Der Journalist und Publizist Thomas Fasbender gilt als einer der fundiertesten Kenner Russlands. Mit russland.NEWS sprach er darüber, wie er Wladimir Putin versteht, was Menschen in Russland über den Krieg denken und warum er nicht mehr für RT Deutschland arbeitet
Herr Fasbender, 2014 ist Ihr Buch erschienen „Freiheit statt Demokratie. Russlands Weg und die Illusionen des Westens“, in dem Sie u.a. die These vertraten: „Russland will den Weg des Westens nicht gehen. Und es wird ihn nicht gehen“. Sie haben Recht behalten, aber können Sie sich darüber freuen angesichts dessen, was wir alle gerade erleben?
Manchmal tritt auch das Unerfreuliche ein, und dann ist man trotzdem froh, wenn man es vorhergesehen hat. Den Text des Buches, von dem Sie sprechen, habe ich etwa 2009 verfasst. Ich habe damals in Russland gelebt. Im Grunde war mir spätestens 2003, das war nach Michail Chodorkowskis Verhaftung, sonnenklar, dass Russland – eben nicht nur Wladimir Putin, sondern das ganze Land – diese Abkehr vom Westen vollziehen wird. Daran ändert auch die Existenz einer liberalen und demokratischen Opposition nichts. Gerade in diesen Kriegsmonaten kann man erleben, wie zerrissen die Opposition ist: massive Putin-Gegnerschaft und Verurteilung des Krieges einerseits und dann wieder, also gleichzeitig, russischer Patriotismus, teils auch antiwestliche Emotionen. Unser Problem im Westen ist doch, dass wir in unseren Überzeugungen, also was Fortschritt ist und was richtig ist, so festgefahren sind, dass wir vom Anderssein der Anderen gar keine Ahnung mehr haben.
Seit Jahren versuchen Sie immer wieder russische Politik zu erklären, indem Sie russische Sicht auf die Dinge darstellten. Hilft uns das heute noch?
Ich bin ein großer Verehrer des chinesischen Militärstrategen Sunzi. Der lebte im sechsten und fünften Jahrhundert vor Christus, von ihm stammt das Buch „Die Kunst des Krieges“. Darin betont er, wie wichtig es ist, im Krieg die Gedanken des Gegners zu kennen. Seine Ziele, seine Sichtweisen, seine Wertvorstellungen. Wir im Westen geben uns nicht einmal die Mühe. Wir sind so überzeugt, an der Spitze des historischen Fortschritts zu stehen, dass unsere Gegner uns gar nicht interessieren. Ein ungeheurer Fehler. Wir missverstehen die Russen, die Chinesen, die Inder, die Afrikaner. Unser Überlegenheitsgefühl sagt uns, dass sie eigentlich alle Barbaren sind – egal, wie sehr wir uns vom Kolonialismus distanzieren. Wenn wir jeden Versuch, die russische Sichtweise zu begreifen, als Russland- oder Putinverstehertum diffamieren, machen wir uns noch blinder, als wir ohnehin schon sind. Vielleicht ist der Westen mit seinen Waffen in der Lage, den Russen in der Ukraine eine böse Niederlage zu bereiten. Gegen die Chinesen, die sich jetzt sämtliche Lektionen aus diesem Krieg akribisch aneignen, werden wir mit unserem Hochmut scheitern.
Kann man Russland heute noch verstehen? Oder müssen wir gar nicht Russland, sondern Putin verstehen?
Eine gute Frage. Wen repräsentiert der russische Präsident mit seinen Impulsen und seinem Handeln? Auf jeden Fall den sogenannten Muzhik, also den einfachen Russen außerhalb von Moskau und St. Petersburg. Das ist die alte Putin-Mehrheit, die trägt ihn seit 1999. Die politische und wirtschaftliche Elite geht inzwischen auf Abstand, allerdings nicht aus moralischer oder demokratischer oder liberaler Überzeugung. Jede Elite beäugt ihren Führer, prüft sein Siegerpotenzial. Abhängig vom Kriegsverlauf kann es eigentlich jederzeit eng werden für Putin. Was das Verstehen betrifft: Rational macht es überhaupt keinen Sinn, was Russland sich mit diesem Krieg antut. Die Toten, die geopolitische Schwächung, die ökonomischen Folgen. Vielleicht kann man es als Autoaggression interpretieren, als Selbstbestrafung dafür, diesem scheiternden Westen mit seinem Hyperindividualismus, der jedenfalls aus russischer Sicht zum Untergang verurteilt ist, viel zu lange nachgelaufen zu sein.
Erst voriges Jahr kam ihr Buch „Wladimir W. Putin. Eine politische Biographie“. Dort charakterisierten Sie den russischen Präsidenten als „Baumeister eines starken Staates“. Sie sagten auch, Putin sei „ein Pragmatiker, ein Realpolitiker reinsten Wassers, ein Machiavelli-Klon“. Wie würden Sie ihn heute bezeichnen? Hat er eine Metamorphose durchgemacht?
Ein Machiavelli-Klon ist Putin auch heute noch, auch ein Pragmatiker, aber als Realpolitiker hat er seit 2021 versagt – seit er zulässt, dass ihn nur noch ein Teil der Realität erreicht. Was ihm fehlt, ist historische Größe. Weder hat er seine sowjetischen Ressentiments in den Griff bekommen, noch hat er der Versuchung widerstanden, sich für unfehlbar zu halten. Die freisinnigen Stimmen, die ihn nach 2000 lange begleiteten, verstummten nach seiner Rückkehr an die Macht 2012. Damals begann auch die weltanschaulich konservative Wende: ultraorthodoxe Werte, russische Welt, slawische Überlegenheit. Dann 2014 der Triumph des Rückgewinns der Krim ohne jeden Blutverlust. Putin ist nicht der erste Herrscher, der an seinen Erfolgen scheitert. Den letztendlichen Ausschlag gab Covid-19. Paranoid und abgeschottet von der Wirklichkeit hängt er seither an den Einflüsterungen einer winzigen Kamarilla. Anders ist die Entscheidung für den Einmarsch in die Ukraine nicht zu erklären.
Von 2019 bis zum russischen Überfall auf die Ukraine 2022 haben Sie für den russischen Staatssender RT DE gearbeitet. Was hat Sie dazu veranlasst, diesen Job zu machen bzw. zu gehen?
Beginnend 2019 habe ich bei RT DE zwei Formate bespielt: einen wöchentlichen Videokommentar und eine Gesprächssendung mit je einem Gast. Im wesentlichen ging es um deutsche Themen, aber natürlich habe ich auch für russische Sichtweisen geworben, westliche Doppelmoral entlarvt, Heuchelei angeprangert. Ich kenne die Narrative beider Seiten, die Stärken und die Schwächen. Und da die meisten Medien in Deutschland, sagen wir mal nicht besonders objektiv berichten, war RT die ideale Plattform für eine andere Perspektive. Schließlich habe ich 23 Jahre in Russland gelebt. Es ist ja nicht so, dass die russische Sicht auf die Wirklichkeit in allem illegitim oder konstruiert wäre. Der Einmarsch in die Ukraine hat die Verhältnisse dann von den Füßen auf den Kopf gestellt. Narrative, Interessen, Sichtweisen und Perspektiven sind das eine. Krieg ist etwas völlig anderes. Diese Invasion war nicht nötig und durch nichts begründet. Am 4. März 2022 wurde mein letzter RT-Kommentar aufgezeichnet. Ich hatte es zur Bedingung gemacht, dass ich den Krieg ausdrücklich verurteile. RT hat den Kommentar auch hochgeladen und erst einige Wochen später gelöscht.
Nach 23 Jahren kennen Sie das Land buchstäblich von innen. Hat Sie das Verhalten der Russen in Bezug auf den Krieg überrascht? Wie erklären Sie sich, dass angeblich die Mehrheit der Russen für den Krieg ist?
Zwei Wochen nach Kriegsbeginn hat mich die Schweizer Weltwoche nach Moskau geschickt. Ich erinnere mich genau. Als ich ankam, herrschte wirklich Bestürzung: Wir, das große Russland, haben unser kleines Bruderland angegriffen. Doch dann drehte sich die Stimmung. Damals begannen die Sanktionen, es kamen auch Nachrichten von Übergriffen auf Russen im Ausland. Damit entstand ein völlig anderes Narrativ: Der riesige Westen gegen uns. Logisch, dass die russische Propaganda das ausschlachtet. Aber der Westen hat Partei ergriffen, und natürlich motiviert das viele Russen zum Widerstand. Die Vorstellung, nach 1991 ein zweites Mal gegen den Westen zu verlieren, mobilisiert ungemein. Bei uns versteht das niemand. Wir glauben, der Untergang der Sowjetunion stehe für den Sieg von Freiheit und Demokratie. In Russland sieht man im Ende des Kalten Krieges eine Niederlage des eigenen Landes. Die meisten jedenfalls.
Also halten Sie nicht viel von den westlichen Sanktionen? Erfüllen sie ihren Zweck, die russische Gesellschaft gegen Putin einzustimmen?
Primär dienen die Sanktionen dazu, der russischen Wirtschaft und dem Staat zu schaden, außerdem erlauben sie den Urhebern, sich auf der „richtigen Seite der Geschichte“ zu wähnen. Solche Eitelkeiten sollte man nicht unterschätzen. In der russischen Gesellschaft, auch unter der politischen und wirtschaftlichen Elite, wirken die Sanktionen eher solidarisierend. Die langfristig bedeutendste Wirkung ist wohl, dass die Chinesen und andere nicht-westliche Länder jetzt ziemlich genau wissen, über welche Daumenschrauben der globale Westen verfügt. Wir haben uns da nackt gemacht. Natürlich bewirken die Sanktionen empfindliche Einschränkungen, etwa bei den Einnahmen aus Ölverkäufen, der Einfuhr kritischer Bauteile usw. Aber Not macht auch erfinderisch. Mein Eindruck ist jedenfalls, dass sie den Kriegsverlauf nicht entscheidend beeinflussen.
Sie haben bestimmt noch Kontakt zu ihren russischen Freunden und Bekannten. Wie ist die Stimmung jetzt in Russland?
Zunehmend gedämpft – was aber nicht heißen soll: oppositionell. Ich habe es schon gesagt, viele Menschen sind innerlich zerrissen. Viele verabschieden sich auch aus jeder politischen Diskussion. Wer auf aufständische oder gar revolutionäre Gesinnung hofft, liegt völlig daneben. Wie gesagt, eine Wiederholung der 1990er ist das letzte, was die Menschen sich wünschen. Alle, die noch im Bereich deutsch-russischer Kontakte aktiv sind, berichten von der großen Angst vor einem neuen eisernen Vorhang. Politisch driftet Russland aus dem europäischen Orbit, der Prozess scheint unaufhaltsam. Das bedeutet aber nicht, dass die russischen Menschen sich jetzt als Eurasier oder irgendwie weniger europäisch fühlen. Was wir erleben, ist ein Auseinanderbrechen der europäischen Kultur, und das wird in Russland äußerst schmerzhaft empfunden.
Der Internationale Strafgerichtshof hat einen Haftbefehl gegen Präsident Wladimir Putin erlassen. Was halten Sie von diesem Schritt?
Kein ungeschickter Schachzug. Es haben zwar nur 60 Prozent der Staaten den Gerichtshof anerkannt, doch darunter sind einige nicht-westliche Länder, auf deren Sympathien Russland in der jetzigen Situation Wert legt. Sogar Putins Teilnahme am Gipfeltreffen der fünf BRICS-Staaten im August in Südafrika steht infrage. Südafrika hat die Statuten des Gerichtshofs ratifiziert. Letztlich erhöht sich mit dem Haftbefehl der Einsatz in der historischen Wette zwischen dem Westen und seinen Rivalen. Ist der „Platzhirsch“ Westen noch in der Lage, seine regelbasierte Ordnung global durchzusetzen, oder beginnt die von vielen prognostizierte neue Ära der multipolaren Weltunordnung?
Würden Sie eine Prognose wagen, wie es weiter mit dem Krieg geht?
Sehr viel hängt von der angeblich bevorstehenden ukrainischen Frühjahrsoffensive ab. Sollten die Kiewer Truppen bis zum Asowschen Meer vorstoßen, vielleicht sogar die Brücke von Kertsch zerstören, könnte das zu Verhandlungen führen, in deren Verlauf Russland die Ukraine räumt und nur die Krim behält. Es ist auch vorstellbar, dass parallel zu Kampfhandlungen verhandelt wird. Was die Krim betrifft, so bin ich überzeugt, dass der Kreml, egal ob unter Putin oder einem Nachfolger, eher die nukleare Option wählt, als die Halbinsel herzugeben. Das wissen auch die USA, deren Entscheidung letzten Endes die Kiewer Politik bestimmt. Falls die ukrainische Frühjahrsoffensive stecken bleibt, steht ein langer Krieg ins Haus. Kiew wird die vier im September durch Russland annektierten Gebiete nicht aufgeben, und Russland wird sich ausrechnen, dass die Zeit auf seiner Seite ist. Mehr lässt sich derzeit seriös nicht vorhersagen.
Daria Boll-Palievskaya-russland.news
COMMENTS