Zeitenwende oder doch lieber Wendezeit?

Zeitenwende oder doch lieber Wendezeit?

[von Michael Schütz] Gefühlter maßen scheint sich unsere Welt derzeit in ein Chaos aufzulösen. Ein Problem hakt in das nächste und eine Lösung dieses Wirrwarrs erscheint völlig unmöglich. Kreative Geister haben für diesen unbefriedigenden Zustand den Begriff Zeitenwende in die Welt gesetzt. Möglicherweise handelt es sich aber auch um eine Wendezeit, wer weiß das schon so genau. Beruhigen tut es so oder so nicht.

Daher soll hier einmal der Versuch unternommen werden, eine annähernd positive Stimmung zu verbreiten und zu diesem Zweck, die Lage aus einem völlig anderen Blickwinkel zu betrachten. Möglicherweise erscheinen die Probleme dann nicht mehr ganz so dramatisch wie bisher.

Dazu bewegen wir uns scheinbar vom Gegenstand unserer Überlegungen nämlich Russland bzw. seinem Verhältnis zum kollektiven Westen ein wenig weg, werden ihn dabei aber nicht aus den Augen verlieren.

Der Autor würde die Sache aber nicht ansprechen, wenn er darin nicht den Schlüssel zur Lösung sehen würde und somit auch zu einem Wiederaufbau der Beziehungen des Westens zu Russland. Diese Beziehungen sind, positiv ausgedrückt, zerrüttet und daran wird sich auch nicht so schnell etwas ändern, es sei denn im Westen kann sich eine – überfällige – Neuinterpretation der Wirklichkeit durchsetzen.

Ganz grundsätzlich vollzieht sich unsere Existenz immer in einem Dreischritt von Ordnung zu Unordnung zu Neuordnung und wir stehen da im internationalen Geschehen offenbar gerade in der Mitte. Auch wenn eine Neuordnung jetzt noch nicht sichtbar ist, sie wird erscheinen.

Als Ausgangspunkt des Weges möchte der Autor daher sein eigenes Verständnis des Begriffs Zeitenwende zum Ausdruck bringen. Im Gegensatz zu dem bewussten Bundeskanzler, der nach dem 24. Februar 2022 mit diesem Begriff hantiert hat, sollten wir die Zeitenwende doch in einem etwas umfassenderen Sinne wahrnehmen:

Begonnen hat demnach diese Zeitenwende, zunächst noch von allen begrüßt, mit der Wahl Michail Gorbatschows zum KPDSU-Generalsekretär 1985, bzw. mit der Implementierung seiner Perestroika in der Sowjetunion 1987. Das war aber nur der Beginn, gewissermaßen noch nicht die Zeitenwende selbst und dieser Beginn kam mit einem großen Paukenschlag daher: dem Zerfall der Sowjetunion.

Der Westen hat dann allerdings den Fehler gemacht, zu glauben, das sei es wohl auch gewesen und ihn selbst betreffe das ganz und gar nicht.

Aber natürlich meint diese Zeitenwende den Westen im gleichen Ausmaß. Wir stehen da gerade mittendrin in der Veränderung und es wäre daher nicht unwahrscheinlich, den großen Paukenschlag auch auf den Westen niedersausen zu sehen.

In einer Zeitenwende geht es vordergründig um eine Auflösung überkommener Strukturen, aber letztendlich um eine Veränderung des Denkens und der Wahrnehmung. Mit der Kopernikanischen Wende mussten wir unsere Stellung im Universum neu definieren und in unserer gegenwärtigen Zeitenwende werden wir uns – im weitesten Sinne – ebenfalls als Menschen im Kosmos neu verorten müssen. Unsere Zeitenwende wird uns wohl noch die nächsten 10 bis 15 Jahre begleiten, bevor eine Neuordnung auf Schiene gestellt sein wird und Fahrt aufnehmen kann.

Was uns dabei zum Nachdenken anregen sollte, ist folgendes: Begonnen hat diese Zeitenwende in … … Moskau! Da hat jemand verstanden, dass wir mit den alten Denkschemata nicht mehr weiterkommen.

Es gibt einige Leute, die davon sprechen, dass wir gerade in ein revolutionäres Zeitalter eintreten.

Die Frage lautet daher: Ist das so?

Gibt es irgendwo Anzeichen eines revolutionären Geschehens?

Der Autor würde antworten: eindeutig JA!

Die wichtigste Revolution unserer Zeit lässt sich sogar mit einem Datum benennen. Sie hat symbolisch gesehen schon stattgefunden und zwar am 10. Dezember 2022.

An diesem 10. Dezember 2022 wurde in Stockholm der Physiknobelpreis an die drei Quantenphysiker Aspect, Clauser und Zeilinger verliehen und somit gleichsam an die Quantenphysik selbst.

Erwin Schrödinger, selbst Physiknobelpreisträger und einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden durch seine „unentschlossene“ Katze hat diese durch die Quantenphysik vorangetragene Revolution noch mit den vorsichtigen Worten beschrieben, dass wir wohl von unseren liebgewordenen Vorstellungen, wie die Welt beschaffen sei, Abschied nehmen müssten.

Deutlicher wurde da schon der ebenfalls in diesem Bereich arbeitende Prof. Niklas Gisin: „Da geschieht etwas wirklich Befremdliches, etwas außerhalb der Raumzeit. Ich bin davon überzeugt, dass wir an der Schwelle einer neuen Epoche stehen, einer Revolution des Konzeptes von Natur und Welt.“

Stell Dir vor, es ist Revolution und keiner geht hin – das ist unvorstellbar. Stattdessen kann bzw. wird die Quantenphysik den Anstoß dazu geben, die Welt wirklich von Grund auf neu zu denken.

Wir wissen jetzt, dass wir eigentlich nichts wissen und erst am Beginn stehen, die Wirklichkeit des Universums zu erkennen. Die Welt neu denken, hieße z. B. in der Praxis, viele unserer Konzepte, mit denen wir gerade die Welt zu „erlösen“ versuchen, ad acta zu legen.

In der Quantenphysik nimmt ein Begriff eine Schlüsselposition ein, nämlich Information.

Möglicherweise ist die Grundlage allen Daseins Information und auch die Grundlage aller Materie ist Information. Es scheint eine immaterielle Basis der Wirklichkeit zu geben.

Diese Information verhält sich zudem nicht so, wie es erwartbar gewesen wäre. Information ist offenbar immer gegenwärtig und muss nicht wie ein Brief von einem Ort zum anderen getragen werden. Es wäre also wahrscheinlich, dass wir immer Teil dieser Information sind, bzw. die Information Teil von uns ist und sie geht auch nie verloren. Insofern müssen wir unsere Vorstellungen von Information neu definieren, vielleicht in die Richtung, dass Information in das Sein übergeht.

Dass die Grundlage allen Existenz Information sei, könnten wir übrigens schon seit einigen tausend Jahren wissen, denn die jüdisch-christliche Bibel macht doch erstaunlich parallele Aussagen dazu. Manche Leute halten den Urknall daher auch für eine gewaltige Informationswelle, die sich über das Nichts ergossen hat.

Ein sehr oberflächliches Verständnis des Begriffs Information spielt, wie wir wissen, in der politischen Systemkonkurrenz eine wichtige Rolle. Information legt da die Basis für eine sog. hybride Kriegsführung. Meist ist diese Information auch eher Desinformation oder Propaganda und bietet daher keinen Ansatz dazu, irgendwelche Probleme zu lösen.

Die Europäische Union versucht schon seit geraumer Zeit ihren eigenen Informationsraum gegen eine zweite Meinung oder gar Einflüsse aus Russland abzudichten. Das ist auch relativ gelungen, letztendlich führt eine solche Reinigung des Informationsraumes jedoch zu einer Erstarrung des Systems. Erstarrte Systeme verlieren ihre Widerstandskraft und es kann dann bereits ein festerer Windstoß genügen, um sie zum Einsturz zu bringen. Das könnte auch schon in der aktuellen Konfliktlage von Bedeutung sein, bei der eine, in einem sehr weitgehenden Sinne, Säuberung des Informationsraumes eine zentrale Rolle spielt.

Wenn wir den Informationsbegriff etwas tiefgehender fassen, geht es darum, was wir mit unserer Information zum Ausdruck bringen wollen. Welche Botschaften senden wir aus, wes Geistes Kind sind wir, wie interpretieren wir die Welt an sich. Das ist die eigentlich relevante Information, die unsere Wirklichkeit gestaltet, auch unsere geopolitische Wirklichkeit. Deshalb sprachen wir oben auch von einer im Westen überfälligen Neuinterpretation der Wirklichkeit.

Die Information, die das Universum zusammenhält, ist grundsätzlich integrierend und kooperativ ausgerichtet. Daher wird auch auf lange Sicht gesehen eine integrierende Weltsicht erfolgreicher sein, als die zum Beispiel vom Westengetragene Strategie des Teile und Herrsche. In Folge einer solchen Strategie sieht man überall nur Feinde, mit einem Oberfeind im Kreml. Ein derart gespaltenes Denken kommt mit der Grundinformation im Universum nicht zurecht und wird daher irgendwann an den Punkt des Scheiterns gelangen.

Wir leben also in einer Zeitenwende, die sich in einer Revolution der Wahrnehmung der Wirklichkeit, ausgelöst durch die Quantenphysik, ausdrückt. Damit verbunden ist offenbar auch eine Neuentdeckung der Spiritualität.

Wir können daher mit einer gewissen Zuversicht davon ausgehen, dass wir den jetzigen Zustand unserer Welt nicht einfach fortschreiben werden, sondern damit beginnen, unsere Erzählungen über die Welt umzuschreiben. Deswegen hält es der Autor auch für wahrscheinlich, dass wir die Beziehungen des Westens zu Russland in absehbarer Zeit neu aufsetzen werden. Neu heißt, nicht so wie bisher, sondern eben anders.

Kehren wir noch einmal zurück zum Begriff Zeitenwende, der jetzt so missverstanden durch die Medien geistert. Wenn wir dabei auf bereits stattgefundene Epochen einer Zeitenwende zurückblicken, können wir besser sehen, wie der Begriff zu verstehen ist. Die Geschichte wird sich nicht wiederholen, aber wir werden uns vielleicht trotzdem im Spiegel der Geschichte wiedererkennen können.

Eine vorangegangene Zeitenwende haben wir oben schon angesprochen: die Kopernikanische Wende. Als Kopernikus seine Erkenntnis entwickelte, dass sich die Erde um die Sonne bewegt und nicht umgekehrt, kam es gleichzeitig auf politisch-gesellschaftlichem Gebiet ebenfalls zu einer radikalen Umwälzung: der Reformation.

Luthers angeblicher Thesenanschlag fand 1517 statt, der Augsburger Religionsfrieden wurde 1555  beschworen. Dazwischen lagen viel Kampf und Krampf an deren Ende sich der Kaiser – das war damals Karl V., ein Mann mit 71 Fürstentiteln und dem Machtanspruch auf ein Weltreich – erschöpft und frustriert in ein Kloster zurückgezogen hat. Endgültig ausgekämpft war dieser Konflikt aber erst 1648 mit dem richtungsweisenden Westfälischen Frieden.

Wenn man die Reformation völlig untheologisch und vereinfachend auf eine allgemeingültige Ebene herunterbrechen würde, dann könnte man diesen Vorgang eben als den Versuch beschreiben, eine zweite Meinung zu etablieren und damit auch einen Debatten- und Diskussionsraum zu eröffnen. Luther wollte mit seinen Thesen ursprünglich keine eigene Kirche begründen, sondern einen erstarrten und mit Angst operierenden Machtapparat wieder ins Fließen bringen.

So wahrgenommen, wird vielen von uns diese Zeitenwende des 16. Jahrhunderts gar nicht mehr so fremd oder entrückt erscheinen. Zumindest im Deutschen Sprachraum kann man derzeit ähnliche Erfahrungen machen:

Wie können wir in einem gesäuberten Informationsraum, in dem Politik und traditionelle Medien eine fixe Linie vorgeben, eine zweite Meinung etablieren, die noch dazu sehr viel mit unserem Verhältnis zu Russland zu tun hat? Die massiven Attacken der sog. Öffentlichkeit auf prominent vorgebrachte Forderungen nach einem Frieden mit Russland seien hier nur als Beispiel genannt.

Es scheint so, als ob eine Zeitenwende immer aus zwei Teilen bestehen würde: aus einer geistigen Revolution und gleichzeitig einer handfesten Umwälzung in den gesellschaftlich-politischen Verhältnissen, also gleichsam in der materiellen Welt.

Wenn wir zur nächsten Zeitenwende springen, dem Zeitalter der Französischen Revolution, dann fragt man sich, welche geistige Neuerung dieser gegenüber gestanden ist. Am augenfälligsten ist hier die Aufklärung zu nennen, die in der Person Kants einen Höhepunkt erfahren hat. Der Autor würde aber den Namen Mozart für ebenso wichtig erachten. Über die Musik Mozarts wirkt diese Zeitenwende auch weiterhin in uns fort.

Und unsere gegenwärtige Zeitenwende?

Die Revolution auf geistiger Ebene haben wir oben beschrieben, die auf politischer Ebene erleben wir gerade deutlich.

Aber wie kann man diese politische Ebene deuten?

Wie schon oft auf internationaler Ebene dargestellt, geht es um einen Übergang von einer monopolaren zu einer multipolaren Welt, um eine Loslösung des globalen Südens und Ostens aus der Vorherrschaft des Westens. Oder allgemeiner formuliert: um ein Ende des Kolonialismus. Russland wird in dieser Bewegung von der nicht-westlichen Welt als Nachzügler wahrgenommen, setzt aber mit seinem militärischen Vorgehen in Zentraleuropa einen für diesen Prozess offenbar als bedeutend wahrgenommenen Impuls.

Darüber hinaus wird diese Zeitenwende von verschiedenen Begleiterscheinungen geprägt sein, vor allem einer Demokratisierungswelle, die speziell den Westen durchläuft, vor der sich aber vermutlich auch Russland nicht verschließen kann. Auf globaler Ebene stellt sich diese Welle eben auch als Entwicklung hin zur multipolaren Welt dar.

Die Sichtweise, mit der der Westen auf die Welt schaut, ist stark von Illusionen und veralteten Ideologien geprägt. Zu formulieren, diese Illusionen und Ideologien stünden jetzt auf dem Prüfstand, ist stark untertrieben.

Auch der Westen wird der Zeitenwende nicht entgehen!

Er könnte nur versuchen, diese Wende um einen hohen Preis hinauszuzögern. Doch je eher er bereit ist, die Zeitenwendein einem positiven Sinne mitzugestalten, umso mehr Einfluss wird er schlussendlich generieren können.

Der Autor fände es gar nicht abwegig, wenn die Sonne diesmal ausnahmsweise im Westen aufgeht. Gerade in den USA hat sich zum Beispiel eine starke Szene von geopolitischen Umdenkern herausgebildet.

Dazu verfügt das Land durch seine Ureinwohner über ein Potential der Weisheit und integrierenden Weltsicht, durch die Bürgerrechtsbewegung der 60er Jahre über ein Potential des Protests und Aufbruchs und durch John F. Kennedy sogar über einen Präsidenten, der sich zumindest in einer Rede einst eine friedliche Neuordnung der Welt erträumt hat. Wenn sich all diese Traditionen bündeln, dann wäre ein Neustart in den internationalen Beziehungen möglich, der doch auch in Russland auf großes Interesse stoßen würde.

COMMENTS