Von der Verteidigung Russlands zu dessen Verurteilung – eine Antwort auf Leo Ensels Artikel

Von der Verteidigung Russlands zu dessen Verurteilung – eine Antwort auf Leo Ensels Artikel

[ von Bernd Murawski ]In seinem auf dieser Webseite erschienenen Beitrag schildert Leo Ensel die jahrzehntelangen russischen Bemühungen um Akzeptanz im Westen. Da sie nicht mit dem US-amerikanischen Streben nach globaler Dominanz vereinbar waren, wurden die Offerten Russlands regelmäßig abgeschmettert. Ferner wurde das Land durch die NATO-Osterweiterung brüskiert. Wie der Autor erklärt, bestand bereits während der Präsidentschaft Boris Jelzins ein Konflikt zwischen westlichen Zielen und der vom Kreml gewünschten Beziehung auf Augenhöhe unter Berücksichtigung russischer Sicherheitsinteressen.

Trotz der scharfen Kritik am NATO-Einsatz in Jugoslawien erklärte sich Wladimir Putin weiterhin zu einer engen Kooperation mit dem Westen bereit, sogar bis hin zu einer Mitgliedschaft im westlichen Verteidigungsbündnis. Der letzte diplomatische Vorstoß des Kremls – worauf Leo Ensel wahrscheinlich in einem Fortsetzungsteil näher eingehen wird – war die Initiative für eine gesamteuropäische Sicherheitsstruktur vom letzten Dezember. Noch mehr als Putins Rede im Jahr 2007 auf der Münchener Sicherheitskonferenz offenbarte sie Ungeduld und enthielt latente Drohungen.

Trotz des westlichen Affronts, begleitet von einer schon länger andauernden und sich momentan ins Extreme steigernden antirussischen Hetzkampagne, vertritt Leo Ensel die Auffassung, dass der russische Einmarsch in die Ukraine „durch nichts zu rechtfertigen ist“. Während er an dieser Position weiterhin festhält, haben mich die jüngsten Reaktionen des Westens von einer klaren Verurteilung der russischen Militäraktion hin zu einer differenzierteren Sichtweise bewegt. Dies bedeutet nicht, dass ich in das konträre Lager gewechselt wäre und die gegenwärtige Politik Moskaus befürworten und verteidigen würde. Eher sehe ich mich heute besser in der Lage, die russischen Ängste nachzuvollziehen.

Aus Sicht des Kremls handelt es sich bei der aktuellen „militärischen Operation“ um einen Präventivschlag, der mit dem Völkerrecht vereinbar ist. Dies ist schwer nachvollziehbar, da Russland nicht vom Territorium der Ukraine aus bedroht wird. Ebenso wäre das russische Militär problemlos in der Lage, etwaige Attacken gegen die Krim und den Donbass abzuwehren. Denkbar wäre eine Antwort wie im Jahr 2008 beim Angriff Georgiens auf Südossetien.

Doch wie ist die russische Sicherheitslage perspektivisch zu beurteilen? Für einen Vergleich sei darauf verwiesen, dass Israels Angriffe gegen Hizbollah-Stellungen auf syrischem Boden im Westen als völkerrechtskonform interpretiert werden. Dabei kann von einer akuten Gefährdung des jüdischen Staats keine Rede sein. Jedoch wird durch einen Ausbau von Stützpunkten der Hizbollah das militärische Kräfteverhältnis beeinflusst, was bei einem künftigen Konflikt Bedeutung erlangen könnte.

Es kann nun angenommen werden, dass Russland angesichts seines Atomwaffen-Arsenals über jede Bedrohung erhaben ist. Im zwei Jahrzehnte andauernden Krieg in Afghanistan offenbarten sich jedoch schwer zu erwidernde Formen von asymmetrischer Kriegsführung, die den Westen schließlich zum Rückzug zwangen. So wie die von westlichen Staaten protegierten islamischen Terroristen vor Jahren die syrische Staatlichkeit bedrohten, könnten in naher Zukunft militante ukrainische Nationalisten als Speerspitze gegen Russland fungieren. Eine massive NATO-Anwesenheit auf ukrainischen Boden würde als Rückendeckung dienen, ohne dass sich der Westen selbst „die Finger schmutzig machen“ müsste. Wie real ein solches Szenario ist, darüber lässt sich spekulieren. Außer Zweifel dürfte stehen, dass die russische Führung es ernst nimmt.

Die Berechtigung der russischen Militäraktion hängt wesentlich davon ab, wie realistisch eine Bedrohung in der hier skizzierten Weise ist. Dabei ist von zentraler Bedeutung, wie stark die politischen Kräfte im Westen sind, die sich gegen eine Umsetzung solcher Pläne stemmen. Und genau an diesem Punkt gibt es derzeit Grund zur Sorge.

Anstatt Öl in Feuer zu gießen und damit eine Duldung der aggressiven Ziele Washingtons zu dokumentieren, hätten die politischen Führungen der EU-Staaten wie auch Oppositionelle in den USA Distanz wahren und eine differenziertere Position einnehmen sollen. Ohne Frage wäre die russische Militäraktion zu verurteilen gewesen. Moderate Sanktionen und manche demonstrativen Akte erscheinen als Antwort ebenfalls angemessen.

Indes sind Äußerungen wie jene Annalena Baerbocks, man wolle Russland ruinieren, nicht akzeptabel und hätten von offizieller Stelle korrigiert werden müssen. Ebenso wäre eine Zurückweisung infamer Beschuldigungen durch das Kiewer Führungspersonal und insbesondere des ukrainischen Botschafters notwendig gewesen. Auch hätten der beträchtliche Einfluss ultranationalistischer Kräfte und der fortschreitende Demokratieabbau in der Ukraine öffentlich thematisiert und kritisiert werden müssen.

Dies geschah jedoch nicht, stattdessen wurden dem ukrainischen Präsidenten westliche Parlamentssäle als Bühne geboten. Zugleich wurden der russischen Seite Kriegsverbrechen und Massaker vorgeworfen, bevor überhaupt Untersuchungen stattfanden. Und anstatt Anstrengungen zu einer Konfliktlösung zu unternehmen, wurden die antirussische Medienkampange verstärkt und in immer größerem Umfang Waffen an die Ukraine geliefert. Es sollte daher nicht verwundern, wenn sich die russische Führung in ihrem Urteil einer Unvermeidlichkeit der Militäraktion bestätigt sieht. Überdies werden jene verunsichert, die sich zu dieser zwar skeptisch bis ablehnend positioniert haben, aber russische Interessen zu großen Teilen für legitim halten. Zweifel dieser Art wären nicht entstanden, wenn der Westen sich um Glaubwürdigkeit und Fairness bemüht und für Frieden, Kompromisse und Versöhnung eingesetzt hätte.

 

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