Russische Liberale wieder einmal isoliertWipperfürth, Dr. Christian © russland.tv

Russische Liberale wieder einmal isoliert

Liberale halten die 1990er Jahre für „die gute alte Zeit“. Die große Mehrheit der Bevölkerung sieht das ganz anders. Derzeit flammt diese Debatte noch einmal auf.

Anatoli Tschubais ist einer der prominentesten Liberalen Russlands. (FOTO) 1992 wurde er Vize-Ministerpräsident, im November 1994 wurde er nicht nur zum Ersten Vize-Ministerpräsident befördert, sondern zudem Finanzminister. Im Januar 1996, einige Monate vor den Präsidentschaftswahlen, entband ihn Präsident Boris Jelzin von seinen Ämtern, denn die von Tschubais verkörperten Wirtschaftsreformen waren in der Bevölkerung mehr als unbeliebt. Gleichwohl leitete er 1996 Jelzins Präsidentschaftswahlkampf. Danach stand Tschubais der Präsidialverwaltung vor und wurde somit faktisch zum zweitmächtigsten Mann Russlands.

Seit der Jahrtausendwende hat er zwar keine politischen Ämter mehr inne, steht aber immerhin großen staatlichen Konzernen vor. Derzeit handelt es sich um „Rusnano“, das über zehn Mrd. US-Dollar verfügt, um die Nanotechnologie zu stärken.

Jeder in Russland kennt Tschubais. Was Tschubais sagt, wird gehört, auch, was er kürzlich auf einer Konferenz äußerte: „In den vergangenen 20 Jahren hat die Gesellschaft nicht einmal daran gedacht, der Wirtschaft Dank zu sagen für alles, was sie getan hat: das Land aufzubauen, zusammenbrechende sowjetische Unternehmen wieder in Gang zu bringen, Menschen Einkommen zu bieten, die Taschen des Staats mit Geld zu füllen.“ Tschubais spricht von „der Wirtschaft“, der man dankbar sein solle, meint aber sicher auch die liberalen Politiker, wie sich selbst, die das Ruder in der Hand hatten.

Tschubais erntete lebhaften öffentlichen Widerspruch. Werfen wir einen Blick auf eine Graphik zentraler Wirtschaftsindikatoren:

Der Rückgang war stärker als im Deutschland Anfang der 1930er Jahre.

Die überwältigende Mehrheit der russischen Bevölkerung verbindet mit den 90er Jahre ausgesprochen negative Erinnerungen, greifen wir zwei Ereignisse heraus:

  1. Die Sowjetunion ging Ende 1991 unter, die meisten Nachfolgestaaten hielten jedoch an einer gemeinsamen Währung fest. Neben Russland gehörten neun weitere Länder der ehemaligen UdSSR der Rubel-Währungsunion an. Der Kreml argwöhnte jedoch, die anderen Mitglieder würden Moskau übervorteilen, darum trat Russland Mitte 1993 ohne Vorankündigung aus dem Verbund aus.

Die nationale Währungsreform wuchs sich für die Menschen zu einer Katastrophe aus: Am 24. Juli 1993 wurde überraschend der neue Rubel eingeführt. Bürger Russlands konnten innerhalb einer Woche bis zu 35.000 alte in neue Rubel umtauschen, was etwa dem Kaufpreis neuer Schuhe entsprach. Der darüber hinausgehende Betrag wurde für sechs Monate auf einem Konto eingefroren. Die Einlage wurde zwar verzinst, aber unzureichend in Anbetracht der sehr hohen Geldentwertungsrate. Folglich waren die Ersparnisse der Bevölkerung nach der Ablauffrist nur noch etwa die Hälfte wert. Sie wurde somit teilweise enteignet.

  1. 1995 wurde ein Deal zwischen Präsident Jelzin und einigen Superreichen abgeschlossen: Letztere unterstützen Jelzin im Präsidentschaftswahlkampf (nicht zuletzt durch ihre Medien), der Kreml sicherte im Gegenzug Privatisierungen zu ihren Gunsten zu. Auf diese Weise konnte 1996 bspw. Wladimir Potanin für 170 Mio. US-Dollar einen Großteil von „Norilsk Nickel“ erwerben. Der Wert der Anteile lag auch damals deutlich höher, derzeit beträgt er etwa das Hundertfache des Kaufpreises.

Für die große Mehrheit bedeuten die 90er Jahre: Die Bevölkerung wurde teils enteignet, die Reichen aber vereinnahmten sich den Staat und bedienten sich kräftig. – Und hierfür soll die Bevölkerung den Oligarchen – und den Liberalen, die das Land führten – dankbar sein?

In den 1990er Jahren war eine deutliche Mehrheit der Ansicht, Russland entwickele sich in die falsche Richtung, mit der Jahrtausendwende näherten sich diese Werte einander zumindest an.

Ich erinnere mich an den Werbespot der einflussreichsten liberalen Partei, der „Union Rechter Kräfte“, aus dem Jahre 2004: Die Parteiführung sitzt in einem schnittigen Jet und konferiert über den Wolken über Russlands Zukunft. – Die Liberalen konnten sich offensichtlich nicht vorstellen, wie diese abgehobene Selbstinszenierung bei der überwältigenden Mehrheit der Wähler ankommt. Es mangelt den Liberalen Russlands an Bodenhaftung. Die Äußerung von Tschubais fügt sich folglich in ein Muster. So garantieren die Liberalen ihre zukünftigen Wahlmisserfolge.

 

Foto Chubais

http://council.gov.ru/events/multimedia/photo/63593/

Graphik 1: Russland-Analysen 305, S.18

Graphik 2: www.levada.ru/2017/06/29/iyunskie-rejtingi-odobreniya-i-doveriya-7/

COMMENTS

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    Der Neoliberalismus, mit dem in der Konfusion der 90er das starke europopäische der europäischen Sozialdemokratien entsorgt wurde, hat überall zu einer Erosion der Demokratie und zur Abgehobenheit einer elitären Nomenklatura in Politik, Wirtschaft und Medien geführt, die nicht nur in Russland unmittelbar die Legitimität staatlicher Macht gechwächt hat.

    Das staatliche Gewaltmonopol kann nur als gerechtfertigt empfunden werden, wenn der Staat als strukturelles Gebilde erfahren wird, das alle gesellschaftlichen Bedürfnisse der Menschen synthetisch aufzunehmen und ihnen auf Basis von sozialen Kompromissen allen einen Raum zur Selbstentfaltung bietet. Hierfür ist eine öffentliche Infrastruktur vonnöten und ein öffentlicher Marktplatz kontrovers diskutierter Auseinandersetzungen, dessen wesentlich sozial basierte Stimmen in der staatlichen Entscheidungen erkennbar sind.

    Die Konzentration ökonomischer Macht, die sich in Russland vorrangig aus der ehemaligen politischen Nomenklatura rekrutierte, hat überall den öffentlichen Sektor als Ballast über Bord geworfen, während militärische Aufrüstung auf Steuerbasis vorrangig den ökonomischen Bedürfnissen einer astronomisch vermögenden Minderheit dient. Die gesellschaftliche Balance ist komplett aus den Fugen geraten – und zugleich eskalieren die internationalen Beziehungen.

    Diese Probleme sind nicht genuin die der Russen – sie sind global, ebenso wie die zunehmende Unfähigkeit der Politik, sich gegenüber exklusiven Ansprüchen durchzusetzen – wo ihr Personal nicht gänzlich der Funktionselite der CEOs entstammt und nach Ende der politischen Laufbahn auch dorthin zurückkehrt.

    In Russland jedoch erfolgte diese politische Transformation zum Schlechteren mit besonderer Brutalität und Indifferenz der neureichen Elite.

    Die Notwendigkeit eines Wandels aber gibt es ebenso hier. Die nach dem TINA-Motto im Sinne von Thatcherismus und Reagonomics umgebaute Welt ist instabil, produziert Elend, Hilflosigkeit, Zorn – und ist ganz und gar unfähig, drängende globale Probleme, wie den Klimawandel und künftige Wasser- und Rohstoffknappheit friedlich zu lösen.

    Notwendig ist auch eine Wiederbelebung der internationalen Solidarität, die anders als identitäre Kampagnen im Stil der Prenzlberg-Schickeria nicht nach dem Muster eines bourgoisen Selbstfindungstrips wohlbegüteter sozial privilegierter Studenten des Westens erfolgen, sondern offene Begegnungen ohne falsche moralische Hybris sind.

    Die russischen Liberalen haben gegenüber der eigenen Bevölkerung die moralische Hochnäsigkeit der neoliberalen Schickeria kopiert. Diese identitären Liberalen haben auch nichts mehr mit den alten Liberalen, die für rechtsstaatliche Prinzipien und Grundwerte gemein, sondern sie trugen „Liberalität“ als dogmatisch-identitäres Etikett vor sich her und verteufelten im permanenten Kampagnenstil die, die sie verächtlich als „Deplorables“ brandmarkten.

    1989 war eine großartige Chance. Die internationale Eliten-Nomenklatura hat diese Chance verbockt – und uns alle an den Rand eines großen Krieges getrieben und ihre eigenen Gesellschaften an den Rand eines Bürgerkriegs.

    Es gilt zurückzurudern und endlich offene gesellschaftliche Debatten zu führen, die wirklich an Grundsätzliches rühren. Sonst könnten wir alle in der absoluten Katastrophe landen.

    Es wird Zeit für einen radikalen Wandel!