Poroschenko oder Selenskyi: Stichwahl in der Ukraine

Poroschenko oder Selenskyi: Stichwahl in der Ukraine

Ein Sieg des Polit-Neulings ist fast sicher. Wie ist es dazu gekommen?

Präsident Poroschenko steht nach dem ersten Urnengang am 31. März vor der schwer lösbaren Aufgabe, die Zahl seiner Wähler zumindest zu verdreifachen, um seinen Herausforderer Selenskyi schlagen zu können. Aber auch der Anti-Establishment-Kandidat muss seinen Anteil um 20% erhöhen, um Präsident zu werden. Über 50% haben am 31. März ihr Kreuz nicht bei einem der beiden genannten, sondern bei einem anderen Kandidaten gesetzt, die Wählerschaft ist hochgradig zersplittert. Somit stehen letztlich beide vor der gleichen Aufgabe: Wie kann die eigene Wählerbasis deutlich verbreitert werden?

Bevor es um den Wahlkampf geht, widmen wir uns einem potenziell entscheidenden Mittel, das nur dem Präsidenten offen stünde:

Die „Sonderoption“ Poroschenkos

Selenskyi erhielt am 31. März fast doppelt so viele Stimmen. Wie könnte es dem noch-Präsidenten trotzdem gelingen, Staatsoberhaupt zu bleiben?

Neben einem außerordentlich geschickten Wahlkampf hätte Poroschenko als Oberbefehlshaber noch eine weitere Option: die Nutzung oder Inszenierung einer akuten, gravierenden Sicherheitsgefährdung der Ukraine. In diesem Fall könnte die Stichwahl bspw. ausgesetzt werden.

Es mag ungerecht oder weit hergeholt klingen, Poroschenko oder seinem Umfeld solche möglichen Überlegungen unterzuschieben. Aber es waren immerhin drei ehemalige Präsidenten der Ukraine (und viele andere), die dem Staatsoberhaupt genau dies unterstellten, als er nach dem Kertsch-Zwischenfall im November 2018 die Verhängung des Kriegsrecht beantragte (s. https://www.heise.de/tp/features/Der-ukrainische-Praesidentschaftswahlkampf-Die-Kandidaten-4353862.html)

Warum ist es in diesen Wochen vor der Stichwahl zu keiner Krise gekommen? Hierfür gibt es zwei ausschlaggebende Ursachen:

  1. Falls der Kreml für den Vorfall in der Meerenge von Kertsch die Hauptverantwortung tragen sollte (ich lasse das hier offen), dann wäre es ein Eigentor gewesen. Die Krise führte zu steigenden Umfragewerten für Poroschenko. Russland wird daraus gelernt haben (falls das erforderlich gewesen sein sollte) und sich selbst und Heißsporne unter den Rebellen im Donbas zurückhalten, um nicht Wasser auf Poroschenkos Mühlen zu leiten.
  2. Der Präsident konnte sich bereits im Spätherbst nur mit großer Mühe und lediglich teilweise durchsetzen. Die Erfüllung seiner zentralen Forderung, die Aussetzung der Präsidentschaftswahl, wurde ihm versagt. Bereits im Spätherbst stieß sein Ansinnen auf erbitterten Widerstand. In diesen Wochen hätte aus Poroschenkos Sicht die Gefahr bestanden, sich mit einem erneuten Versuch lächerlich zu machen. Die Erfolgschancen einer „Sonderoption“ wären mehr als fraglich.

Zudem dürften westliche Regierungen Poroschenko davon abgeraten haben, sich als Hasardeur zu versuchen.

Womit wir beim Thema der Rolle ausländischer Mächte wären. Protegieren sie einen der beiden Kandidaten?

Das Ausland und die Stichwahl

Das Verhältnis zwischen der Moskauer und der Kiewer Führung ist vollends zerrüttet. Eine Abwahl Poroschenkos würde Moskau grundsätzlich begrüßen. Aber Selenskyi? Angenommen, er ist tatsächlich ein Anti-Establishment-Kandidat: Könnten nicht viele Russen zu der Ansicht gelangen, dass die Ukraine ein nachahmenswertes Beispiel liefert? Dies war sie unter Poroschenko nicht. Eine solche Perspektive wäre dem Kreml nicht Recht. Oder angenommen, Selenskyi ist v.a. ein Werkzeug des Oligarchen Kolomoyskyi, was die Mehrheit der russischen Elite und Bevölkerung vermutet: Kolomoyskyi genießt in Russland einen Leumund, wie er schlechter nicht sein kann.

Eine erneute Amtszeit Poroschenkos will der Kreml nicht, aber Selenskyi weckt zu starke Gefühle des Unwohlseins, als dass man sich für ihn engagieren möchte. Kurz und gut: Russland hält sich heraus.

Und der Westen? Eine erneute Präsidentschaft Poroschenkos würde eine gewisse Erleichterung, aber keine Freude auslösen. Man weiß bei ihm im Gegensatz zu Selenskyi, woran man ist, was aber nicht zu Begeisterung führt.

Es gibt hilfreiche Gesten des Westens für Poroschenko. Hierzu zählt sein Empfang im Bundeskanzleramt am 12. April. Westliche Regierungen und Medien halten sich mit ihrer Parteinahme aber vergleichsweise zurück. Von US-Seite kommen deutlichere Signale. Kurt Volker, der mächtige Ukraine-Sondergesandte Washingtons, sagte am 4. April: „Die ukrainische Öffentlichkeit steht vor einer Entscheidung. Will sie jemanden, der sich nur gegen das Establishment richtet (…)? Oder will sie jemanden, der in einigen Bereichen enttäuschend gewesen sein könnte, aber mehr für Reformen getan hat als irgendjemand sonst in der Ukraine in den vergangenen 20 Jahren und der gegen Putin Stand hält?“

So klingt eine Wahlempfehlung.

Die Weltmacht hat Interesse an einer sehr „russlandkritischen“ Ukraine, um den Kreml unter Druck zu setzen. Poroschenko wäre hierfür ein Garant, von Selenskyi kann man das so nicht sagen. Man könnte ihn gar der Sympathie für den großen Nachbarn verdächtigen. Diese Ansicht wird bspw. in einem Beitrag der „Foreign Policy“ geäußert (https://foreignpolicy.com/2019/04/01/ukraines-tv-president-is-dangerously-pro-russian/). Die Zeitschrift gehört neben der „Foreign Affairs“ zu den meinungsbildenden Medien der außenpolitischen Elite, nicht nur in den USA. Der Artikel analysiert Selenskyis Rolle als Schauspieler in der Fernsehreihe „Diener des Volkes“, in der er einen Provinzler spielt, der zum ukrainischen Staatsoberhaupt wird. „Foreign Affairs“ weist darauf hin, dass Russland in der Serie gar keine Rolle spielt. Dafür jedoch würde der Westen gegenüber dem Diener-des-Volkes-Präsidenten Druck ausüben, dem dieser aber Stand hält. Nicht Moskau, sondern Brüssel bzw. Washington ist der Bösewicht in der wohl beliebtesten TV-Reihe der vergangenen Jahre.

Die „Sonderoption“ ist für Poroschenko nicht umsetzbar, Russland hält sich raus und die Unterstützung des Westens für den noch-Präsidenten hält sich in Grenzen. Nach dieser Klärung steht jetzt im Zentrum …

Der Wahlkampf

Julija Timoschenko, Juri Boyko und Anatolij Hryzenko erzielten beim ersten Wahldurchgang am 31. März zusammengenommen gut 32%. Das waren mehr als der Newcomer erhalten hatte und mehr als der doppelte Prozentsatz Poroschenkos. Beide Stichwahlkandidaten müssen versuchen, die genannten drei ehemaligen Prätendenten und ihre Anhänger für sich zu gewinnen.

Poroschenko besitzt hierfür weitaus schlechtere Chancen. Er hatte sein Wahlergebnis am 31. März gedopt, indem

– Gegenkandidaten mit haltlosen Anschuldigungen und wiederholten Besuchen des Geheimdienstes und der Generalstaatsanwaltschaft überzogen wurden;

– die Medienberichterstattung den Präsidenten bevorzugte;

– Fakekandidaten wie Juri Timoschenko sowie Manipulationen bei der Stimmenauszählung den Wählerwillen zwar nicht entscheidend, aber doch relevant verzerrten (https://www.heise.de/tp/features/Die-Ukraine-am-Tag-der-Praesidentschaftswahlen-4356462.html).

Julija Timoschenko, Juri Boyko, Anatolij Hryzenko u.a. sind verbittert. Alle drei schlossen aus, für den noch amtierenden Präsidenten zu stimmen. Ihre Wähler sehen es ähnlich. Nach einer Umfrage von Anfang April wollen viermal so viele Anhänger Timoschenkos für Selenskyi als für Poroschenko stimmen. Bei Boykos Wählern lautet die Relation gar 17:1.

Der bisherige Präsident müsste seine Wahlkampfstrategie grundlegend ändern, um sich auch nur eine kleine Chance auf den Sieg zu sichern. Er müsste durch aufsehenerregende Maßnahmen seinen Reformwillen dokumentieren. Und der Mehrheit der Bevölkerung, die seine Russland- und Ukrainisierungspolitik ablehnt, goldene Brücken bauen.

Was tut er?

Poroschenko trifft sich am 6. April mit Vertretern der Zivilgesellschaft und macht einige Ankündigungen. Nun ja: Wenige Tage zuvor hat des „Nationale Antikorruptionsbüro der Ukraine“ bekannt gegeben, dass in Fällen illegaler Bereicherung nicht mehr ermittelt werde. Überhaupt nicht mehr.

– In dieses Schema passt auch eine neue Wendung im Fall um die „Privat Bank“ (https://www.heise.de/tp/features/Die-Ukraine-vor-den-Praesidentschaftswahlen-4347522.html): Am 18. April hat ein ukrainisches Gericht entschieden, dass die staatliche Übernahme illegal gewesen sei. –

Vielleicht aber reicht Poroschenko zumindest den Kritikern seiner Russland- und Ukrainisierungspoltik die Hand? Nein, im Gegenteil:

Ab 9. April steht Poroschenkos Wahlkampf völlig unter dem Motto: „Ich oder Putin!“ Auf unzähligen Plakaten und Flugblättern werden beide abgebildet. Dabei untersagt die ukrainische Gesetzgebung die Nutzung von Fotos ohne die Zustimmung des Betroffenen. Zudem dürfen keine Abbildungen ausländischer Staatsbürger im Wahlkampf verwendet werden.

Poroschenkos Zentrale antwortete auf derartige Vorhaltungen: „Natürlich haben wir Putin nicht um Erlaubnis gefragt. Putin steht außerhalb des Gesetzes.“

Der ukrainische Präsident betonte, wer gegen ihn sei, unterstütze Putin. Anatolij Hryzenko bezeichnete dies als Missachtung der 85% der Wähler, die im ersten Wahlgang andere Kandidaten gewählt hätten. Hryzenko erklärte, der Präsident dürfe das Land nicht spalten, dies jedoch tue Poroschenko.

Hryzenko hatte am 31. März 7% der Stimmen erzielt. Er steht mit seiner ukrainisch-patriotischen und wirtschaftsliberalen Orientierung Poroschenko weltanschaulich im Grunde nahe.

Der noch-Präsident steht vor einer demütigenden Niederlage. Er nutzt Prärogative, die er als Präsident besitzt, um das Blatt noch zu wenden:

Entlassung vor Gouverneuren

Er feuert die Gouverneure von Odessa und Cherson, in denen zusammengenommen etwa neun Prozent der ukrainischen Bevölkerung leben. In beiden Regionen hatten Poroschenko am 31. März besonders schlecht abgeschnitten. Die Entlassungen sollten die anderen Gouverneure dazu animieren, doch bitte für ein günstiges Poroschenko-Ergebnis am 21. April Sorge zu tragen.

Aber die Elite wendet sich erkennbar von Poroschenko ab und Selenskyi zu.

Ende März lauteten die Voraussagen, dass Selinskiy die Stichwahl gegen Poroschenko mit gut 20 % Vorsprung gewinnen werde. Nach einer am 11. April veröffentlichten Umfrage könnte Selenskyi mit 71,4% der Stimmen rechnen. Ein anderes Institut kam am 16.4. auf 74%. Dabei sind sich die Anhänger des Newcomers noch sicherer, wirklich zur Wahl zu gehen als diejenigen des bisherigen Präsidenten. Der Vorsprung hat sich innerhalb weniger Wochen von 20% auf über 40% erhöht. Wie ist dies Selenskyi gelungen?

Der Wahlkampf des Anti-Establishment-Kandidaten

Selenskyi ist seinen Botschaften treu geblieben: Anti-Establishment, Ablehnung der Ukrainisierung, „versöhnen statt spalten“. Poroschenko vertritt genau das Gegenteil.

Zudem ist Selenskyi denjenigen entgegengekommen, denen unbehaglich ist, einem derartigen Polit-Novizen mit irgendwie russlandfreundlichen Neigungen ihre Stimme zu geben. Also umgibt er sich mit unbescholtenen alten Hasen und findet kremlkritische Worte.

Er relativiert aber nicht die genannten Kernbotschaften, sondern bleibt glaubwürdig. Die wachsende Schar seiner „unbescholtenen alten Hasen“ produziert und veröffentlicht zunehmend Eckpunkte für die Präsidentschaft Selenskyis. Der Kandidat selbst äußert sich aber weiterhin nur sparsam zu inhaltlichen Fragen. Die Mehrheit der Ukrainer wäre befremdet bis amüsiert, falls Selenskyi den Experten mimen wollte. Das Amateurhafte ist authentisch, ja, wird geradezu erwartet. Die Mehrheit hat von der jahrzehntelangen Herrschaft der (vermeintlichen) Fachleute genug.

Selenskyi spielte in der beliebtesten ukrainischen Serie den Dorfschullehrer Holoborodko, der zum Präsidenten gewählt wurde.

Ich gebe folgend die Filmpassage wieder, die Holoborodkos Vereidigung schildert:

„Er legt seine Hand auf die Bibel und beginnt seine im Voraus auf Ukrainisch vorgefertigte Rede. Er zögert, erinnert sich an den Rat seiner Schüler, eine ehrliche Rede zu seiner Amtseinführung mit seinen eigenen Worten zu halten. Holoborodko wendet seinen Blick vom Manuskript ab und wechselt ins Russische (!):

‚Sie wissen, ich bin ein einfacher Geschichtslehrer. Ist das nicht interessant – ein Geschichtslehrer macht Geschichte. Ist das nicht lustig? An dieser Stelle erwartet man von mir, Ihnen eine ganze Menge zu versprechen. Aber das werde ich nicht. Zunächst einmal wäre es unehrlich und vor allem habe ich keine Ahnung von diesen ganzen Sachen. Aber das ist nur jetzt so. Ich werde es herausbekommen. Und ich weiß eine Sache: Ich habe so zu handeln, dass ich meinen Kindern ohne Scham in die Augen sehen kann. Und meinen Eltern. Und Ihnen allen.“

Diese und ähnliche Szenen haben Millionen Ukrainer vor Augen, wenn sie Selenskyi sehen. Darauf ist sein Wahlkampf angelegt. Poroschenko gelingt es nicht, seinen Widersacher inhaltlich zu stellen. Seine Versuche, Selenskyi in dessen ureigenem Metier, den sozialen Medien, in die Defensive zu bringen, wirken unbeholfen.

Selenskyi hatte im März 2,7 Mio. „Follower“ auf Instagram. Mitte April waren es 3,3 Mio., mehr als die britische Premierministerin, die deutsche Bundeskanzlerin, der französische Präsident und der italienische Ministerpräsident zusammen genommen. Poroschenko hat 234.000 Follower.

Schmutzkampagnen

Poroschenko erklärte am 15. April, sein Gegenkandidat könnte drogenabhängig sein. Er betonte, hierfür keine Beweise zu besitzen, ging dann aber im Detail darauf ein, wie gefährlich eine solche Person an der Staatsspitze wäre. Zeitgleich wurden die sozialen Medien mit Bildern geflutet, die Selenskyi als Kokain-schniefenden Niemand zeigten.

Im Fernsehsender „1+1“ wiederum wurde Poroschenko beschuldigt, in den Tod seines älteren Bruders verwickelt zu sein. Nach offiziellen Angaben starb dieser bei einem Autounfall. „1+1“ gehört dem Oligarchen Kolomoyskyi. Selenskyi arbeitet eng mit dem Sender zusammen. Ist der Kandidat somit ein Werkzeug des Oligarchen?

Ich habe folgenden Eindruck gewonnen: Kolomoyskyi stützte Selenskyi, um seinen Feind Poroschenko in die Ecke zu treiben und nach Möglichkeit Einfluss auszuüben. Nunmehr sieht es eher danach aus, dass die Realität dem Filmskript folgen könnte: Holoborodko, in der Serie „Diener des Volkes“, profitierte wider Willen von der Unterstützung dunkler Seilschaften bei seinem Weg in den Präsidentenpalast. Dann aber räumte er auf. Darauf zumindest setzen Millionen Ukrainer ihre Hoffnungen.

Während der gesamten Wahlkampfwochen gab es kein Rededuell der beiden Kandidaten, dabei sind die Kandidaten der Stichwahl hierzu gesetzlich verpflichtet:

Öffentliche Debatte

Poroschenko trat durchweg für ein frühes Datum ein. Er hoffte, seinen Konkurrenten bloßstellen zu können. Selenskyjs Team jedoch bestand von Anfang an auf dem 19. April, dem spätestmöglichen Termin. Selenskyi forderte, die Debatte solle im Kiewer Olympiastadium stattfinden, dem größten des Landes. Poroschenko willigte hierauf und in Bezug auf einige weitere Forderungen ein. Die Meinungsunterschiede über das Datum des Rededuells wurden aber nicht beigelegt.

Poroschenko bestand schließlich auf dem Nachmittag des 14. April. Er versammelte sich mit Anhängern vor dem Stadium, in dem aber eine andere Großveranstaltung im Gange war. So musste er mit den Seinen zwei Stunden draußen ausharren. Selenskyi erschien nicht. Der noch-Präsident konnte schließlich mit seinen Anhängern in das Stadium einziehen, das sie aber nur sehr spärlich füllen konnten. Das Staatsoberhaupt „wartete“ eine Stunde auf der Bühne, aber Selenskyi blieb – wie zu erwarten war – immer noch aus. So nutzte er die Zeit für eine Wahlkampfrede und eine Pressekonferenz.

Poroschenko ist dabei, zur Lachnummer zu werden.

Der Politiker erklärte sich am 16. notgedrungen mit dem 19. April einverstanden. Die Uhrzeit aber blieb strittig. Der Präsident wollte 16 Uhr, Selenskyi bestand auf 19 Uhr. Poroschenko drohte zunächst mit der Absage, gab dann aber nach.

Dem Neuling ist das Kunststück gelungen, auch in dieser Frage die Agenda zu bestimmen.

Der Schlagabtausch am Abend des 19. April war emotional, Poroschenko kämpferisch gestimmt. Er hat Selenskyi keine entscheidende Niederlage beibringen können.

Poroschenkos letzte Chance?

Noch vor wenigen Wochen ging eine Mehrheit der Ukrainer vor einer erneuten Amtszeit des jetzigen Präsidenten aus. Obwohl ihm Selenskyi in den Umfragen weit voraus lag. Die Bürger erwarteten offensichtlich Wahlfälschungen. In großem Umfang hat es sie am 31. März nicht gegeben (https://www.heise.de/tp/features/Die-Ukraine-vor-einer-Richtungsentscheidung-4359016.html).

Unregelmäßigkeiten waren immerhin so verbreitet, dass 17% der Befragten angaben, Fälle von Stimmenkauf zu kennen. Das Misstrauen gegenüber der Kiewer Führung ist so hoch, dass Anfang April 39% massive Wahlfälschungen am 21. April erwarteten.

Ich vermute, dass Unregelmäßigkeiten bei der Stichwahl im Vergleich zum ersten Wahlgang am 31. März  weiter zurückgehen werden:

– Die Gouverneure möchten nicht Gehilfen eines Kandidaten sein, der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit abgewählt wird.

– 570.000 Anhänger Selenskyis haben sich bereit erklärt, den 21. April als Wahlbeobachter zu verbringen.

– Der mit Poroschenko verfeindete Innenminister sowie Julija Timoschenkos Partei, die in weiten Teilen des Landes über funktionsfähige Strukturen verfügt, werden ein wachsames Auge haben.

Nach einer am 11. April veröffentlichten Umfrage erwarteten nur noch 17% eine Wiederwahl des amtierenden Präsidenten. Nach einer anderen Befragung waren es am 16. April nur noch 14%.

Alles deutet auf den Sieg Selenskyis hin. Und sie wäre tatsächlich eine große Chance, allein aus folgendem Grund: In den vergangenen fast 30 Jahren wechselten sich Eliten ab, die entweder – angeblich – „pro-westlich“ oder – angeblich – „pro-russisch“ waren. Dabei kochten sie nur ihr eigenes Süppchen, das Land blieb im Sumpf stecken und die Führung ließ sich von ihren jeweiligen Patronen in Moskau, Washington oder Brüssel alimentieren. Wobei dann jeweils Milliarden auf Konten ukrainischer Oligarchen in einem Steuerparadies und nicht etwa in der Ukraine landeten.

Die Einteilung in „pro-irgendeiner-Himmelsrichtung“ spaltet die Ukraine und lenkt von den Machenschaften korrupter Eliten ab. Selenskyi wäre der erste Präsident der Ukraine, der sich nicht als „pro-westlich“ oder „pro-russisch“ bezeichnen lassen möchte. Er entzieht sich dem Muster. Das ist ein Segen.

[Chistian Wipperfürth]

Dieser Beitrag erschien am 19. April zunächst bei https://www.heise.de/tp/

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