[Alexander Rahr] Trotz aller Unkenrufe zum Trotz, war das Treffen im Normandie-Format am 9. Dezember kein Misserfolg. Russland und die Ukraine haben sich, unter Vermittlung Frankreichs und Deutschlands, auf einen Stopp aller Kriegshandlungen in der Ostukraine geeinigt. Beim Folgetreffen in vier Monaten in Berlin, sollen dann die anderen Punkte des Minsker Abkommens angegangen werden: Autonomie für das abtrünnige Donbass, Wahl von Gouverneuren, Rückzug aller russischen Unterstützer aus der umkämpften Region.
Knackpunkt ist die Übergabe der Kontrolle der Grenze zwischen dem Donbass und Russland an die Regierung in Kiew. Die Ukraine fordert dies als Bedingung für die Autonomie. Russland soll sich aus den okkupierten Territorien gänzlich zurückziehen. Russland sagt Nein, denn es befürchtet Vergeltungsaktionen der ukrainischen Sicherheitskräfte gegen die Aufständischen. Moskau will Schutzmacht der russischsprachigen Minderheiten in der Ostukraine bleiben.
Wie die Bevölkerung der selbsternannten Separatisten-Republiken Donezk und Lugansk, die fünf Jahre lang dem Beschuss der ukrainischen Regierungstruppen ausgesetzt war und inzwischen größtenteils über russische Pässe verfügt, den Weg zurück in den Staatsverband der Ukraine antreten kann, ist eine der ungelösten Fragen. Gleichzeitig muss sich die Ukraine die Frage stellen, ob sie durch die Wiedereingliederung einer zutiefst prorussischen, vom Krieg traumatisierten Bevölkerung, an Stabilität und Zusammenhalt gewinnt oder verliert.
Was nicht funktioniert, ist, dass die Ukraine die Separatistengebiete zurückerhält ohne die dazugehörige Bevölkerung.
Für Russland wäre eine Autonomielösung für die Ostukraine die beste Option. Moskau braucht den Wiederaufbau der Region gar nicht einmal alleine zu stemmen. Der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft hat vorgeschlagen, einen Stabilitätspakt für den Donbass zu schaffen. Das Ausland solle sich am Wiederaufbau der kaputten Region beteiligen. Moskau und Kiew könnten sich mit gemeinsamen Investitionen für die Zukunft des Donbass‘ engagieren.
Für Russland steht die Sicherheitsfrage an erster Stelle, kein Landgewinn. Solange die Ostukrainer einen Beitritt der Ukraine zur NATO ablehnen, kann Moskau seine Sicherheitsinteressen wahren: die NATO könnte sich niemals auf die Ukraine erweitern. Der eigentliche russisch-ukrainische Konflikt wäre somit entschärft.
Die Ukraine will den abtrünnigen Gebieten eigentlich keine Autonomie zugestehen. Kiew sieht in einem solchen Schritt eine Kapitulation vor dem Feind. Auch fürchtet man in Kiew, dass in Zukunft auch andere Regionen der Ukraine eine Autonomie fordern würden. Die Herrschaftselite in Kiew will für das eigene Land keine Föderalisierung. Auch der Westen fürchtet, dass eine Föderalisierung der Ukraine Russland in die Hände spielen und die Ukraine in einen prowestlichen und einen prorussischen Teil spalten würde. Die Frage ist aber, ob diese Spaltung nicht längst akut läuft.
Die Strategie der Ukraine ist darauf gerichtet, mit Hilfe des Westens Russland zu schwächen und zur Rückgabe der okkupierten Territorien zu zwingen. Ein Grund, warum die Ukraine die Minsker Vereinbarungen nicht erfüllte, war, dass Kiew nicht an einer Aufhebung der Sanktionen gegen Russland interessiert war. Im Gegenteil: die Sanktionen sollten ständig verschärft werden, um Russland wirtschaftlich in die Knie zu zwingen.
Der neugewählte ukrainische Präsident Selenski hat, anders als sein Vorgänger Poroschenko, erkannt, dass Deutschland und Frankreich das Spiel, Russlands Wirtschaft zu beschädigen, nicht mehr mitspielten. Im Gegenteil, plötzlich standen die Regierungen in Paris und Moskau unter Druck der eigenen Wirtschaftsverbände, lokaler Politiker und der öffentlichen Meinung, die Sanktionen gegenüber Russland zu lockern. Im Westen machte sich eine Ukraine-Müdigkeit breit, auch bemängelte der Westen die fehlenden Reformen in der mit der EU assoziierten Ukraine.
Von Selenski hängt jetzt alles ab. Entweder findet er den Weg zum Kompromiss und Erfüllung des Minsker Abkommens, oder es droht eine jahrzehntelange Einfrierung des Konfliktes in der Ostukraine. Kiew hätte dann sein eigenes „Transnistrien“ – mit einer Bevölkerung, die in wenigen Jahren allesamt mit russischen Pässen ausgestattet werden würde. Über eine Autonomielösung für den Donbass hätte Selenski andererseits die historische Chance, die abtrünnige Bevölkerung des Donbass wieder für sich zu gewinnen. Dass er dies unbedingt möchte, hat er am Schluss der Pressekonferenz in Paris sehr deutlich zum Ausdruck gemacht.
Nicht zu vergessen die Rollen von Macron und Merkel. Macron will ein künftiges Europa mit und nicht gegen Russland aufbauen. Er bekräftigt die Idee eines seines berühmten Vorgängers Charles De Gaulle, der von einem Europa vom Atlantik bis zum Ural sprach. Die Ukraine ist darüber entsetzt, aber kann den französischen Präsidenten nicht umstimmen. Merkel denkt an ihr historisches Erbe. Im Innern wird sie von der Migrationskrise verfolgt. Ihr Image ist beschädigt. Sie benötigt einen großen außenpolitischen Erfolg, um ihre Kanzlerschaft doch noch zu krönen, vielleicht mit einem Friedensnobelpreis. Sie wird alles daran setzen, den Minsker Prozess, der ihre Handschrift trägt, zum Erfolg zu bringen.
COMMENTS
Die Furcht des Westens, dass eine Föderalisierung der Ukraine diese endgültig in einen prorussischen und einen prowestlichen Teil spalten würde, ist nicht unbegründet. Denn die Ukraine ist seit Jahrhunderten in eine von der russischen Orthodoxie geprägte Ostukraine und eine vom westlichen Christentum (Rom) beeinflusste Westukraine gespalten, wie der amerikanische Politologe Samuel Huntington das in seinem „Kampf der Kulturen“ von 1996 aufgezeigt hat. Darin weist er darauf hin, dass diese „historische Scheidelinie“ Europa in Osteuropa und Westeuropa spaltet, und dass jeder Versuch des Westens, diese Grenze durch die Osterweiterung der NATO zu Lasten Russlands zu verschieben, wie die USA das seit Jahrzehnten fordern und fördern, einen neuen Ost-Westkonflikt nach sich ziehen muss.
Alexander , Dein Kommentar ist ein bißchen lang und durch deine “realpolitische” porussische Argumentation nicht sehr ermutigend und eher abschreckend. Ich finde, daß die einzige realisierbare wie gesichtswahrende Lösung eine UN Peacekeeping Truppe oder OSZE-Truppe entlang den inneren wie äußeren Grenzen, so wie in Nordzypern oder Golan, wäre. Nicht schön bei mangelndem willen zur Verständigung, aber relativ friedlich.