Putins Bericht zur Lage der Nation 2021Schneider, Dr. Lic. Eberhard © Schneider

Putins Bericht zur Lage der Nation 2021

[Eberhard Schneider] Am 21. April 2021 erstattete der russische Präsident Wladimir Putin knapp anderthalb Stunden lang seinen jährlichen Bericht zur Lage der Nation, zu dem die Verfassung ihn verpflichtet. Er sprach diesmal nicht im Georgensaal des Kreml, sondern in der großen Ausstellungshalle auf dem Manegenplatz hinter dem Kreml. Jeder Teilnehmer war vorher aufeinanderfolgend dreimal getestet worden, nur vereinzelt wurden von den eng sitzenden Teilnehmern Masken getragen. Putin berichtete der Föderalversammlung (Staatsduma und Föderationsrat), der Regierung, den Leitern des Verfassungsgerichts und der Obersten Gerichte, den Gouverneuren, den regionalen Parlamentspräsidenten, den Leitern der traditionellen Konfessionen und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Auch Ärzte, Rettungssanitäter und Krankenschwestern waren in der Halle.[1]

Der Präsident widmete seine Botschaft, wie er eingangs ausführte, hauptsächlich „inneren Themen“, im September wird schließlich die Staatsduma neu gewählt. „Natürlich müssen ein paar Worte zu auswärtigen Angelegenheiten gesagt werden, buchstäblich ein paar Worte zu Sicherheitsfragen.“

Gesundheit

Dieses Thema nahm fast ein Fünftel des Berichts ein, was zeigt, dass die Pandemie in Russland noch nicht überwunden ist. Putin verkündete mit Stolz, dass Russland jetzt über „drei zuverlässige Impfstoffe gegen das Coronavirus“ verfügt. Er appellierte „an alle Bürger Russlands, sich impfen zu lassen“, was wohl ein Hinweis auf eine weitverbreitete Impfskepsis ist. Wie ernst die Lage war und vielleicht mancherorts noch ist drückt dieser Satz aus: „In Spitzenzeiten der Krankenhausarbeit mussten die Ambulanzen die geplante Aufnahme von Patienten reduzieren oder sogar aussetzen.“ Er forderte das Gesundheitsministerium auf, bis zum 1. Juli die „Programme für medizinische Untersuchungen und vorbeugende Untersuchungen zu erweitern und vollständig für Menschen jeden Alters einzuführen“. Gemeint sind wohl Testprogramme. Im Falle einer neuen Infektion, die so gefährlich ist wie das Coronavirus oder mehr, will Putin, dass innerhalb von vier Tagen bereits ein eigenes Testsystem entwickelt wird und in kürzester Zeit ein wirksamer inländischer Impfstoff. Dafür gab er einen Zeitraum bis 2030 vor. In den nächsten drei Jahren werden weitere 5.000 neue Krankenwagen in ländliche Gebiete, städtische Siedlungen und Kleinstädte geschickt werden, wodurch die Krankenwagenflotte fast vollständig erneuert werden kann.

Bis Ende dieses Jahres soll das Programm verlängert werden, wonach Bürger 20 % der Reisekosten zu einem Aufenthalt in einem Sanatorium zurückerhalten.

Der Präsident verwies auch auf die negativen demografischen Trends, die sich durch die Pandemie verschärft haben, und erklärte es daher zu einer Priorität, die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen in Russland bis 2030 auf 78 Jahre zu verlängern.

Wirtschaft

Putin räumte ein, dass Russland vor einem „enormem Preisanstieg“ steht, der das „Einkommen der Bürger verschlingt“. Doch „niemand sagt, dass wir die Preise per Richtlinie festlegen werden“. Die Lösung sieht er – ohne sie zu spezifizieren – darin: „Es gibt Marktregulierungsmechanismen, die nur rechtzeitig und in der erforderlichen Menge eingesetzt werden müssen und einer bestimmten wirtschaftlichen und sozialen Situation entsprechen.“

Jedes Jahr sollen 120 Mio. m² Wohnraum bereitgestellt werden. In naher Zukunft wird ein Programm von Konzessionskrediten für den Bau und den Wiederaufbau von Hotels und anderer touristischer Infrastruktur gestartet. Der Zinssatz für solche Kredite wird für 15 Jahre berechnet und beträgt drei bis fünf Prozent.

Im Juli soll das Verfahren beginnen, alle übermäßigen Beschränkungen im Bereich der Währungskontrolle für Exporteure zu beseitigen.

Soziales

Im August – einen Monat vor der Parlamentswahl – sollen arme Familien mit Kindern einmalig 10.000 Rubel (110 €) erhalten. Ab 1. Juli sollen Kinder zwischen 8 und einschließlich 16 Jahren, die allein großgezogen werden, monatliche Zahlungen von durchschnittlich 5.650 Rubel (62 €) bekommen. Ferner schlug Putin vor, eine monatliche Zahlung für Frauen vorzusehen, die in den frühen Stadien der Schwangerschaft und in einer schwierigen finanziellen Situation registriert sind; landesdurchschnittlich sind das monatlich 6.350 Rubel (70 €). Außerdem schlug Putin vor, Familien, in denen Kinder im schulpflichtigen Alter aufwachsen, eine weitere Pauschalzahlung für 10.000 Rubel (110 €) für alle Schulkinder zu leisten. Zudem schlug Putin vor, dass Kindern 50 % der Kosten für Sommercamps erstattet werden.

Umwelt

Der Präsident verlangte neue umfassende Ansätze für die Entwicklung von Energie, einschließlich neuer Lösungen auf dem Gebiet der Kernenergieerzeugung sowie in so vielversprechenden Bereichen wie Wasserstoff und Energiespeicherung. Bis 2024 soll in den zwölf größten Industriezentren des Landes das Volumen der schädlichen Emissionen in die Atmosphäre um 20 % sinken. Putin erwartet, dass in den nächsten 30 Jahren das akkumulierte Volumen der Netto-Treibhausemissionen in Russland geringer sein dürfte als in der Europäischen Union. Bereits in diesem Jahr soll ein Mechanismus für die erweiterte Haftung von Herstellern und Importeuren für die Entsorgung ihrer Waren und Verpackungen eingeführt werden.

Bildung

Bis Ende 2024 sollen 1.300 neue Schulen gebaut werden, in denen mehr als eine Million Kinder lernen können. Darüber hinaus sollen in vier Jahren mindestens 16.000 Schulbusse gekauft werden. Ferner schlug der Präsident vor, in den nächsten zwei Jahren weitere 10 Mrd. Rubel (110 Mio. €) für größere Reparaturen und die technische Ausstattung der Pädagogischen Hochschulen bereitzustellen. Außerdem möchte Putin, dass in den nächsten drei Jahren weitere 24 Mrd. Rubel (264 Mio. €) für die Renovierung von Kulturhäusern, Bibliotheken und Museen in ländlichen Gebieten sowie in kleinen historischen Städten Russlands verfügbar gemacht werden. Zudem kündigte Putin die Einrichtung eines „Präsidentenfonds für kulturelle Initiativen“ an.

In den nächsten zwei Jahren sollen 45.000 weitere budgetfinanzierte Studienplätze an Universitäten geschaffen werden, 70 % davon in den Regionen. In diesem Jahr erhalten mindestens hundert Universitäten in der Mitgliedsgruppe der föderalen Zuschüsse 100 Mio. Rubel (1,1 Mio. €) für die Eröffnung von Technologieparks für Studenten, für Gründerzentren für Unternehmen, für die Aktualisierung der Bildungs- und Laboreinrichtungen sowie für Schulungsprogramme. Bis 2024 wird Russland 1. 640 Mrd. Rubel (18,2 Mrd. €) aus dem föderalen Haushalt für zivile Forschung einschließlich der Grundlagenforschung bereitstellen.

Regionen

Der Präsident forderte die Regierung auf, bis zum 1. Juli Vorschläge vorzulegen, um die langfristige Tragfähigkeit der regionalen und kommunalen Finanzen sicherzustellen und um die Unabhängigkeit der Regionen zu stärken. Zunächst soll den Regionen mit einer hohen Handelsverschuldung geholfen werden. Deshalb schlug Putin vor, den Teil der Handelsschulden einer Region, der mehr als 25 % ihrer eigenen Einnahmen ausmacht, durch einen Budgetkredit zu ersetzen, der bis 2029 fällig ist. Kredite, die zur Bekämpfung der Pandemie aufgenommen wurden, werden umstrukturiert durch die Verlängerung der Rückzahlung bis 2029.

Für den Aufbau der lokalen Infrastruktur können staatliche Darlehn in Anspruch genommen werden. Bis 2023 sollen 500 Mrd. Rubel (5,5 Mrd. €) für diesen Zweck zur Verfügung gestellt werden. Dabei gilt: Je weniger Schulden eine Region hat, desto mehr Infrastrukturkredite kann sie in Anspruch nehmen. Darüber hinaus sollen Einsparungen aus dem Nationalen Wohlfahrtsfonds für die Modernisierung und den Ausbau wichtiger Straßen und Eisenbahnstrecken im Lande bereitgestellt werden. So soll die Autobahn Moskau-Kasan bis 2024 fertiggestellt und dann bis Jekaterinburg verlängert werden. Entsprechende Pläne soll die Regierung bis Juli vorbereiten.

Außenpolitik

Zum Thema Außenpolitik führte Putin aus, dass Russland eine friedliche Außenpolitik verfolge und bereit sei, richtige Beziehungen zu entwickeln, selbst zu den Staaten, die eine negative Haltung dazu haben. Russland habe aber seine eigenen vitalen Interessen und werde sie entschlossen verteidigen. Russland werde von anderen Staaten konfrontiert, deren Politik von einer irrationalen Feindseligkeit gegenüber Moskau geleitet sei, wobei beispielsweise drastische Methoden eingesetzt werden, einschließlich Mordanschlägen, die Inszenierung interner Staatsstreiche sowie groß angelegter Cyberangriffe. Russlands internationale Agenda ziele in erster Linie auf die pragmatische Entwicklung der Zusammenarbeit und der wirtschaftlichen Integration innerhalb der Eurasischen Wirtschaftsunion (Russland, Belarus, Armenien, Kasachstan, Kirgisien), der Shanghaier Kooperationsorganisation (Russland, Belarus, Kasachstan, Kirgisien, Tadschikistan, Usbekistan, China, Indien, Pakistan) und der BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, Südafrika).

Putin warnte, ohne Namen zu nennen, davor, “rote Linien in Bezug auf Russland“ zu überschreiten. „Und wo das sein wird, werden wir in jedem Einzelfall selbst bestimmen.“ Normalerweise macht eine solche Warnung nur Sinn, wenn die rote Linie vorher markiert wird, um ihre Überschreitung zu verhindern. Russland werde auf die Verletzung der roten Linien „schnell, asymmetrisch und scharf“ reagieren. „Die Organisatoren von Provokationen, welche die grundlegenden Interessen unserer Sicherheit bedrohen, werden ihre Taten so bereuen, wie sie lange Zeit nichts bereut haben.“

Eine solche rote Linie könnte angesichts des jüngsten massiven russischen Truppenaufmarsches an der ukrainischen Grenze und auf der Krim von über 100.000 Soldaten die vor kurzem vom ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskij ins Spiel gebrachte NATO-Mitgliedschaft der Ukraine sein. Die ist meines Erachtens illusorisch, da kein Land in die NATO aufgenommen werden kann, das auf seinem Territorium in kriegerische Handlungen von Separatisten mit militärischer Unterstützung des Nachbarlandes verwickelt ist (Ost-Ukraine) und dessen Grenzen nicht geregelt sind. So wird die Krim von Kiew weiterhin als zur Ukraine gehörig betrachtet.

Putin erklärte nicht, dass Russland die separatistischen Gebiete in der Ost-Ukraine als Staaten anerkennt, obwohl das unter Umständen erwartet werden konnte angesichts der Entwürfe für drei Briefe an Putin, die der Führer der „Volksrepublik Donezk“ (russ. abgekürzt DNR), Denis Puschilin, vorbereitet und unterschrieben hatte.[2] In der ersten Option wird um eine militärische Unterstützung der „DNR“ durch Russland gebeten. Die zweite Option beinhaltet die Akzeptierung der „DNR“ als Teil Russlands. Laut der dritten Option soll Russland nach der Anerkennung der Unabhängigkeit der „DNR“ ein Abkommen über Freundschaft und Zusammenarbeit mit ihr schließen. Meines Erachtens möchte Putin vielmehr, dass die separatistischen Gebiete voll in die Ukraine integriert werden unter Beibehaltung ihrer bisherigen Führer mit eigener Gerichtsbarkeit und Polizei, um permanent auf Kiew einwirken zu können und so die Ukraine mittelfristig auf einen russlandfreundlichen Kurs zu bringen.

Sicherheit

Die in seinem Bericht zur Lage der Nation vor drei Jahren vorgestellten neuen strategischen und taktischen Raketensysteme[3] kommen entweder in Dienst oder sind bereits in den Streitkräften – so Putin – eingeführt. Der Sättigungsgrad der Streitkräfte mit modernen Waffensystemen habe bereits 75 % erreicht (88 % bei der nuklearen Triade, das sind die bodengestützten, seegestützten und luftgestützten Raketenabschusssysteme). Das Hyperschall-Gleitfahrzeug Awangard ist schon in Betrieb genommen worden, das Sarmat-System (schwere Interkontinentalrakete) soll bis Ende 2022 zum Einsatz kommen. Die Zahl der Kinschal-Systeme (Überschallraketenkomplex) nehme zu, und die Zirkons (schiffgestützter Hyperschall-Seezielflugkörper) werden sich bald anschließen.

[1]              http://kremlin.ru/events/president/news/65418

[2]              https://zn.ua/ukr/POLITICS/hlava-dnr-hotuje-tri-varianti-zvernennja-do-putina.html

[3]              Vgl. meine Kolumne vom März 2018.

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