Was soll verändert werden?Schneider, Dr. Lic. Eberhard © Schneider

Was soll verändert werden?

[Dr. Eberhard Schneider] Am 5. November 2019 veröffentlichte die Zeitung „Wedomosti“ einen Artikel unter der Überschrift „Fast 60 % der Russen befürworten entscheidende Veränderungen im Land“.[1] Dem Artikel liegt eine Analyse der Befragung von 1.600 Personen in ganz Russland im Juli 2019 über die Notwendigkeit von Veränderung zugrunde, die im Auftrag von Carnegie Moskau durchgeführt worden war.[2] Autoren der Studie sind Andrej Kolesnikow, seit 2012 Geschäftsführer der Zeitungsholding „Kommersant“, Leiter des Programms „Innenpolitik“ von Carnegie Moskau und Mitglied des Kremlpools der Journalisten, und Denis Wolkow, Stellvertretender Direktor des Meinungsforschungsinstituts „Lewada-Zentrum“. Der Anteil der Russen, die für Veränderungen im großen Maßstab im Lande plädieren, ist innerhalb von zwei Jahren von 42 % auf 59 % gestiegen, kleine Änderungen befürworten 31 %, keine Änderungen 8 %.

Veränderungsprioritäten

Die Frage nach den vorrangigen 15 Veränderungswünschen anhand einer offenen Liste ergab folgendes Ergebnis (jeweils in %):

Erhöhung der Löhne, der Renten, des Lebensstandards 24
Veränderung der Regierung, des Präsidenten, der Staatsmacht 13
Reduzierung der Wohnungs- und Versorgungstarife, der Preise für Medikamente und Lebensmittel 11
Bekämpfung der Korruption 10
Erschwingliche Medizin 9
Zugang zu erschwinglicher Ausbildung 8
Schaffung von Arbeitsplätzen und Beschäftigung 7
Ankurbelung der Wirtschaft 6
Umverteilung der Ressourcen an die Armen auf Kosten der Reichen 6
Änderung der Einstellung der Staatsmacht den Menschen gegenüber 5
Abbruch der Rentenreform 4
Durchführung von demokratischen Reformen 4
Betreibung von Innenpolitik 3
Bereitstellung von erschwinglichem Wohnraum 2
Unterstützung des Dorfes 2

Aus dem Ergebnis ist zu ersehen, dass die wirtschaftlichen und sozialen Änderungswünsche vor den politischen dominieren. Es wurden nur vier Änderungswünsche hinsichtlich der Politik formuliert, wobei nur einer im zweistelligen Bereich zu finden ist, dort aber an zweitwichtigster Stelle, nämlich die Veränderung der Regierung, des Präsidenten und der Staatsmacht mit 13 %. Dieser Veränderungswunsch ist ziemlich allgemein gehalten, weil den Befragten wohl die genaue Kenntnis des russischen politischen Systems fehlte bzw. sie sich eventuell nicht konkreter äußern wollten.

Im einstelligen Bereich bewegt sich der Wunsch nach Änderung der Einstellung der Staatsmacht den Menschen gegenüber, wobei gemeint sein dürfte, dass die Behörden sich der Bevölkerung gegenüber nicht so herablassend verhalten sollen. Mit der Forderung, Innenpolitik zu betreiben, ist wohl eine Kritik an Präsident Wladimir Putin gemeint, der sich im Grunde fast nur noch für Außenpolitik interessiert.

Folgendermaßen sieht das Befragungsergebnis aus, wenn Antworten vorgegeben werden, die nur gewichtet werden mussten (in %):

Absenkung der Inflation und der Preise 45
Verbesserung der Qualität der medizinischen Versorgung 41
Wohnungs- und Versorgungsreform, Verbesserung der Wohnverhältnisse 40
Entwicklung der Landwirtschaft 31
Verbesserung der Bildungsqualität 28
Verbesserung der Qualität der öffentlichen staatlichen Dienstleistungen 14
Aufhebung der Sanktionen 10
Einführung eines kapitalgedeckten Teils der Renten 10
Erhöhung der Kampfbereitschaft der Armee 10
Sicherstellung freier und ehrlicher Wahlen 9
Verbesserung der Beziehungen zum Westen 9
Gewährleistung der Unabhängigkeit der Gerichte 8
Begrenzung des Einflusses der Silowiki 5
Garantie des Rechts auf Privateigentum 5
Ausweitung der demokratischen Rechte und Freiheiten 4
Verringerung der Regulierung der Wirtschaft 3

Bei der Beantwortung der vorgegebenen Fragen rangieren die politischen Änderungswünsche nur im einstelligen Bereich, an oberster Stelle mit 9 % nach freien und ehrlichen Wahlen, gefolgt von dem Verlangen nach unabhängigen Gerichten mit 8 % und der Begrenzung des Einflusses der Silowiki (Geheimdienste, Innenministerium, Armee) mit 5 %. Die verteidigungspolitische Frage nach der Erhöhung der Kampfbereitschaft der Armee wurde von 10 % für berechtigt gehalten, der außenpolitischen Frage nach der Verbesserung der Beziehungen zum Westen stimmten 9 % zu.

Veränderungen wollen am stärksten die Jugend (45 %), gefolgt von den minderbemittelten Schichten (42 %), den Rentnern (38 %), der Mittelklasse (35 %) und den Staatsangestellten (23 %).

In den letzten zwei Jahren wurde ein Anstieg der Prozentwerte bei denjenigen Gruppen festgestellt, die an politischen Veränderungen am wenigsten interessiert sind:

  • Beamte und Bürokraten (von 56 % auf 69 %),
  • Oligarchen und Großbusiness (von 52 % auf 67 %),
  • Wladimir Putin und seine Umgebung (von 15 % auf 25 %).

Veränderungen sind für 53 % nur unter wesentlichen Änderungen des politischen Systems vorstellbar, für 34 % im Rahmen des bestehenden politischen Systems.

Die Erfahrungen folgender Staaten wurden als Vorbild für Russland gesehen: nur eigene Erfahrung (29 %), China (18 %), Belarus (12 %), Deutschland (10 %), Schweden (9 %), Japan (6 %).

Über die Rolle des Staates bestanden folgende Vorstellungen:

  • Politik: Macht soll auf verschiedene Strukturen verteilt sein, die sich gegenseitig kontrollieren (46 %), alle Macht soll in einer Hand konzentriert sein (45 %).
  • Wirtschaft: Staat soll aktiv in die Wirtschaft eingreifen und die Preise regulieren (74 %), Staat soll nicht in die Wirtschaft eingreifen, der Markt soll alles regeln (18 %).

Diese Antworten geben die nahezu prozentgleiche Spaltung des Landes hinsichtlich pluralistischer und autoritären politischer Systemvorstellungen wieder. Bezüglich der wirtschaftlichen Rolle des Staates ist nur ein Viertel der Befragten für Marktwirtschaft, drei Viertel sind für eine staatlich gelenkte Wirtschaft, eine Art Planwirtschaft?

Zu dem Thema Veränderungsverlangen passt die Mitteilung des „Zentrums für Sozial- und Arbeitsrechte (ZSTP)“ vom 25. November 2019 in der Zeitung „Kommersant“: Im 3. Quartal 2019 fanden in  Russland mehr als 580 Proteste statt, seit Anfang diesen Jahres 1.443, eine Rekordzahl der letzten Jahre.[3] Laut Untersuchung der Forscher finden in Russland jährlich 1.200 bis 1.500 Straßenproteste statt. Nach Meinung des präsidialen „Rats für Menschenrechte (SPTsch)“ hängt das Anwachsen der Protestaktivität mit den „offiziösen Lügen“ zusammen.

Verfassungsreform?

Als erster trat mit der Überlegung zu einer Reform der Verfassung der Vorsitzende des Verfassungsgerichts, Walerij Sorkin, am 9. Oktober 2018 in der offiziösen Zeitung „Rossijskaja Gazeta“ an die Öffentlichkeit, indem er u.a. das „Fehlen eines angemessenen Gleichgewichts im System der gegenseitigen Kontrolle, ein Gefälle zugunsten der Exekutive“ feststellte[4]

Im folgte konkreter am 6. April 2019 der Vorsitzende der Staatsduma, Wjatscheslaw Wolodin, in seinem Interview auf der Seite seiner Parlamentskammer, in dem er vorschlug, dass die Staatsduma an der Regierungsbildung beteiligt sein könnte.[5] Dazu sei eine Änderung der 25jährigen Verfassung notwendig. Bei der Beurteilung der einzelnen Ministerien sei „zumindest“ die Teilnahme der Abgeordneten vorzusehen. Gegenwärtig stimmt die Staatsduma dem Präsidenten nur zur Ernennung des Premierministers zu, und der Präsident entscheidet dann über die Zusammensetzung der Regierung auf Vorschlag des Premiers.

Am 17. Juli 2019 veröffentlichte Wolodin in der Parlamentszeitung zu seinen damaligen Vorschlägen einen Aufsatz unter der Überschrift „Lebendige Verfassung der Entwicklung“, in dem er für ein Gleichgewicht der Machtzweige plädierte.[6] Er sprach sich erneut dafür aus, dass die Staatsduma bei der Ernennung von Regierungsmitgliedern zumindest an den Konsultationen teilnehmen darf, wofür eine Verfassungsänderung erforderlich sei. Für die Aktualisierung der Verfassung gab Wolodin folgende Formel aus: „Grundlegende verfassungsrechtliche Normen und Werte bleiben unverändert. Andere Bestimmungen der Verfassung können sich weiterentwickeln und an die moderne Zeit anpassen. Dies sollte jedoch durch die Mechanismen der Qualität der Demokratie, der prozeduralen Sättigung des Gleichgewichts und des Zusammenwirkens der Machtzweige geschehen, die zur Erreichung der verfassungsmäßigen Ziele, insbesondere der Ziele des Wohlfahrtsstaates, erforderlich sind.“

Wolodin folgte der Vorstandsvorsitzende des riesigen staatlichen Technologiekonzerns „Rostech“ und Freund Putins aus der gemeinsamen Zeit in Dresden, Sergej Tschemesow, am 16. September 2019 in seinem Interview für die Wirtschaftszeitung RBK.[7] Er hielt Änderungen der Verfassung für möglich, ohne sie zu präzisieren, und verwies weiter auf Wolodin.

Sind diese öffentlichen Aussagen Versuchsballons, mit denen getestet werden soll, wie Verantwortliche darauf regieren, die Macht des Präsidenten zugunsten der Regierung und des Parlaments zu beschneiden, vielleicht mit Blick auf das Jahr 2024, in dem die derzeitige Amtszeit Putins als Präsident ausläuft? Putin darf laut Verfassung kein zweites Mal hintereinander als Präsident kandidieren, wohl aber für das Amt des Premiers, das dann mit mehr Macht ausgestattet wäre.

[1]              https://www.vedomosti.ru/politics/articles/2019/11/05/815494-pochti-60-rossiyan

[2]   https://carnegieendowment.org/files/Carnegie_Moscow_Article_Volkov_Kolesnikov_Rus_Nov2109_final.pdf

[3]              https://www.kommersant.ru/doc/4170706

[4]              https://rg.ru/2018/10/09/zorkin-nedostatki-v-konstitucii-mozhno-ustranit-tochechnymi-izmeneniiami.html

[5]              https://www.vedomosti.ru/politics/articles/2019/04/07/798515-diskussiya-o-popravkah

[6]              https://www.pnp.ru/politics/zhivaya-konstituciya-razvitiya.html

[7]              https://www.rbc.ru/interview/politics/16/09/2019/5d78cfca9a7947a694099758

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