Vorsicht!Fasbender, Dr Thomas © russland.news

Vorsicht!

Der Russlandflüsterer

Manchmal lohnt es sich, auch ganz alten Männern zuzuhören. Etwa dem WDR-Veteranen Fritz Pleitgen: „Ich kann die ganze Strecke seit dem Zweiten Weltkrieg übersehen. So unübersichtlich und gefährlich wie jetzt war es noch nie.“ Den 80-jährigen bedrückt die Erkenntnis. Schneidigen jungen Männern schießt das Adrenalin in die Adern. Wer sich im Recht wähnt, sitzt hoch zu Pferde, den blanken Säbel in die Höhe gereckt, aufs Äußerste gespannt im Augenblick vor der Attacke.

Heute sitzen die schneidigen jungen Männer nicht mehr im Sattel, sondern vor dem Redaktionscomputer. Auch dort wird scharf geschossen. Vieles, was anlässlich der Skripal-Krise die Leitartikel füllt, erinnert an die besten Traditionen deutscher Rechthaberei. Und deutscher Großmäuligkeit: harte Kante, Grenzen aufzeigen, knallhart dagegenhalten. Der Russe versteht keine andere Sprache.

Vorsicht! Im Recht wähnen sich immer beide Seiten. Und ist die Attacke einmal durch die gegnerische Front, verblutet so mancher Heißsporn neben seinem abgehauenen Arm im Gras.

Seit mindestens 15 Jahren wissen wir, dass Russland einen anderen Weg nimmt als der Westen es gern hätte. Seither hat sich das beiderseitige Verhältnis stetig verschlechtert. Nach dem Mordanschlag auf den russischen Ex-Spion und seine Tochter in Salisbury ist ein neuer Tiefpunkt erreicht. London und Moskau sind nicht mehr on speaking terms; die Hälfte der russischen Botschaft wird ausgewiesen; die Behörden gehen gegen russische Investoren vor. In den USA ist Russland wegen der angeblichen Wahlkampfeinmischung ein rotes Tuch. Wenn im Sommer in Russland die Fußball-WM ausgetragen wird, werden die Regierungen der wichtigsten westlichen Länder nicht vertreten sein. Auch ein Boykott durch die Mannschaften wird gefordert. Die Sanktionen werden weiter verschärft. Große IT-Firmen kündigen russischen Kunden die Nichtverlängerung ihrer Softwarelizenzen an. Die Liste lässt sich verlängern.

Ein kluger Feldherr analysiert die Lage immer auch aus Sicht des Gegners. Und zwar vor der Schlacht. Das schließt die Gefühlslage ein. Russland fühlt sich bedrängt, bedroht, eingekreist und zu Unrecht bezichtigt. Dem Kreml ist bewusst, dass er den eigenen Staat nicht unter Kontrolle hat, nicht jede Abteilung der aufgeblähten Dienste, erst recht nicht die unzähligen Hacker und Computerfreaks. Niemand kann ausschließen, dass einzelne Geheimdienstler ihren privaten Rachefeldzug gegen einen Verräter (Skripal war Doppelagent) und seine Familie führen. Dass der Staat so etwas nicht verhindert oder nicht verhindern kann, mag für Außenstehende unerträglich sein, absolut nicht hinnehmbar – es ist eine Tatsache.

Der russische Staat, so stellt es sich aus Moskauer Sicht dar, wird zu Unrecht beschuldigt. Russland sieht nicht sich, sondern den Westen als aggressiv an. Der kluge westliche Feldherr wird das so akzeptieren; nicht weil er es für richtig hält, sondern weil es so ist. Noch einmal: Der russische Staat fühlt sich zu Unrecht beschuldigt und aggressiv angegangen. Das legitimiert nicht nur eine Gegenwehr, es fordert sie geradezu heraus. Schon blickt man aus Kulturen, wo ein strengerer Ehrenkodex gilt als bei uns, mit Skepsis in Richtung Moskau. Ist Putin doch ein Zauderer? China, Türkei, Iran – in der nicht-westlichen Welt hat Russland einen Ruf zu verlieren.

Natürlich will der Kreml die Weltmeisterschaft zum Erfolg bringen, will weiter Gas und Öl nach Europa liefern und am Aufbau der Wirtschaft arbeiten. Das bedeutet nicht, dass bei anhaltend steigendem Druck aus dem Westen nicht irgendwann Schluss ist. Sei es der Ehre halber. Wenn Deutschland sich von Nord Stream II verabschiedet (wie eine Mehrheit in der CDU es fordert), wenn westliche Firmen die digitale Infrastruktur kappen – auch wenn es teuer wird, in die Knie geht Russland nicht. In nicht einmal 22 Monaten läuft das Gastransit-Abkommen mit der Ukraine aus. Gazprom wird es nicht verlängern. Der Westen hat schon die Schwarzmeer-Pipeline South Stream nicht gewollt. Wenn er auch auf Nord Stream II verzichten will, bitte sehr. Soll der Westen sehen, wo er 30 Milliarden Kubikmeter im Jahr herbekommt. Russland verliert 7,5 Milliarden Dollar, sehr viel Geld, aber dafür das Gesicht zu riskieren?

Der hybride Krieg wird längst geführt. In der Ukraine und in Syrien stehen russische und westliche Söldner, Soldaten und Berater auf beiden Seiten einer Bürgerkriegsfront. Russische und NATO-Kampfflugzeuge sind im syrischen Luftraum unterwegs, über der Ostsee liefern sie sich waghalsige Abfangmanöver. Den US-Luftangriff auf Khasham Anfang Februar, bei dem mindestens eine zweistellige Zahl russischer Söldner ums Leben kam, hat man in Moskau nicht vergessen.

Wir im Westen haben die Wahl. Eskalation als Ausdruck gerechtfertigter Empörung oder Mäßigung als Ausdruck erwachsener Vernunft. Letzteres missfällt den Heißspornen, die der Attacke entgegenfiebern. Aber die können sich ja freiwillig melden (wetten, dass nicht?). Alle anderen sollten bedenken: Heute geht es nur um Recht oder Unrecht, morgen geht es vielleicht schon um Leben oder Tod.

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