Keine Niederlage, aber auch kein TriumphSchneider, Dr. Lic. Eberhard © Schneider

Keine Niederlage, aber auch kein Triumph

Am 8. September 2019 fand in Russland der diesjährige einheitliche Wahltag statt, an dem in Föderationssubjekten Gouverneure, regionale Parlamente und in einigen Hauptstädten Bürgermeister gewählt wurden.

Gouverneurswahlen

In den 16 Föderationssubjekten von 85 (Republik Altaj, 14 Gebiete, Stadt St. Petersburg) wurden alle Kandidaten der Machtpartei „Einiges Russland“ (ER) gewählt. In drei Föderationssubjekten (Transbajkal, Astrachan, Kurgan) hatten sich die Kandidaten formal selbst aufgestellt, um nicht unter dem Ticket von ER antreten zu müssen, weil sie unter dem schlechten Ruf der Machtpartei bei den Wählern nicht leiden wollten.

Bereits in der ersten Wahlrunde erreichten die Kandidaten die vorgeschriebene absolute Mehrheit, im Unterschied zu den Gouverneurswahlen zu 2018, denn in vier Föderationssubjekten waren damals Stichwahlen erforderlich, bei denen die relative Mehrheit reicht. In zwei Gebieten von 21 siegte im vorigen Jahr zudem nicht der ER-Kandidat. Bei den Stichwahlen 2018 gewann der ER-Kandidat nur in zwei Föderationssubjekten.

Offensichtlich hatte der Kreml aus der Schlappe des vergangenen Jahres gerlent, denn diesmal gab es keine besondere politische Konkurrenz.[1] „Sie haben alles, was noch am Leben war, von den Wahlen gestrichen“, so Grigorij Golossow, Professor an der Europäischen Universität St. Petersburg. Das Fehlen würdiger Rivalen unter einigen Gouverneuren wurde sogar von der Vorsitzenden der Zentralen Wahlkommissionm, Ella Pamfilowa, eingeräumt. Sie stellte eine Wahlbeteiligung von 41,2 % fest, etwas mehr als vor einem Jahr mit 37,6 %.

Andrej Kolesnikow vom Carnegie Moscow Center ist geneigt, die Ergebnisse in den Regionen mit einer gewissen Müdigkeit der Bevölkerung zu erklären, denn jede Protestabstimmung, jede Protestbemühung führe zu nichts. „Letztes Jahr gab es einen Anstieg der Proteststimmen. In diesem Jahr hat sich die Situation insgesamt geruhigt“, erklärt er. Zum einen ist das Abstimmungsverhalten in gewissem Maße Ausdruck der Gleichgültigkeit. Zum anderen dürfte die Überlegung eine Rolle gespielt haben, dass der Gouveneur Träger des Transfers von föderalen Mitteln in den regionalen Haushalt ist, was bedeutet, dass, wenn der Transfer funktioniert, der Lebensstandard möglicherweise nicht sinkt.

Regionale Parlamentswahlen

Regionale Parlamente wurden in 12 Föderationssubjekten (6 Republiken und 6 Gebiete, darunter die annektierte Krim) gewählt, in denen in elf „Einiges Russland“ (ER) die Mehrheit erhielt von 34,2 % bis 80,9 %. Lediglich im Gebiet Chabarowsk siegte mit 56,1 % die nationalistisch-populistische Partei „Liberaldemokratische Partei Russlands“. Allerdings ist die Zahl der in den regionalen Parlamenten von ER eingenommenen Mandate mit Ausnahme der Republik Tatarstan überall zurückgegangen.

Sonderfall Stadtduma Moskau

Einen Sonderfall stellt die Wahl zur Stadtduma der russischen Hauptstadt dar, die nicht nur das politische und militärische Zentrum des Landes ist, sondern zugleich dessen Finanz- und Wirtschaftszentrum. Über die Verhinderung der Aufstellung von unabhängigen nicht-systemischen oppositionellen Kandidaten wurde in der August-Kolumne bereits berichtet. Die Wahlbeteiligung war mit 21,77 % äußerst niedrig.

Die Kandidaten von „Einiges Russland“, die formal nicht als Kandidaten der Machtpartei antraten, sind im Stadtparlament als vom Bürgermeisteramt unterstützte Kandidaten mit 25 Mandaten von 45 vertreten, 13 weniger als vor fünf Jahren: Die „Kommunistische Partei der Russischen Föderation“ errang 13 Sitze, die wirtschaftsliberale Oppositionspartei „Jabloko“ 4 und die Partei „Gerechtes Russland“ 3.[2] Die Kommunisten konnten gegenüber 2014 ihre Fraktion um acht Mandate vergrößern, wahrscheinlich eine Folge des Aufrufs des Oppositionspolitikers Alexej Nawalnyj zur „klugen Abstimmung“, d.h. für den oppositionellen Kandidaten – unabhängig von seiner Parteizugehörigkeit – zu stimmen, der die größten Chancen hat, gewählt zu werden. Dank dieses „Smart Voting“ schaffte es erstmals auch die Partei „Jabloko“ in die Stadtduma mit vier Abgeordneten. In der neuen Stadtduma erhielten die Oppositionsparteien, obwohl sie 20 der 45 Abgeordneten stellen, nur ein Viertel der führenden Posten.[3]

Schlussfolgerungen

Für den Direktor des Moskauer „Instituts für sozio-ökonomische und politische Studien“, Dmitrij Badowskij, sind die Wahlen vom 8. September der „entscheidende letzte große Wahlkampf vor der Wahl zur Staatsduma im Jahr 2021“.[4] Es wird zwar formal am 13. September 2020 einen weiteren einheitlichen Wahltag geben. An diesem werden die endgültigen Basisszenarien für die Parlamentswahl durchzugehen sein. Die wichtigsten Herangehensweisen an die Architektur der Staatsdumawahl würden jetzt entschieden und durch die Analyse des aktuellen Wahlkampfs festgelegt.

Kremlnahe Politologen schlossen aus dem von der Zeitung „Kommersant“ am 23. September veröffentlichen Ergebnis einer Befragung, die sie durchgeführt hatte, aus den Wahlen vom 8. September, dass das Parteiensystem geändert werden müsse. [5] Nach deren Meinung spiegeln die bestehenden Parteien nicht die Ansichten der Gesellschaft wider, sie würden nur gewählt, weil es keine Alternative gäbe. Ändere sich die Lage nicht, würde sich das politische System erneut mit Protesten konfrontiert sehen. Zudem sinke das Vertrauen in die Parteien, sowohl seitens der Wähler als auch seitens der Politiker.

Der Politikwissenschaftler Abbas Galljamow beanstandet, dass die Krise in Russland nicht von den Parteien, sondern vom gesamten politischen System ausgeht. „Die Parteien bilden nur einen kleinen Teil. Viel wichtigere Elemente des Systems sind der Präsident, die Regierung, die Gerichte, die Machtstrukturen, die Gouverneure usw. Die Bewertungen fallen für sie und nicht nur für die Parteien. Die Anti-System-Stimmung im Land wächst, und die bestehenden Institutionen sind delegitimiert.“

[1]              https://www.vedomosti.ru/politics/articles/2019/09/09/810871-pobedi-gubernatorov

[2]              https://www.vedomosti.ru/politics/articles/2019/09/09/810870-viborah-mosgordumu

[3]              https://www.vedomosti.ru/politics/articles/2019/09/19/811642-bolshinstvo-otdalo-chetvert

[4]              https://www.vedomosti.ru/opinion/articles/2019/09/10/810883-itogi-8-sentyabrya

[5]              https://www.kommersant.ru/doc/4101867

COMMENTS

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    Horst Beger 5 Jahren

    „Was ist die Mehrheit? Mehrheit ist der Unsinn;
    Verstand ist stets bei wen`gen nur gewesen…
    Mann soll die Stimmem wägen und nicht zählen;
    Der Staat muß untergehn, früh oder spät,
    Wo Mehrheit siegt und Unverstand entscheidet.“

    Aus Friedrich Schillers DEMETRIUS