[von Alexander Rahr] Westliche Medien und Think Tanks werden dem 30 Jubiläum des August-Putsches kaum Beachtung schenken. Der (westliche) Sieger aus dem Kalten Krieg hat seine Geschichte längst geschrieben. Dort werden andere historische Momente gefeiert, wie der Fall der Mauer oder die sanfteren Revolutionen. Der August-Putsch versetzt aber gerade Russland in die historische Lage, sich ebenfalls als Sieger der Geschichte zu sehen.
Am 19. August 1991 putschten einige hochrangige Minister, Armeeführer und Geheimdienstchefs der Sowjetunion gegen die Reformpolitik des Kremlchefs Michail Gorbatschow. Ein Notstandskomitee übernahm die Macht im Land. Doch demokratische Kräfte in Moskau und Leningrad stellten sich den Putschisten und ihren Sowjetpanzern entgegen. Nach drei dramatischen Tagen ging der Putsch ohne nennenswerte Gewaltanwendung zu Ende. Der zuvor abgesetzte Gorbatschow kehrte, wenn auch politisch angeschlagen, zurück.
In der russischen Geschichte hat es immer wieder Palastrevolutionen gegeben, in der Zeit Nikita Chruschtschows ganze vier Mal. Selten konnte sich der Amtsinhaber gegen die Aufständischen durchsetzen; Gorbatschow schaffte es auf glückliche Weise zu überleben.
Doch dem gescheiterten Putsch der Altkommunisten folgte sogleich ein neuer Putsch – diesmal der anti-kommunistischen Reformer. Der Präsident der Russischen Unionsrepublik, Boris Jelzin, entriss dem zaudernden und verunsicherten Gorbatschow vollends die Macht. Der Zerfall der Sowjetunion entlang der Grenzen der 15 sowjetischen Unionsrepubliken war nun unaufhaltsam. In den nächsten Wochen und Monaten proklamierten die Unionsrepubliken ihre Unabhängigkeit vom Zentrum in Moskau. Drei Monate nach dem vereitelten August-Putsch lösten die Präsidenten der drei slawischen Unionsrepubliken Russland, Ukraine, Belarus, die UdSSR vollends auf. Der Kommunismus wurde nach 73 Jahren zu Grabe getragen.
30 Jahre sind seitdem vergangen. Eine vertiefte historische Reflexion des damaligen Geschehens ist bis heute ausgeblieben. Stattdessen existieren zahlreiche Mythen, die unterschiedliche Narrative über den tatsächlichen Zerfall der roten Supermacht in die Welt gesetzt haben.
These 1. Die UdSSR hatte keine Überlebenschancen, denn die Wirtschaft des Landes war zusammengebrochen und die Bevölkerungen in Osteuropa forderten einen Regime change. Das westliche Demokratiemodell war die einzige Alternative zum abgewirtschafteten totalitären Sowjetsystem.
Das ist falsch. Wenn es der UdSSR so schlecht ging – warum sagte kein einziger Experte ihren Zerfall voraus? Und natürlich gab es eine andere Alternative: das chinesische System, das heißt Demokratisierung und Wirtschaftsreformen von oben. Gorbatschow erwies sich, anders als der Chinese Deng Xiaoping, eher als Zerstörer als ein kreativer Architekt eines künftigen Systems.
These 2. Gorbatschow und die Reformer betrieben Volksverrat, die Bevölkerung der UdSSR war mehrheitlich gegen die Auflösung des Staates. Gorbatschow hätte mit Militärgewalt den Zerfall verhindern sollen.
Das ist falsch. In den drei Baltischen Republiken, in Moldawien, in der Ukraine und in den drei Transkaukasischen Republiken waren noch vor dem August-Putsch nationalistische Kräfte an die Macht gekommen, die um jeden Preis den sowjetischen Unionsstaat verlassen wollten. Anders als in China, wo die Reformen von oben von einer starken zentralistischen kommunistischen Partei durchgeführt wurden, hatte Gorbatschow die KPdSU praktisch schon liquidiert. Armee und Geheimdienste waren zersplittert; das entstandene Machtvakuum in der UdSSR füllten die neuen nationalen Organe der Unionsrepubliken, im Kreml herrschte 1991 schon eine Doppelherrschaft. Die zentrale Macht (Gorbatschow) konnte sich den Machtbestrebungen der Russischen Republik (Jelzin) kaum widersetzen.
These 3. Der Westen half mit, die Sowjetunion zu zerstören.
Das ist falsch. Erstens, wurde der Westen selbst vom Zerfall der UdSSR völlig überrascht. Zweitens, besaß der Westen vor 30 Jahren (im Gegensatz zu heute) keinen strategischen Einfluss auf die politischen Gegeneliten in der Sowjetunion (wie heute). Der Westen unterstützte bis zuletzt Gorbatschow, weil er in ihm den Garanten für demokratische Reformen sah und weil er überzeugt war, dass nur Gorbatschow eine Rückkehr der Altkommunisten an die Macht verhindern könnte. Der Westen hatte mehr die Vorstellung, dass die UdSSR sich reformieren und demokratisieren lassen könnte. In den USA widmete man sich allerdings gezielt der Nationalitätenfrage in der Sowjetunion. Die amerikanischen Think Tanks verbreiteten aber seit Beginn des Kalten Krieges die These vom „Völkergefängnis Sowjetunion“ und sahen in den nationalen Unabhängigkeitsbewegungen die künftige Perspektive für einen Auseinanderfallen des roten Imperiums.
These 4. Der Zerfall der Sowjetunion war für die Russen die größte geopolitische Katastrophe ihrer jüngsten Geschichte.
Das ist falsch. Die Russen und andere Völker der Sowjetunion erlangten nach dem gescheiterten Augustputsch die Freiheit, die dort heute als selbstverständlich gilt. Allerdings wurde die „Freiheitsdividende“ nicht in eine funktionierende soziale Marktwirtschaft, nicht in den Aufbau eines Rechtsstaates und nicht in demokratische Institutionen investiert. In Russland und in den anderen Ex- Republiken der Sowjetunion gab es zwar reichlich Demokraten, aber keine Demokratie. Man kann es auch umgekehrt sagen: die Demokratie wurde als Fassade errichtet, aber die neuen Machthaber regierten undemokratisch. Die folgenden 1990er Jahren waren wirtschaftlich und sozial die Schlimmsten seit dem russischen Bürgerkrieg. Es fand eine Massenverelendung bei gleichzeitigem Raubtierkapitalismus statt. Der Begriff Demokratie gilt seitdem in Russland und vielen anderen früheren Sowjetrepubliken als Fluch.
These 5. Alle Völker Osteuropas erkämpften sich ihre Freiheit von Moskau; Russland wurde aber zum neuen Feind, weil es von Anfang an nur sein Imperium wieder auferwecken wollte.
Das ist falsch. Gerade Gorbatschows Reformen in der Sowjetunion ermöglichten den anderen mittelosteuropäischen Staaten (den damaligen Warschauer-Pakt Ländern) ihre Systeme zu reformieren. Gorbatschow zwang die damaligen Altkommunisten in den osteuropäischen Bruderländern gleiche liberale Reformen durchzuführen, wie er es in der UdSSR tat. Diese sträubten sich fast fünf Jahre gegen die Liberalisierung. Es war nachher Russland, das das gesamte Sowjetmilitär aus Osteuropa in Windeseile abzog und – das wird heute sträflich vergessen – zunächst gar nicht gegen den NATO- und EU- Beitritt der ehemaligen Warschauer-Paktländer opponierte, weil der Kreml selbst mit dem Gedanken spielte, ein gemeinsames Sicherheitssystem mit den USA und der EU zu erschaffen.
Welches Fazit kann man aus der Geschichte des August-Putsches 1991 ziehen? Historisch wurde eine einzigartige Chance vertan, gemeinsam mit Russland ein stabiles und prosperierender Europäisches Haus zu errichten. Die NATO- Osterweiterung wurde zur Mutter aller Probleme, weil sie sich von Anfang an gegen Russland richtete. Der reiche und siegreiche Westen versäumte es, einen zweiten Marschall-Plan (wie nach dem Zweiten Weltkrieg für Westeuropa) für ganz Osteuropa, einschließlich die Nachfolgestaaten der UdSSR, zu entwickeln. Die OSZE, auf deren Fundament eine neue europäische Friedensordnung hätte entstehen können, wurde sträflich vernachlässigt und Europa statt dessen ausschließlich auf den Institutionen und Interessen des Westens aufgebaut. Weil Russland sich dagegen sträubte, wurde es kurzerhand zum Feindbild erklärt.
Unnötigerweise hat der Westen Russland zum Verlierer der Geschichte des 20. Jahrhunderts abgestempelt. Das fatale Ergebnis ist ein neuer Kalter Krieg, der heute zwischen Westen und Russland herrscht. Der gescheiterte August-Putsch, dieser Sieg der Freiheit, nicht der Fall der Berliner Mauer, sollten als das eigentliche Symbolmoment der neuen Epoche gesehen werden, die dem Kalten Krieg folgte.
COMMENTS
Um vom eigenen Versagen abzulenken, haben Deutschland und der Westen „Russland als Verlierer der Geschichte des 20. Jahrhunderts erklärt“. Dabei war und ist der Kommunismus keine russische „Erfindung“, sondern eine deutsch-jüdische, und die deutsche Reichsregierung hat aus niedrigen militärtaktischen Gründen mit dazu beigetragen, diesen nach Russland zu tragen indem sie Lenin 1917 aus der Schweiz nach Russland geschleust und finanziert hat. Schon Theodor Fontane hat diesen „pathologischen deutsch-preußischen Militarismus als niedrigste Kulturform bezeichnet, die je dagewesen ist“. Dazu kommt der jahrhunderte alte Kulturkampf des westlichen(römischen) Christentums gegen das östliche(russische) Christentum, wie der amerikanische Politologe Samuel Huntington diesen in seinem „Kampf der Kulturen“ aufgezeigt hat. Insbesondere Polen hat sich von Rom bis heute immer wieder gegen Russland instrumentalisieren lassen. Der Kalte Krieg Deutschlands und des Westens gegen Russland war daher auch nie zu Ende.
Ich glaube, die Vorstellung, es könnte nach der Wende der Frieden und politischer Ausgleich einkehren, illusorisch. Der Westen ist per se kriegerisch. Er muss ständig entweder Glaubenskriege oder expansionistische Kolonialraubzüge führen. Was wir zur Zeit wieder in der Ukraine erleben. Also er konnte nicht anderes, das ist drin. Er war in der Lage sogar sich selbst im Ersten Weltkrieg zu zerfleischen, obwohl europäische Häuser untereinander verschwägert waren. Außerdem die Versuchung die Schwäche und Naivität des Gegners auszunutzen war zu groß. So ist das Leben…
Zum August-Putsch 1991 kann ich eine Story erzählen. Ein älterer Gesellschaftswissenschaftler aus der Region Nishnij Nowgorod, der zu dieser Zeit Gastdozent in der Evangelischen Akademie Mülheim-Ruhr war, erklärte mir nach dem 19. August 1991: „Horst, jetzt wird alles wieder gut, jetzt weißt du, dass ich ein alter Bolschewik bin.“ Das letztere konnte ich ihm voll bestätigen. Durch ihn habe dann auch den damaligen jungen Gouverneur der Region Nishnij Nowgorod, Boris Nemzow kennen gelernt, der begeistert von der New Economy erzählte und, dass er bereits einen Wirtschaftswissenschaftler aus den USA als Berater gewonnen habe. Das habe ich mit einem gewissen Befremden zur Kenntnis genommen, weil mir das unrussisch vorkam, und der anschließende Raubtierkapitalismus hat das bestätigt.
Insofern ist die These 3 von Alexander Rahr, dass der Westen, insbesondere die USA nicht mitgeholfen hätten, die Sowjetunion zu zerstören, fragwürdig. Und auch die Behauptung, der Kalte Krieg sei zu Ende gewesen, ist falsch; zumindest seitens der NATO und der USA war und ist dieser nie zu Ende gewesen, und Deutschland und Europa haben sich dem von Anfang an bedingungslos unterworfen.