In einem in opendemocracy.net und später auch im Focus veröffentlichten Artikel „Was kommt nach Putin? Wie der Westen sich darauf vorbereiten sollte“ vertritt Andreas Umland die Ansicht, Russland sei auf den Westen angewiesen und werde letztlich, „nach einem Kurs- und Regimewechsel“, wieder auf ihn zugehen müssen.
Hierauf solle der Westen konstruktiv reagieren. Umland legt Vorschläge vor, die eine Anbindung Russlands an den Westen bedeuten würden. Er betont, Voraussetzung hierfür werde „die Bereitschaft Moskaus sein, seinen verschiedenen expansionistischen Abenteuern in Osteuropa und im Südkaukasus zu entsagen und sich auch in anderen Regionen der Welt konstruktiver zu verhalten, etwa im Nahen Osten.“
Darauf antwortet Christian Wipperfürth:
Wie sollen und können die westlich-russisch Beziehungen langfristig aussehen? Gut, dass Umland vorlegt!
Russland steht vor gewaltigen Herausforderungen, und es bleibt wirtschaftlich zurück. Zweifel, ob es mittelfristig politisch und wirtschaftlich krisenfest und zukunftsfähig ist, sind nachvollziehbar. Dies bedeutet aber keineswegs, dass sich Moskau an den Westen andocken wird, wie Umland vermutet und wohl auch wünscht, denn:
- Der Westen wollte und will Russland letztlich außen vor halten
Greifen wir zwei Beispiele heraus, aus der Zeit vor der Kontroverse um die Ukraine und die Sanktionen:
1998 wurden die G7 durch die Einbindung Russlands zur G8 erweitert. Seither nahm der russische Präsident an den Gipfeltreffen teil. Neben des Staats- und Regierungschefs trafen sich zudem die G8-Finanzminister. Deren Treffen waren häufiger inhaltsreicher als diejenigen ihrer Chefs. Wenn Deutschland, Frankreich oder Italien den G8-Vorsitz führten wurde der russische Kollege eingeladen und er nahm teil. Wenn jedoch die USA oder Großbritannien die G8-Finanzministertreffen ausrichteten wurde der Kollege aus Moskau nicht eingeladen und konnte somit nicht teilnehmen. Was für eine arrogante und leider typische Geste! Deutschland mahnte immer wieder die Angelsachsen, 2005 auch öffentlich, den russischen Amtschef einzuladen. Vergeblich.
Ein weiteres Exempel: 2010 bot die NATO Russland in ihrem „Strategischen Konzept“ die Zusammenarbeit in der Raketenabwehr an. Das zeitgleiche Versprechen der OSZE-Länder von Astana, eine ungeteilte Sicherheitsgemeinschaft zu schaffen, wurde jedoch nicht erwähnt. Stattdessen wurde die beste Gewähr für ein geeintes und stabiles Europa in einer Bündniserweiterung gesehen. Das ist so widersprüchlich, dass es Verdacht auf der russischen Seite verstärken muss.
Deutschland und einige andere westliche Staaten zeigen – oder zeigten? – immer wieder die Bereitschaft Russland einzubinden und seine Sicherheitsbedenken ernst zu nehmen. Der Westen in seiner Gesamtheit war hierzu nicht bereit. Es ist nicht zu erwarten, dass sich dies in Zukunft ändern wird.
- Das Wachstum Chinas
Der Aufstieg Chinas verringert die Bereitschaft Russlands, sich in den Westen ein- und sich ihm unter zu ordnen. Umland erweckt den Eindruck, als ob Russland an einer NATO-Mitgliedschaft Interesse hätte und der Westen Moskau entgegenkäme, wenn eine solche angeboten würde. Vor 10 oder 20 Jahren wäre beides tatsächlich der Fall gewesen. Die Probleme des Westens und die Erfolge Chinas haben dies seither geändert. Nunmehr würden die Russen den Eindruck haben, von einem zunehmend schwächeren Westen gegen China vorgeschoben zu werden. Darauf wird sich Russland nicht mehr einlassen.
- Die Neigung westlicher Führung zu folgen ist in Russland nahezu völlig geschwunden.
Dafür ist die Liste westlicher Fehlschläge zu lang: Afghanistan, Irak, Libyen u.a.
Auch die meisten russischen Kritiker der Wirtschafts- und Innenpolitik des Kremls dürften der Ansicht sein, dass „expansionistische Abenteuer“ eher typisch westlich seien.
Eine Eingliederung Russlands in den Westen ist auf absehbare Zeit nicht mehr realistisch. Vielleicht hätte sie vor einer Reihe von Jahren gelingen können, aber auch das ist zweifelhaft. Was ist die Alternative?
Ein gemeinsamer Wirtschaftsraum von Lissabon bis Wladiwostok – für den übrigens auch die Union und die SPD im Koalitionsvertrag vom Februar 2018 eintreten. Er besäße eine geringere Integrationstiefe als ein Beitritt Russlands in westliche Institutionen. Folglich wäre der Widerstand bei westlichen „Russlandkritikern“ und russischen „Westkritikern“ geringer und womöglich zu überwinden. Zudem würde ein gemeinsamer Wirtschaftsraum den inneren Zusammenhalt der Ukraine und der Republik Moldau stärken, die zwischen Ost und West seit langem hin und her gerissen sind.
Andreas Umland kontert:
Christian Wipperfürth schildert in seine Antwort auf meinen „Focus“-Artikel zwei Episoden aus den russisch-westlichen Beziehungen und kommentiert das Wachstum Chinas und die derzeitige Einstellung der russischen Führung. Dies sind wichtige Ergänzungen, die nur teilweise dem widersprechen, was ich kürzlich versucht habe, auf den Webseiten „Focus Online“, „Open Democracy“, „The European“, „Raam op Rusland“, „Eurasia Review“ und „Gefter.ru“ sowie in den Zeitungen „Serkalo nedeli“ und „Welt“ darzulegen. Hier daher nur einige Kontextualisierung zu den Argumenten Wipperfürths.
Zu Russlands Mitgliedschaft und Behandlung in der G8 von 1997 bis 2014: Angesichts der demokratischen Unterentwicklung, ökonomischen Schwäche und rechtsstaatlichen Unvollkommenheit Russlands in den neunziger Jahren, war der Einschluss der Russischen Föderation (RF) in die G7-Gruppe und die Entstehung der G8 eine von Hoffnungen genährte enorme westliche Vorleistung für Moskau. Die RF war 1997 weit von den wirtschaftlichen, juristischen und politischen Standards der sieben anderen G8-Staaten (USA, Japan, Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Italien, Kanada) entfernt. Dies galt auch beim Ausschluss Russlands aus der G8 im Jahr 2014 noch. Lediglich das nominale BIP der RF hatte sich inzwischen durch den Anstieg der Ölpreise seit der Jahrtausendwende den entsprechenden Werten der „kleineren“ G7-Staaten (Italien, Kanada) angenähert.
In puncto nominales BIP per Einwohner, Demokratie, Regierungsführung, Rechtsstaatlichkeit, Medienpluralismus, Zivilgesellschaft usw. war und blieb Russland in dieser Periode immer eine Ausnahme in der G8 (wenn man mal von den Kapriolen von Putins Dutzfreund Berlusconi absieht). Kurioserweise kam es sogar zu einer weiteren Entfernung der politischen Standards der RF von denen der in der G8 üblichen während der russischen Mitgliedschaft in der Gruppe. Die von Wipperfürth beklagte episodische Diskriminierung Russlands innerhalb der G8 ist zwar kritikwürdig, jedoch in diesem Kontext zu sehen.
Im Nachhinein bleibt von der gesamten G8-Periode sogar der Nachgeschmack, dass dieses Unternehmen womöglich das Gegenteil dessen bewirkt hat, was ursprünglich intendiert war. Die G8-Mitgliedschaft hat Russland offenbar nur wenig motiviert, sich den hohen wirtschaftlichen, rechtsstaatlichen und politischen Standards seiner Kollegen in der Gruppe anzunähern. Die zumeist demonstrative Gleichbehandlung Putins bei den medienwirksamen Treffen der G8 hat eher jenes Großmachtdenken in Moskau genährt, das dann letztlich zur Katastrophe 2014 und zum Ausschluss Russlands aus der Gruppe führte.
Ein ähnliches Trauerspiel folgte dem – wie sich inzwischen herausgestellt hat: zu Recht – umstrittenen Beitritt Russlands zum Europarat 1996. Obwohl das Land gerade eine blutige Militäraktion in Tschetschenien verwirklicht hatte, Separatismus in Moldova und Georgien unterstützte und viele innere menschenrechtliche Mängel hatte, wurde es in den Europarat aufgenommen. Inzwischen ist man als Beobachter unsicher, ob die zweifelsfrei positiven Folgen der teilweisen Implementierung der Europäischen Menschenrechtskonvention in Russland nicht durch die verschiedenen negativen Nachwirkungen der russischen Mitgliedschaft im Europarat (etwa die Verwässerung der Demokratiestandards in der Organisation) aufgewogen werden.
Zu Sicherheitsarchitekturen für den nordeurasisch-transatlantischen Raum: Auch hier gilt, dass Russland nicht auf Sonderbehandlung pochen kann. Wenn Moskau eine neue Sicherheitsarchitektur für Europa schaffen will, muss es dafür Verbündete suchen, diplomatische sowie kulturpolitische Aktivität entfalten, wissenschaftlich fundierte Begründungen liefern und konkrete Schritte einleiten. Eine bloße Annonce des Wunsches nach einer solchen Architektur ist nicht ausreichend. So funktionieren internationale Beziehungen nicht.
Eine Mitgliedschaft Russlands in der NATO wäre sehr wünschenswert, ist aber aber ebenfalls nicht mit bloßen Andeutungen in dieser Hinsicht zu erreichen. Die NATO ist ein alter, großer, schwerfälliger und mächtiger Klub mit Regeln und Traditionen. Wer dem Klub beitreten will, muss sich ausdrücklich um eine Mitgliedschaft bemühen, Lobbyarbeit betreiben, die eigene Bevölkerung überzeugen, sein Militär entsprechend anpassen und die Klubregeln vollständig akzeptieren. All dies ist derzeit außerhalb des Vorstellungsbereichs der russischen Elite, die bislang fest daran glaubt, dass die Welt sich um Russland dreht. Wie auch im Fall einer Assoziation mit der EU, scheint in Moskau die hypothetische Diskussion einer NATO-Mitgliedschaft darauf hinauszulaufen, dass sich diese großen Organisationen für die Herstellung enger Vertragsbeziehungen zu Russland selbst verändern und Moskauer Wünschen anpassen müssen. Hoffentlich wird diese erstaunlich hartnäckige Illusion mit den Jahren verschwinden.
China, China, China… – ist eine rhetorische Allzweckwaffe, die man – so scheint mir – in jede gerade gewünschte Richtung einsetzen kann. Klar ist zwar, dass die Macht Chinas weiter rapide wachsen wird. Was genau dieser Machtzuwachs und seine weltpolitischen Folgen für Russlands Staat, internationale Stellung sowie Wirtschaft, die russisch-chinesischen Beziehungen, die russisch-westlichen Beziehungen und Russlands Interessen in Asien bedeuten, ist für mich zumindest nicht ohne weiteres vorhersehbar. Offensichtlich ist lediglich, dass China und Indien in Zukunft eigenständige und machtvolle Pole in der Weltpolitik sein werden und dass ihr Aufstieg den Anspruch des ökonomisch stagnierenden und demographisch sowie sozial regressierenden Russlands auf eine ebensolche Rolle als immer unseriöser erscheinen lassen wird. Welche außen- und innenpolitisch Folgen diese Entwicklung für und in Russland haben wird, ist der Phantasie des Beobachters überlassen.
Wipperfürths letzter Punkt widerspricht meiner Argumentation ebenfalls nur scheinbar. Meine Idee einer russisch-europäischen Assoziation nach dem Vorbild der besonders weit gehenden EU-Freihandelsverträge mit der Ukraine, Georgien und Moldova ist lediglich etwas ambitiöser als Wipperfürths gemeinsamer Wirtschaftsraum von Wladiwostok bis Lissabon. Ich nehme an, dass Wipperfürth sogar meine Variante präferieren würde, wenn sie denn nur möglich wäre.
Ich denke, wie auch Wipperfürth, dass für den Westen mit der jetzigen russischen politischen Führung und öffentlichen Meinung kaum etwas Größeres verwirklicht werden kann. Der heutige geistige Zustand der russischen Elite und Bevölkerung scheint mir allerdings nur ein Phänomen auf Zeit zu sein. Sowohl das politische System Putins als auch sein Eurasienprojekt sind letztlich bloße Blasen, die irgendwann platzen werden – freilich mit wahrscheinlich erheblichen Kollateralschaden im In- und Ausland.
Ich sehe keinen Weg, dieses hochriskante, jedoch andererseits auch hoffungsvolle Szenario zu verhindern. Ohne einen rasanten Wiederanstieg der Ölpreise, wird sich die russische Kleptokratie früher oder später selbst zerfleischen – unabhängig davon, wie sich der Westen verhält. Ohne eine tiefgehende Wirtschafts- und Staatsreform, wird den Russen in nicht allzu ferner Zukunft klar werden, dass ihr athletischer Kaiser noch weniger Kleider anhat, als auf einigen seiner populären Fotos.
Wipperfürths Antwort
Umland und ich sind uns beim Wichtigsten einig: Der Westen und Russland sollten ihre Kräfte zu einem Zukunftsprojekt zusammenfassen. Das ist zentral und ermutigend, denn es gibt viele Stimmen, denn „den Russen“ sei seit Jahrhunderten grundsätzlich nicht zu trauen und man müsse sie auf Dauer ausgrenzen, um Frieden und Stabilität zu wahren.
Ich gehe nun auf zentrale Aussagen Umlands ein und antworte darauf:
- Umland schriebt: Die Aufnahme in die G7 sei eine „enorme westliche Vorleistung für Moskau“ gewesen.
Wipperfürth: Intensive Kontakte mit einem der führenden Länder der Welt und unseres Kontinents sind kein Zugeständnis, sondern eine Notwendigkeit. Darüber hinaus wird man in Russland, wenn bloße Gesprächsbereitschaft bereits als Zugeständnis gewertet wird, „westliche Arroganz“ vermuten, die Widerwillen weckt. Die von mir geschilderte Story der G8-Finanzministertreffen war keine „episodische Diskriminierung“, wie Umland schreibt, sie trug systematische Züge. Und letztlich fordert Umland sie geradezu, wenn er an anderer Stelle „die zumeist (!) demonstrative Gleichbehandlung Putins bei den medienwirksamen Treffen der G8“ für einen Fehler hält.
- Umland schreibt: Russland solle westliche Standards übernehmen (Rechtsstaatlichkeit, Demokratie u.a.) und der Westen in diesem Fall eine Aufnahme in die EU und die NATO in Aussicht stellen. Er ist offenbar der Ansicht, die politischen und wirtschaftlichen Mängel ließen dem Land zu einer tiefgreifenden Verwestlichung letztlich keine Alternative.
Wipperfürth: Die Perspektive einer Integration in den Westen besaß vor 15, ja noch vor 10 Jahren eine gewisse Realisierungschance, nunmehr jedoch nicht mehr. Einige westliche Länder wollen Russland bereits seit eh‘ und je grundsätzlich ausgrenzen. So verhinderten Polen und Litauen bereits lange vor der Ukrainekrise wiederholt mit ihrem Veto, dass sich die EU und Russland näher kamen, weitere Beispiele ließen sich nennen. Berlin und einige andere sandten positive Signale an Moskau, Washington oder etwa London aber vermittelten fast durchweg, Russland nicht als (potenziellen) Partner, sondern als Konkurrenten zu sehen, den man außen vor halten will. Diese Haltung hat einen erheblichen Teil dazu beigetragen, dass sich der Westen und Russland nicht näher kamen und letztlich entfremdeten. Und sie wird zunehmend stärker, leider auch in Deutschland. Ein EU-Beitritt Russlands ist noch unwahrscheinlicher als derjenige der Türkei, den Brüssel und Ankara 1963 ins Auge fassten und über den seit 2005 erhandelt wird.
Es wäre aber zu einfach, eine Seite als bindungswillig und die andere als -unwillig zu zeichnen: Russland ist auf der Suche nach sich selbst, nach einem innen- und außenpolitisch dauerhaft tragbaren System. Etwas anderes ist nach dem traumatischen 20. Jahrhundert noch auf lange Jahre nicht zu erwarten. Russland war und ist noch nicht in der Lage, sich zu verorten und zu entscheiden.
Dass die tiefgreifenden politischen und wirtschaftlichen Mängel zu der Verwestlichung Russlands führen, wie Umland erwartet, ist möglich, aber nicht besonders wahrscheinlich: Zum einen ist die große Mehrheit der Bevölkerung der Ansicht, dass die westliche Führung, der Moskau in den 1990er Jahren folgte, ihnen und ihrem Land nicht gut getan hat. Das wird lange nachwirken. (Ob Russland westlicher Führung unter Jelzin tatsächlich folgte halte ich für zweifelhaft, aber sowohl die Anhänger als auch die Kritiker des Kremls gehen davon aus.)
Außerdem ist das pro-westliche Lager in den letzten Jahren in Russland noch weiter geschrumpft. So glaubt kaum noch jemand, der Westen verhalte sich völkerrechtskonformer als ihr eigenes Land. Der Westen tut einiges, dass dies so bleibt. Ein Beispiel: Die Luftangriffe der USA, Großbritanniens und Frankreichs im Frühjahr 2018 auf vermeintliche syrische Giftlabors – in denen sich aber kein Gift befand, was den Westmächten natürlich bewusst gewesen sein muss – waren (nicht nur) nach der Einschätzung des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages unzweideutig völkerrechtswidrig. (Abrufbar hier) Vielleicht war die syrische Führung tatsächlich für einen vorhergehenden Giftgaseinsatz verantwortlich, diese Frage kann hier nicht erörtert werden. Maßgeblich ist, dass es der Westen mit dem Völkerrecht, wenn es opportun erscheint, nicht so genau nimmt, also sich genauso verhält, wie Russland vorgeworfen wird.
Moskau hat nicht einmal mehr Interesse an einer Aufnahme in die G7, denn die relevanten Entscheidungen werden nicht mehr dort, sondern im Rahmen der G20 getroffen. Westliche Länder wollten Russland 2014 übrigens auch aus den G20 ausschließen, sind aber gescheitert. Die Bereitschaft anderer Länder, der Führung des Westens zu folgen ist in den vergangenen Jahren in einem ungewöhnlichen Maße erodiert, was sich fortsetzen dürfte. Die Weltordnung wird zunehmend von anderen Akteuren als dem Westen bestimmt. Hierzu zählt nicht zuletzt China.
Russland besitzt in zahlreichen Bereichen Modernisierungsbedarf. Es wird sich weiter und hoffentlich dynamischer modernisieren, nicht zuletzt um den Menschen ein gutes, sicheres und längeres Leben zu ermöglichen. Der Westen bleibt hier durchaus ein Vorbild, aber nunmehr eines neben anderen. Modernisierung bedeutet nicht mehr notwendigerweise Verwestlichung.
Eine russische Modernisierungsstrategie, die dazu führt, dass die innen- und außenpolitischen Richtlinien Moskaus in Washington und Brüssel definiert werden, was Umland zu erwarten scheint, halte ich für nahezu ausgeschlossen. Es ist meines Erachtens nicht nur unrealistisch, sondern gefährlich darauf zu bauen.
- Umland meint, Russland sei im Hinblick etwa auf eine Neue Sicherheitsarchitektur nicht aktiv geworden.
Wipperfürth: Diese Ansicht kann ich nicht teilen. Als der neue Präsident Medwedew vor genau zehn Jahren in Berlin eine neue Gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur vorschlug blieben die Vorschläge tatsächlich vage, Moskau konkretisierte sie jedoch im November 2008. Deutschland und einige andere waren zu konstruktiven Verhandlungen bereit, andere westliche Länder jedoch nicht („den Russen ist nicht zu trauen …“). So versandete der Prozess.
Auch im Energiebereich unterbreitete Russland konkrete Vorschläge. Medwedew schlug im April 2009 ein Energieabkommen vor, das alle Energieträger (Öl, Gas, Kohle, elektrische Energie) betraf. Moskau war der Ansicht, die Umsetzung der Vorschläge würde die Interessen der Produzenten (also die eigenen), sondern auch die der Abnehmer sowie der Transitländer befriedigend berücksichtigen und zu verlässlichen Vertragsbeziehungen führen. Die Bundesregierung war nach anfänglichen Bedenken zu einem Dialog bereit, nachdem Moskau deutsche Vorschläge aufgenommen und Konzessionsbereitschaft angedeutet hatte. Sogar der bekanntlich „russlandkritische“ EU-Kommissionspräsident Barroso erklärte schließlich, dass einige der russischen Vorschläge „sehr nützlich“ seien, und Experten teilten diese Einschätzung. Die Vorschläge beinhalteten z.B. einen rechtlich verbindlichen Schiedsgerichtsprozess vor jegliche Lieferunterbrechung zu setzen. – Bekanntlich führten die Transitunterbrechungen zwischen Russland und der Ukraine wiederholt zu Kontroversen. – Ein verbindliches Schiedsgericht wäre zweifellos ein großer Fortschritt gewesen. Letztlich aber verhallte Medwedews Initiative im Westen ohne Resonanz.
Diese geschilderten Vorgänge waren typisch. Man könnte weitere nennen, auch aus den letzten Jahren. Russland vermutete hinter dem Desinteresse unfreundliche Absichten. Das ist einer der Hintergründe der Tragödie um die Ukraine seit 2014.
- Umland schreibt von einem „Eurasienprojekt“ Putins
Wipperfürth: Er tut dies eher beiläufig, aber ich möchte auf das Thema eingehen, da es häufig als Beleg für imperialistische Ambitionen Moskau herhalten muss: Putin hat die „Eurasische Wirtschaftsunion“ (EWU), auf die zeitweise tatsächlich große Hoffnungen gesetzt wurden, in seiner zentralen Rede bei seinem erneuten Amtsantritt in diesem Frühjahr nur ganz beiläufig erwähnt. Es handelt sich um kein Projekt, dem besondere Bedeutung beigemessen wird oder für dessen Realisierung man bereit wäre, große Anstrengungen zu unternehmen. Die EWU ist wichtig, aber kein zentrales Projekt Moskaus. Die Entwicklung der EWU verläuft auch schleppend, denn jeder Mitgliedsstaat besitzt in ihren zentralen Organen das gleiche Stimmrecht. Nicht gerade ein Indiz dafür, dass Moskau die Nachbarn unterjochen will. Kasachstan und Weißrussland haben übrigens von ihrem Vetorecht wiederholt und erfolgreich Gebrauch gemacht.
Kommen wir zum Schluss: Umland schreibt: „Ich nehme an, dass Wipperfürth sogar meine Variante „z.B. den EU-Beitritt Russlands“ präferieren würde, wenn sie denn nur möglich wäre.“ Er hat Recht. Ich wiederhole gleichwohl meinen Vorschlag, einen gemeinsamen Wirtschaftsraum von Wladiwostok bis Lissabon anzuvisieren. Denn Umlands Vorschläge sind unrealistisch, wie ich oben kurz zu zeigen versucht habe: es ist nicht vorstellbar, dass der Westen will und Russland kann bzw. überhaupt noch möchte.
Unrealistische Pläne werden beiderseits ebensolche Erwartungen hervorrufen, die dann in eine tiefe Enttäuschung münden. Dies ist in den westlich-russischen Beziehungen in den letzten 30 Jahren mehrfach geschehen.
Wir müssen aufpassen, dass wir Russland nicht an China verlieren, weniger gesellschaftspolitisch als geostrategisch. Das wäre nicht im Interesse Deutschlands oder des Westens. Und wohl noch weniger in demjenigen Russlands. Gegenüber Russland werden zahlreiche Anschuldigungen erhoben, die teils stichhaltig, zu oft aber fadenscheinig sind. Dies könnte Moskau in Verbindung zu stetig wachsenden Sanktionen an die Seite Pekings treiben.
Realistisch und notwendig sind viele kleine Schritte: Verhandlungen über Rüstungskontrolle, über die Sicherheit im Cyber-Bereich, Visaerleichterungen und letztlich Lissabon-Wladiwostok …
Deutschland muss und kann initiativ werden. Jetzt.
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