Rezension: Georgien zwischen Eigenstaatlichkeit und russischer OkkupationUnkauf, Urs 2017 bild © Unkauf

Rezension: Georgien zwischen Eigenstaatlichkeit und russischer Okkupation

[Urs Unkauf] Georgien: Selbstverortung und Fremdwahrnehmung im Spannungsfeld zwischen Ost und West

Die georgisch-russischen Beziehungen sind in den zurückliegenden Jahren von Konflikten überschattet. Den meisten wird der Krieg von 2008 in Erinnerung geblieben sein, doch die Differenzen haben tieferliegende, historisch gewachsene Ursachen. Einerseits kritisiert Georgien die Einmischung Russlands in die territoriale Integrität des südkaukasischen Nachbarlandes und dessen Aktivitäten in den de facto-Regimen Abchasien und Südossetien. Andererseits sieht die russische Seite ihre traditionelle politische Einflusssphäre durch die Entscheidung Georgiens für den Weg in die euro-atlantische Integration massiv gefährdet. Dass die Wurzeln dieser aktuellen Konfliktfragen tiefer liegen, zeigt Philipp Ammon in seinem aktuellen Werk anhand zahlreicher bisher nicht in deutscher Sprache diskutierter Literaturbestände. Ausgehend von der Frage „wie es zur Konfrontation zweier Völker kam, die keine tiefverwurzelte, gleichsam metaphysische Feindschaft“ (S. 9) trenne, widmet sich Ammon einer historischen Gegenüberstellung georgischer und russischer Perspektiven auf den jeweils anderen. Dabei kommen sowohl literarische als auch religiöse und politische Akteure zu Wort. Angesichts der Realitäten des Zarenreichs als Vielvölkerimperium mag es zuweilen schwierig erscheinen, die genuin russische Perspektive auf Georgien zu erkennen. Methodologisch reflektiert der Autor sowohl diese und weitere Begrifflichkeiten, als auch den hermeneutischen Zugang zum Gegenstand der Analyse in einer Klarheit, an der es den meisten tagespolitisch getriebenen Wortmeldungen zu dieser Problematik mangelt.

Nach einem kurzen Streifzug durch die georgische Geschichte von den antiken Ursprüngen bis ins 17. Jahrhundert widmet sich das dritte Kapitel (S. 40-60) den georgisch-russischen Beziehungen im 18. Jahrhundert. Kennzeichnend für diese ist der 1783 geschlossene Vertrag von Georgijewsk, in welchem die georgischen Könige ein Bündnis mit dem Zarenreich eingingen, das zum faktischen Verlust der Souveränität über die außenpolitischen Kompetenzen Georgiens führte. Kapitel vier (S. 61-96) beginnt mit der Annexion Georgiens durch das Zarenmanifest von 1801 und führt über die sich im Verlauf des Jahrhunderts vertiefenden Spannungen zu Kapitel fünf (S. 97-125), das die chronologische Darstellung unterbricht und stattdessen einen Blick auf die wechselseitigen literarischen Wahrnehmungen wagt. Im sechsten Kapitel (S. 126-150) wird die Entstehung und Entwicklung der georgischen Nationalbewegung kontextualisiert und Kapitel sieben (S. 151-179) untersucht die kirchlichen Konflikte, die meist einen Widerhall in der Politik fanden. Das achte und letzte Kapitel (S. 180-211) nimmt schließlich den chronologischen Faden wieder auf und befasst sich mit dem Zeitraum von der Revolution von 1905 bis zum Ende der ersten georgischen Republik, die 1921 durch den Einmarsch der Roten Armee brutal beendet wurde.

Philipp Ammon, der als Slawist und Historiker in beiden Ländern studiert und gelebt hat, beschreibt die historischen Ursachen dieses komplexen Spannungsgeflechtes mit einer tiefgründigen Kenntnis der Materie, die es zugleich an Ausgewogenheit und Abwägung nicht mangeln lässt. Das Werk wagt einen nüchternen und zugleich kritischen Blick in die Geschichte der georgisch-russischen Beziehungen vom 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert, wobei die jeweils zugrunde liegenden Handlungen und Interessen der Akteure unvoreingenommen hinterfragt und in den historischen Zusammenhang eingeordnet werden. Damit leistet das Werk auch einen Beitrag zur Klärung der Frage, wie sich Modernisierungsprozesse und Eigenständigkeitsbestrebungen im Zarenreich regional entwickelten. Viele Russen haben bis heute eine hohe Wertschätzung für die Kultur, Literatur und Landschaft ihrer südlichen Nachbarn erhalten. Wer Russland bereist, kommt nicht umhin zu erfahren, welcher Beliebtheit sich die georgische Küche dort erfreut, die oftmals der eigenen vorgezogen wird. Ammons Werk ist eine breite Leserschaft zu wünschen, auf dass diese menschlichen Verbindungen zwischen den beiden Nationen auch in der politischen Zukunft der georgisch-russischen Beziehungen einen entsprechenden Wiederklang finden.

 

Ammon, Philipp (2020): Georgien zwischen Eigenstaatlichkeit und russischer Okkupation. Klostermann-Verlag, Rote Reihe Band 117, 238 Seiten, 29,80 Euro.

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