Als Wladimir Putin im Vorfeld der soeben durchgeführten G20 Tagung Redakteure der Londoner Financial Times in den Kreml einlud, um der Welt mitzuteilen, dass er die „liberale Idee“, insbesondere den „Multikulturalismus“ für „völlig überlebt“ halte, ging ein Aufschrei der Empörung durch die westlichen Medien. Aber hat jemand genauer nach Putins Botschaft gefragt?
Elitenforscher unterschiedlichster Couleur, östliche wie der berüchtigte Alexander Dugin, westliche wie neuerlich der literarische Shooting Star Yuval Noa Harrari, oder auch bekannte Kritiker des Neoliberalismus wie der deutsche Psychologe Rainer Mausfeld haben die Vorstellung vom Ende des Liberalismus als letztem „Ismus“ nach Faschismus und Stalinismus längst populär gemacht. Das ist nicht neu. Weder im Westen, noch im Osten. Eine Umfrage der Financial Times zu ihrem aktuellen Interview ergab zudem, dass 87% der Leserschaft der Financial Times Putins Kritik an der Entfremdung der Eliten von der Basis der Bevölkerung teilten. Von den französischen Gelbwesten oder der deutschen AfD ganz zu schweigen.
So what? Die Frage kann allein sein: Was meint Putin, wenn er vom Ende der „liberalen Idee“ spricht? Warum outed er sich gerade jetzt in dieser Weise? Und wohin kann die Entwicklung führen?
Regeln entwickeln
Lassen wir zunächst Putin selbst dazu sprechen. Von seinen Gesprächspartnern gefragt, was er von der bevorstehenden G20-Konferenz erwarte, antwortet er, er wünsche sich, „dass alle Teilnehmer dieser Veranstaltung – die G20 sind heute das internationale Schlüssel-Forum für die Entwicklung der Weltwirtschaft – dass alle G20-Teilnehmer ihre Absicht bestätigen, wenigstens ihre Absicht, gemeinsame Regeln zu entwickeln, an die sie sich halten. Und dass alle ihren Wunsch zur Stärkung der internationalen Finanz- und Handelsinstitutionen unter Beweis stellen würden. Alles andere sind Details, die irgendwie mit den Hauptthehmen verbunden sind.“
Russland werde alle Vorschläge in diese Richtung unterstützen, „Obwohl es“, fügte Putin bedauernd hinzu „unter den heutigen Bedingungen schwierig ist, bahnbrechende oder wegweisende Entscheidungen zu erwarten.“
Dieser Aussage vorausgegangen war eine Antwort Putins auf die einführende Frage der Interviewer, ob die Welt heute „fragmentierter“ geworden sei, wobei sie auf die Konflikte am Persischen Golf und die Handelskriege verwiesen hatten.
Putins Antwort, unmissverständlich: „Ja, natürlich. Im Kalten Krieg – und das war eine schlechte Zeit – gab es zumindest einige Regeln, die alle internationalen Teilnehmer auf die eine oder andere Weise eingehalten haben oder zu befolgen versuchten. Jetzt, so scheint es, gibt es überhaupt keine Regeln mehr. In diesem Sinne ist die Welt fragmentierter geworden, was so wichtig wie bedauerlich ist.“
Was dann in dem Gespräch folgt, ist eine Kritik dieser Regellosigkeit. Sie durchzieht das gesamte Interview als wichtigste Linie. Im Zentrum steht dabei Putins Einschätzung der Globalisierung: China habe die Globalisierung genutzt, „um Millionen Chinesen aus der Armut zu befreien.“ Aber wie sei es mit den USA? „Dort haben die führenden amerikanischen Unternehmen profitiert. Profiteure waren die Unternehmen, ihr Management, ihre Aktionäre, ihre Partner. Die Mittelschicht hat wenig von der Globalisierung gehabt. … Die Mittelschicht war ausgeschlossen, als dieser Kuchen verteilt wurde.“ Dies habe Donald Trump erkannt für seinen Wahlkampf genutzt.
Stabilität schaffen
Auf die Frage der Interviewer, weiter hinten in dem Gespräch noch einmal nachgeschoben, wie lange Russland seinerseits gegen eine Opposition immun bleiben könne, wie sie sich in der mangelnden Akzeptanz der Eliten durch die Bevölkerung nicht nur in den USA, sondern auch im Brexit, in der AFD, in der Türkei und in der arabischen Welt zeige, verweist Putin auf die Situation, die sich aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion ergeben habe: Russland habe nach dem vollkommenen Zusammenbruch aller staatlichen und sozialen Strukturen nur stabil werden können, wenn und solange ein Wohlergehen der Menschen gewährleistet sei.
Wie lange? insistieren die Interviewer. „Je länger desto besser“, wiegelt Putin ab, setzt dann aber fort, am Ende hänge das Wohlergehen der Menschen überhaupt von Stabilität ab. Mit dem Stichwort der Stabilität hat er das Credo seiner Politik seit 2001 benannt. Auch dieses Stichwort zieht sich durch das ganze Gespräch.
Was geschehe dagegen im Westen? kehrt Putin zu den Gewinnern der Globalisierung zurück. Was in den europäischen Ländern? „Die regierenden Eliten entfernen sich vom Volk“, antwortet er selbst. Die Kluft zwischen den Interessen der Eliten und den Interessen der großen Mehrheit der Bevölkerung sei ganz offensichtlich.
Multikulturalismus unrealistisch?
Hier verortet Putin den Kern des Übels. „Und dann ist da noch die moderne sog. liberale Idee“, setzt er neu an, „die sich meiner Meinung nach völlig überlebt hat. Einige ihrer Elemente, unsere westlichen Partner geben es zu, sind einfach zu unrealistisch wie etwa der Multikulturalismus. Als sich das Problem mit der Migration zuspitzte, haben viele Menschen erkannt, dass die Politik des Multikulturalismus nicht effektiv ist, und dass die Interessen der Kernbevölkerung berücksichtigt werden müssen.“
Natürlich brauchten auch die Menschen, die aufgrund politischer Probleme in ihren Heimatländern in Schwierigkeiten geraten seien, unsere Hilfe. Das sei wunderbar. „Aber was ist mit den Interessen der eigenen Bevölkerung“, so Putin weiter, „wenn es nicht um zwei, drei oder zehn Menschen geht, sondern um Tausende, um Hunderttausende von Menschen, die in die Länder Europas kommen?“
Worauf er mit seiner Kritik hinauswolle? Man müsse etwas tun, um Chaos zu vermeiden und Ordnung zu schaffen, global und im eigenen Land. Man müsse die eigene Kultur schützen: „Haben wir vergessen, dass wir alle in einer Welt leben, die auf biblischen Werten basiert?“ so Putin. „Selbst Atheisten leben in dieser Welt. Man muss sich nicht geißeln, um zu zeigen, was für ein guter Christ, Moslem oder Jude man ist. Aber in der Seele, im Herzen, sollte es einige grundlegende menschliche Regeln und moralische Werte geben. In diesem Sinne sind traditionelle Werte stabiler, für Millionen von Menschen wichtiger, als diese liberale Idee, die meiner Meinung nach tatsächlich aufhört zu existieren.“
Auch Russland habe Probleme im mit Migranten. Aber Russland arbeite in den Ländern, aus denen diese Menschen kämen. „Wir beginnen ihnen schon dort Russisch beizubringen und arbeiten hier mit ihnen weiter. Teilweise verschärfen wir auch die Gesetzgebung. Wenn sie in unser Land kommen, respektieren Sie bitte die Gesetze des Landes, seine Bräuche, seine Kultur und so weiter.“
Die „liberale Idee“ dagegen verführe dazu nichts zu tun, alles laufen zu lassen, wie es eben komme und sei so mit den Interessen der großen Mehrheit der Bevölkerung in Konflikt geraten.
Aber Vielfalt doch wichtig?
Aber dann, Putin wäre nicht Präsident des größten multireligiösen, multikulturellen Vielvölkerstaates, wenn er auf die Frage der Interviewer, ob er in Europa Verbündete für einen Kurs der Entliberalisierung suche, nicht antwortete: „Wissen Sie, es scheint mir, dass es nie rein liberale oder rein traditionelle Ideen gegeben hat. Es gab sie wahrscheinlich in der Geschichte der Menschheit, aber das landet sehr schnell in einer Sackgasse, wenn es keine Vielfalt gibt, wenn es nur Extreme gibt. Man muss unterschiedliche Ideen und Meinungen zulassen, dabei allerdings nie die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung vergessen.“
Das gelte auch für die „liberale Idee“. Auch wenn sie ihre Dominanz verliere, bedeute das nicht, „dass sie jetzt zerstört werden sollte.“ Sie könne im Übrigen auch gar nicht zerstört werden. Mehr noch, sie habe „ein Recht zu existieren und man muss sie sogar etwas unterstützen. Aber man sollte nicht denken, dass sie das Recht auf absolute Herrschaft hat, das ist es, worüber wir sprechen.“
Es ist klar. Aus diesem Widerspruch zwischen extrem zentrifugalen Kräften und historisch gewachsenem Zentralismus Russlands wie auch dem zwischen Einbindung Russlands ins Geflecht der Globalisierung und einem eigenem russischen Weg kommt kein Putin und auch kein Nachfolger Putins heraus. Das setzt seiner Kritik der „liberalen Idee“ und der Globalisierung reale Grenzen. Sie erreicht auf diese Weise keineswegs die prinzipielle Schärfe, wie die der oben genannten Dugins, Hararis oder die der Kritiker des Neo-Liberalismus. Schließlich ist Putin nicht nur Kritiker der „liberalen Idee“, der traditionelle Werte im eigenen Lande verteidigt, er ist – und mit ihm Russland – auch integraler Bestandteil der Globalisierung. Jedenfalls sind da bei ihm keine Alternativen in Sicht.
Damit rückt die zweite oben gestellte Frage in den Blick: Warum jetzt dieser Vorstoß? Die Antwort, wage ich zu sagen, lautet: der Vorstoß ist Angebot, Notruf und Mahnung an die internationale Gemeinschaft zugleich, wie schon aus Putins oben zitierten Erwartungen an die Konferenz der G20 erkennbar. Er beinhaltet die Aufforderung sich Regeln zu geben, die ein Aufbrechen des gegenwärtigen prekären Ringens zwischen den rivalisierenden Großmächten zu einer globalen Katastrophe verhindern könnten.
Putin kann in diesem Ringen nach zwanzig Jahren schrittweiser Restauration der Staatlichkeit Russlands bis hin zu Russlands Eingreifen in Syrien und jetzt im mesopotamischen Raum, konkret im Konflikt um den Iran, wie auch bei der Neuordnung der Beziehungen zwischen den Großmächten eine wichtige Rolle als Krisenmanager spielen – wenn die beteiligten Mächte bereit sind, „Spielregeln“, nach denen die Neuordnung sich vollziehen könnte, zu akzeptieren.
Auf die Herstellung dieser Bereitschaft zielt Putins Forderung nach Einhaltung von Regeln im internationalen Verkehr der Staaten. Das geschieht zu einem Zeitpunkt höchster Spannung zwischen den bisherigen Großmächten wie auch zwischen Ihnen und aufstrebenden regionalen Kräften. Die Kritik an der mangelnden Bereitschaft zu Herstellung, zumindest Wahrung solcher Regeln ist der Inhalt von Putins Kritik an der „liberalen Idee“. Nicht mehr und nicht weniger. Alles andere sind Details, um seine Worte hier noch einmal zu benutzen. Weiter zielende Vorstellungen für die Entwicklung eines neuen Gesellschaftsbildes, die das liberale oder auch das traditionelle ablösen könnte, sind bei Putin nicht in Sicht.
Die Frage stellt sich, ob und zu welchen Kosten Russland diese Rolle halten kann oder ob es unter dieser Last von seiner eigenen notwendigen Erneuerung im Inneren abgehalten wird. Beiden Fragen wird weiter nachzugehen sein.
Kai Ehlers, www.kai-ehler.de
COMMENTS
Lieber Kai Ehlers,
danke für die Antwort, die den wesentlichen Punkt, den der Erodierung internationaler regelbasierter Ordnungssysteme, den ich auch teile, noch einmal kläsrend herausstellt.
Das Problem, das ich für Leute wie Sie und die vielen anderen sehe, die versucht haben, der Eskalation der Beziehungen entgegenzuwirken, ist die, dass der vorherrschende Antagonismus es nicht erlaubt, eine Ebene sichtbar zu machen, auf der überhaupt Verständigung möglich ist, weil dem Antagonismus auf geopolitischer Ebene auf allen Seiten eine binnenpolitische sozialpolitische Asymmetrie aller beteiligten Akteure (RF, USA und EU) entspricht, die auch aus Gründen der innenpolitischen Stabilität ein Aufweichen der äußeren Spannung nicht erlaubt.
Denn die Zwittersitutation, in der Russland sich sieht, gibt es ja innerhalb der EU und im transatlantischen Verhältnis auch.
Tragischerweise erfordern die Probleme, deren Nichtlösung uns alle ins Verderben stürzen könnten, ein Maximum an Kooperation, während in den politischen Eliten ein Minimum an Kooperationsfähigkeit vorherrscht. Und anders als in den 70ern und 80ern sind durch die Menge der Bedrohungslagen auch die Bevölkerungen so fragmentiert, dass auch hier in Westeuropa die Zivilgesellschaften apathisch wirken. Und das politische Personal wirkt so unbeholfen, ideologisch beschränkt und orientierungslos wie seit 1949 nicht mehr.
Ich frage mich, wie wir daraus kommen können – und sehe nirgendwo mehr Ansprechpartner für einen vernünftigen Dialog. Das betrifft selbst private Gespräche mit Russen. Von russischen Bekannten, die politisch von europäischer Politik und sozialpolitisch von der eigenen Regierung enttäuscht sind, höre ich nur noch auf persönlicher Ebene freundlichen Zuspruch mit dem Zusatz: „Aber Leute wie du sind doch eine Minderheit, die keinen Einfluss hat. Was sollen wir also mit Europa? Wir können nicht alleine Tango tanzen.“
Angesichts der Tatsache, dass trotz der medialen Eskalation eine so deutliche Mehrheit der Deutschen immer wieder in Umfragen aussagt, dass sie keine Konfrontation will, finde ich es unglaublich, wie hilflos wir sind. Das zeigt, meines Erachtens, wie deutlich es ist, dass die systemische Logik, auf deren Grundlage wir leben (und damit meine ich gewiss nicht die unbedingt zu bewahrenden Prinzipien wie Rechtstaatlichkeit, sondern die wirtschaftliche und wirtschaftspolitische Dynamik des entfesselten Kapitalismusmodus seit der neoliberalen Wende, die im Kern die kriegerische Eskalation als Modus der Krisenbereinigung in sich trägt), dysfunktional ist.
Ich habe aber keine Ahnung mehr, wo man ansetzen muss, um dem sinnvolle politische Aktivität entgegenzusetzen. Und dies wird noch schwerer, wenn aus Russland prominent Stimmen kommen, von denen sich rechtsextree Frustmilieus bestätigt fühlen.
Was also kann man als einzelner Mensch überhaupt tun, um dieser destruktiven Dynamik irgendetwas Positives entgegenzusetzen?
Mit freundlichen Grüßen,
Anja Böttcher
Kai Ehlers hat durchaus in sofern recht, als die Hauptlinie der Argumentation Wladimir Putins eine gerechtfertigte Kritik an dem zweizüngigen Umgang der USA und der NATO-Staaten mit internationalem Recht und den daraus geschaffenen multialateralen Institutionen betraf, worin ich ihm zustimmen kann: Wer sich je die Mühe gegeben hat, die geopolitischen Schriften des Pentagon seit der Ära Bill Clinton durchzulesen, weiß, dass die US-Machteliten parteiübergreifend die globale Hegemonie ihres Landes zum übergeordneten Ziel US-amerikanischer Politik erhoben haben, was mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln durchzusetzen sei und sich herausnehmen, unilateral gegen alle Bestimmungen des Völkerrechts hinwegzustetzen.
Als Europäerin, die klar sieht, dass dies im Zweifelsfall für uns bedeutet, als Schlachtfeld in einem großen Hegemonialkrieg der USA ausgelöscht zu werden, fehlt mir auch jedes Verständnis dafür, dass es hierzu keine Grundsatzerklärung, dass das so nicht angehen kann, seitens europäischer Staatschefs gibt. Wenn in Umfragen die Mehrheit der Deutschen erklärt – und zwar in einer Zweidrittelmehrheit, dass sie die USA als größere Friedensbedrohung ansehen als Russland, dann braucht sich angesichts des Schweigens im Wald unter allen staatstragenden Parteien zu diesem Punkt, politische Führung hier nicht wundern, dass für sie eine gravierende Vertrauenserosion tagtäglich stärker und schmerzhaft erfahrbar ist – und bleiben wird, wenn nicht endlich eine ergebnissoffene Grundsatzdiskussion geführt wird, deren Ergebnis Politiker auch hier als bindend erachten müssen.
Die Entfremdung zwischen Eliten und Bevölkerungsbasis ist hier in Europa ein Faktumn, egal wie groß hier der Aufschrei der politischen Eliten ist. Nur – die ideologische Stoßrichtung, die Wladimir Putin hier einschlägt und deren Dominanz man in den russischen Auslandsmedien auch nicht mehr leugnen kann, befeuert auf demagogische Weise rechtsextreme Tendenzen, die bundesweit nicht mehr als 10-13% der Deutschen teilen, wie die kürztliche Europawahl deutlich gezeigt hat.
Denn das Zuwanderer hier ungestraft morden, rauben, vergewaltigen und plündern dürften, ist schlichtweg eine böse Lüge. Auch RT schlachtet jedes einzelne Verbrechen, an dem ein Flüchtling beteiligt ist, inzwischen aus und insinuiert genüsslich mit Bezeichnungen, die Täter würden in der Presse mal wieder nur als „Gruppe junger Männer“ tituliert, als gäbe es insgesamt seit 2015 eine prekäre Sicherheitslage, deren Ursache nicht sachlich genannt werden dürfe.
Faktisch aber ist es so, dass die Veröffentlichung des Bundeskriminalamts über den Zusammehang von Sicherheitslage und Zuwanderung offen im Netz zugänglich ist und belegt, dass 90% der Zuwanderer mit keiner Form von Kriminalität irgendetwas zu tun haben. Von den 10%, die mindestens ein Verbrechen begangen haben, haben 4,5% mindestens eine Straftat begangen, die Gewalt impliziert, angefangen von Körperverletzung, Raub, sexueller Belästigung, sexueller Nötigigung und versuchten Tötungsdelikten, wovon in 49% Nichtzuwanderer als Opfer betroffen waren. Dies ist ein höherer Anteil an Kriminalität als unter der Stammbevölkerung, während insgesamt die dadurch verschlechterte Sicherheitslage marginal ist – und definitv Äonen besser als in den USA oder Russland. So hat sich in Deutschland die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Tötungsverbrechens zu werden, von 0,8 auf 0.9 pro 100 000 Einwohner seit 2015 verschlechtert. In den USA liegt aber die Gefahr bei 5,4, in Russland sogar bei 9,6.
Dem Eindruck, den Putin im Interview und russische Auslandsmedien in Deutschland zu erwecken versuchen, hält damit in keiner Weise der Realität stand. Denn laut RT oder Sputnik muss es den Anschein machen, als hätten von Einwanderung geplagte Deutsche allen Grund nach Russland auszuwandern, um endlich vor vergewaltigenden, raubenden, plündernden und mordenden Arabern in Sicherheit aufatmen zu können.
Ich sehe sehr klar, wo in den letzten Jahren der Russlanddiskurs westlicher Medien hetzerisch, dämonisierend und schäbig war. Ich sehe aber auch, vielleicht wegen einer auf Enttäuschung beruhenden Verhärtung der Stimmung unter russischen Entscheidungsträgern eine wenig konstruktive Stimmung inzwischen auch dort. Und wenn man in die eine Richtung nicht schweigt, sollte man es auch in die andere nicht tun, wenn dazu Grund besteht.
Zudem halte ich es für analytisch falsch, die in den letzten Jahren unter westlichen Funktionsträgern, als Komplementär zu der neoliberalen Wirtschaftsideologie, verbreitete libertäre Identitätsideologie mit dem zu verwechseln, was seit der Französischen Revolution unter Liberalismus verstanden wurde. Der Liberalismus bestand auf grundlegenden Gestaltungsprinzipien wie Rechtsstaatlichkeit, Mehrheitsprinzip und rechtlicher Egalität von Menschen, die im Westen selbst nicht mehr aufrechterhalten werden. Hier muss man sich nur einmal die totalitäre NSA-Ausspähung, die uns drei Grundrechte raubt, Phänomene wie Guantanamo und einen Pressediskurs anschauen, der in einer unheimlichen ideologischen Einheitlichkeit keine offenen Debatten über Grundsatzfragen, wie zum Beispiel der, ob die Kriege, die auch deutsche Soldaten zunehmend international führen können sollen, überhaupt auf einer Definition von Verteidigung beruhen, die mit dem Grundgesetz und dem 2+4-Vertrag übereinstimmen. Das tun sie nämlich nicht – und diese nicht nur überhaupt nicht zur Debatte stehende Tatsache, sondern vor allem der medial vorherrschende Diffamierungsdiskurs gegen jeden, der hier Einspruch erhebt, unterminieren die Vertrauenswürdigkeit aller unserer politischen Parteien ganz grundsätzlich.
Angesichts dessen, dass es so viele berechtigte Gründe gibt, warum Putin und warum russische Auslandsmedien einen so zweifelhaften Kurs fahren, obgleich es so viele ernsthafte Gründe gibt, westliche Politik zu kritisieren, liegt für mich die folgende Vermutung nahe:
Die hauptsächlichen Ursachen der wachsenden inneren Instabilit von Staaten und der internationalen Spannungen zwischen Staaten liegen nämlich in einem Weltwirtschaftssystem begründet, dass global und innerhalb der Nationen eine eklatante Asymmetrie geschaffen hat – die auch jede Entwicklung zu nachhaltigem Wirtschaften global unmöglich macht. Die abzubauen, würde nämlich für Regierungen auch bedeuten, mit einer gleichfalls global verbreiteten Klientelpolitik für eine schmale reiche Kapitalelite im eigenen Land aufzuhören. Genau wie ein Ende der Nomadisierung von Menschen zur Konsequenz hätte, dass Regierungen nicht mehr mit anderen Ländern geopolitisch Schach spielen dürfen. Denn dies ist in Afghanistan, Lybien, dem Irak und Syrien geschehen. Hauptaggressor sind auch hier die USA und ihre jeweiligen „willigen“ Mitvollstrecker, aber es machen auch andere Staaten voll mit.
Deshalb liegen die eigentlichen Konflikte zwischen den Funktionseliten – und es sind alle denkenden Menschen in den Bevölkerungen, die gemeinsam den Wahnsinn einer fatalen politischen und wirtschaftlichen Eskalationsdynamik Hand in Hand bekämpfen müssten – innerhalb ihrer Länder und über die Grenzen hinweg.
Ich sehe nach wie vor durchaus Gift in dem Interview, dass sicherlich auch einen sehr ernstzunehmenden Kern hat. Aber da, wo es destruktive Töne anschlägt, sollte man dies auch thematisieren. Denn eine Kleinigkeit ist die Förderung einer Aggression gegen Minderheiten, die diese zu 90% völlig unverdient treffen, eben auch nicht.
Liebe Anja Böttcher,
dass Putin mit seinem Satz, im Westen, Europa, speziell Deutschland könnten Ausländer ungestraft kriminell werden, über das Ziel einer zu akzeptierenden Kritik hinausschießt, ist zweifellos richtig. Dem kann man in der Tat nur die Kriminalstatistiken entgegen halten, wie Sie es tun.
Für schwerwiegender halte ich allerdings zwei andere Unwahrhaftigkeiten, oder sagen wir zurückhaltender Widersprüche in Putins Ausführungen. Das ist zum einen die Tatsache, dass er mit seiner Kritik der „liberalen Idee“ als neoliberaler Modernisierer praktisch den Esel schlägt, auf dem er selber sitzt. Das ist die zweite Tatsache, dass seine Kritik des „Multikulturalismus“ in diametralem Gegensatz zur Vielvölkerkultur Russlands steht. In beiden Fällen bleiben die benutzten Begriffe „liberale Idee“, ebenso wie „Multikulturalismus“ vage und undefiniert, für jede Interpretation offen. Bei genauem Hinhören wäre aber durchaus zu hören, dass Putin nicht von „dem“ Liberalismus spricht, von dem seit der französischen Revolution die Rede ist, sondern von der Karikatur des Neoliberalismus, die die Welt – und in besonders hässliche Weise Russland – seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion in Form der Globalisierung erlebt. Nur, wie gesagt, ist der Modernisierer Putin selbst Teil dieser Bewegung. Andererseits ist er eben Chef des multiethnischen, multikulturellen und multireligiösen Vielvölkerorganismus, der im russischen Staat zusammengefasst wird.
Es ist diese Situation Russlands, die am ehesten als Hybrid zwischen neoliberalem Kapitalismus mit nationalstaatlichem Anspruch und traditionellem Reichsorganismus auf Basis einer Jahrhunderte alten Gemeinschaftskultur zu bezeichnen ist. Putins Kritik erwächst aus diesem Widerspruch. Sie ist keine Kritik „des“ Liberalismus, ebenso wenig wie eine Verteidigung „der“ Tradition. Sie ist Ausdruck dieser Zwittersituation, in der sich Russland real befindet – und so gesehen gewissermaßen sogar naiv, geradezu volkstümlich, könnte man sagen. Ich bin dieser Variante der Kritik, die sich gegen die Übernahme „westlicher Hüte“ wehrt, jedenfalls auf meinen Wegen durch Russland im Alltag immer wieder begegnet – während man sich gleichzeitig nach westlichen Standards sehnt. Insoweit spricht Putin nur aus, was in einer großen Mehrheit der Bevölkerung lebt. Und das ist nicht neu.
Neu und wichtig dagegen ist in der Massivität dieses Interviews die Kritik Putins an der „Regellosigkeit“ der Völker- und Staatenbeziehungen und seine Aufforderung zu neuen Regeln zu kommen.
Das ist keine Kritik an „dem“ Liberalismus, sondern eben genau an seiner neoliberalen Karikatur. Und interessanterweise geht genau das, eben die Kritik man der Regellosigkeit der Völkerordnung, in der westlichen Berichterstattung zu diesem Interview vollkommen unter!
Soweit, liebe Anja Böttcher.
freundliche Grüße, Kai Ehlers