Am 26. Oktober veröffentlichte die Wirtschaftszeitung RBK die Ergebnisse der vom „Institut für die Soziologie der Verwaltung“ der „Russischen Akademie für Volkswirtschaft und öffentlichen Dienst beim Präsidenten“ vom 3. bis zum 14. Oktober unter 1.200 Personen durchgeführten Umfrage über die politischen Präferenzen der Russen.[1] Die Balance des sozialen Wohlergehens der Bevölkerung hat sich in negativer Richtung entwickelt. So sind 52 % der Befragten mit der Situation im Lande unzufrieden, 45 % sind zufrieden. Fast ein Drittel (30 %) stellt fest, dass sich die finanzielle Situation ihrer Familien im vergangenen Jahr verschlechtert hat, für 19 % hat sie sich verbessert, bei der Hälfte der Befragten gab es keine Veränderung.
Aus der Verschlechterung des sozialen Wohlergehens entsteht die wachsende Nachfrage nach Veränderungen, auch bei den Präferenzen für politische Parteien. Das Interesse der Befragten an Politik ist außerhalb der aktiven Wahlperiode relativ hoch: 54 % gaben an, dass sie an Politik interessiert sind, 31 % diskutierten über die Tätigkeit der politischen Parteien in den letzten Wochen vor der Befragung, 14 % außerhalb dieser Diskussionen. 49 % bemerkten Information über die Arbeit von Parteien, am häufigsten (37 %) über die Machtpartei „Einiges Russland“.
Das derzeitige Parteiensystem verursacht jedoch eher negative Emotionen unter den Befragten. 72 % der Antworten beschreiben negative Gefühle wie Antipathie, Enttäuschung, Angst und Wut. Nur bei 38 % lösen Parteien positive Empfindungen aus wie Freude, Vertrauen, Hoffnung, Ruhe. (Die Befragten hatten bei dieser Frage bis zu zwei Antwortmöglichkeiten.)
Von den vier in der Staatsduma vertretenen Parteien sehen nur 23 % der Befragten „Einiges Russland“ als ihre Interessenvertretung an, 11 % die „Kommunistische Partei der Russischen Föderation“, 10 % die national-populistische „Liberal-demokratische Partei Russlands“ und 4 % die Partei „Gerechtes Russland“. Von den außerparlamentarischen Parteien sehen die Anliegen der Bevölkerung nur zu je 1 % durch die marktliberale Partei „Jabloko“ und die „Russische Partei der Pensionäre“ vertreten. Auf die übrigen Parteien entfallen zusammen 2 %, und 12 % fiel es schwer, die Frage zu beantworten. Für 42 % der Befragten vertritt keine politische Partei ihre Interessen. Die Parteien vertreten zu 23 % der Befragten die Interessen der Oligarchen, zu 17 % der Behörden, zu 12 % der Parteiführer, zu 10 % der Befürworter bestimmter sozialer Gruppen und zu 15 % je nach Partei unterschiedlicher sozialer Gruppen.
Die Studie zeigt eine große Nachfrage nach einer Linkswendung in der Politik. Die ideologischen Positionen einer hypothetischen Partei verteilen sich zu 41 % auf die linke und zu 34 % auf die liberale Flanke, 28 % stellen sich eine zentristische Partei vor. Auf der linken Flanke sind 22 % für einen sozial orientierten Staat (hohe Steuern und ein hohes Sozialschutzniveau) und 19 % für eine sozialistische Ideologie (Unterstützung der Arbeiter und Verstaatlichung des Reichtums). Im liberalen Lager unterstützen 17 % das Kleinunternehmertum und weitere 17 % die Rede- und Wahlfreiheit. Die Zentristen sind zu 18 % für eine patriotische Partei (Schutz der Interessen des Landes nach außen), und 10 % hängen einer konservativen Ideologie an (traditionelle Werte).
Bei den Grundwerten des Programms einer hypothetischen neuen Partei rangieren für 81 % die Wohlfahrt innerhalb des Landes und ein angemessener Lebensstandard vor der Erhaltung der Autorität des Landes in der Welt (15 %). Die Befragten wollen in erster Linie die Schaffung von Bedingungen für die Entwicklung der Wirtschaft (66 %) und nicht die Erhaltung des staatlichen Systems (20 %) und wollen mehr die Integration des Landes in die internationale Gemeinschaft (62 %) und nicht die Isolierung von der Außenwelt (21 %).
Hinsichtlich ihrer Einstellung zu den liberalen und konservativen Werten ist die Bevölkerung praktisch gespalten. Für die Hälfte (51 %) der Befragten sind der Schutz der Rechte und Freiheiten der Bürger wichtiger als traditionelle Werte und die Institution der Familien (42 %). Die ideologischen Erwartungen an eine hypothetische Partei hängen vom Alter ab. Je älter die Befragten sind, desto geringer ist die Nachfrage nach liberalen Ideen. So sprachen über das Fehlen von Parteien, welche die Redefreiheit verteidigen, 32 % der unter 25jährigen, aber nur 11 % in der Gruppe über 60.
Die ideale Partei sollte für die Erhöhung der Zahlungen, Renten und Sozialleistungen kämpfen (32 %), gegen die Korruption sein (29 %) und für Gerechtigkeit (27 %). Populär sind auch die Forderungen nach Kontrolle der Preiserhöhungen (22 %) und das Eintreten für den Schutz der Armen (21 %). Andere Charakterzüge der gewünschten Partei sind der Dialog mit der Bevölkerung (34 %) und die Rechenschaftspflicht vor dem Volk (32 %), die Nominierung einfacher Menschen bei Wahlen (21 %), die Gründung einer Partei auf Initiative der einfachen Bevölkerung (20 %), der Kampf gegen Beamte (17 %) und das Fehlen von Anhängern der Oligarchen und Beamten in ihren Reihen (15 %).
Der Direktor des 2015 gegründeten „Zentrums für wirtschaftliche und politische Reformen“ (ZEPR), Nikolaj Mironow, meint zu diesen Umfrageergebnissen, dass linke Ideen zur Norm des öffentlichen Bewusstseins geworden seien. Das gegenwärtige politische System sei stabil gewesen während es sich „mimikrierte“ unter dem sozial orientierten System, aber jetzt gebe es eine Vertrauenskrise in dieses System. „Das Volk kämpft für soziale Garantien und nicht für Menschenrechte, und deshalb werden nur jene Systeme leben, die soziale Normen deklarieren“.
[1] https://www.rbc.ru/newspaper/2018/10/26/5bd1b4a89a7947b421dc4b0e
COMMENTS
Für mich der mit einer Russin verheiratet ist und sich öfter mal im Raum Waldai und Weliki Nowgorod aufhält, kann die Unzufriedenheit der Russen nur bestätigen. Natürlich ist dies regional sehr unterschiedlich. Allerdings sehe ich auch eine Art Ohnmacht gegenüber der Politik und das gerade in der breiten Bevölkerung. Allerdings ist richtig, dass gerade die jungen Akademiker sich jetzt aktiver dagegenstemmen. Ich denke, den Russen ist eine soziale Grundsicherung wichtiger als demokratische Spielregeln im Staat. Denn eines ist sicher, der Lebensstandard ist insgesamt gerade auf dem Land sehr niedrig.