. Die russische Politik sollte „positiv sein“, die Interaktionen mit einzelnen europäischen Staaten hervorheben und „Versuche ausschließen, deren innenpolitischen Prozesse zu beeinflussen“.

Bezüglich des „Konflikts im Donbass“ hofft Trenin, dass er „bestenfalls zuverlässig eingefroren und so weit wie möglich neutralisiert werden kann“. Hinsichtlich des „Problems der Krim“ hat er nur die Formulierung „gelöst und geschlossen“. Als Hauptbedingung für die Verbesserung der Haltung der europäischen Eliten gegenüber Russland sieht Trenin auf russischer Seite die „Änderung der auf Europa ausgerichteten Informationspolitik“. Über „Großeuropa von Lissabon bis Wladiwostok“ solle man sich „keine Illusionen“ machen. „Das ultimative Ziel der russischen Politik in europäischer Richtung sollte die Rückkehr Europas als mächtige externe Quelle für die Modernisierung der russischen Wirtschaft sein.“

Die „potentielle Ressource im Osten wie Deutschland im Westen“ sei Japan. Die Rückgabe der Inseln sei eine politische Symbolik. Japan gehe es vielmehr darum, stabile Beziehungen zu Russland als Macht in Eurasien aufzubauen, unabhängig von China, was auch im „Grundinteresse Russlands“ liege.

Ziel der russischen Indienpolitik sei es, die Beziehungen zu diesem Land auf das Niveau der Beziehungen zu China zu heben und damit ein „geopolitisches Gleichgewicht auf dem eurasischen Kontinent“ zu gewährleisten.

Trenin formuliert das Fazit: „Das Schlüsselprinzip der russischen Außenpolitik in den kommenden Jahrzehnten sollte das Gleichgewicht sein.“

Diese beiden Analysen aus demselben Haus können in Übereinstimmung gebracht werden, wenn die erste – Notannäherung Russlands an China – als eine Diagnose der aktuellen Situation gesehen wird und die zweite – Anhängigkeit von China verringern – als das Papier für eine mittelfristige außenpolitische Strategie.

[1]              https://carnegie.ru/commentary/81633?mkt

[2]              https://carnegie.ru/commentary/81541

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