Zurück zum Wandel durch HandelRahr, Prof. Alexander © russlandkontrovers

Zurück zum Wandel durch Handel

In diesem Jahr erinnern wir uns an einige wichtige Jubiläen: 50 Jahre Kanzlerwahl Willy Brandts und Beginn der Ostpolitik, 40 Jahre Sowjeteinmarsch in Afghanistan und Neuer Kalter Krieg, 30 Jahre Fall der Berliner Mauer und Ende des Kalten Krieges.

Niemand wird bezweifeln, dass die Welt vor neuen, extremen Umbrüchen steht – und in einem neuen Kalten Krieg. Wir treten in ein neues Zeitalter der Menschheitsgeschichte ein.

Die großen Veränderungen, Umwälzungen, Kataklysmen an die wir uns erinnern, betrafen immer den Westen und Europa. Seit dem Hellenismus, Römischen Reich und später der Aufklärung, wurde die Weltgeschichte vom Westen und Europa bestimmt.

Damit ist es im 21. Jahrhundert vorbei. Asien hat Europa überholt. USA und Großbritannien verlassen Europa. Aus einem angelsächsisch dominierten Europa des 20. Jahrhundert entwickelt sich ein Kontinentaleuropa, bislang heterogen. China expandiert derweilen nach Europa.

Das Nicht-Europäische Zeitalter hat begonnen. So könnte die Weltordnung von  morgen aussehen:  Der alte Westen wird lose weiter zusammen bestehen; die EU jedoch selbstständiger. Im Nordwesten Asiens entsteht ein neues Groß-Eurasien, nicht von Russland, sondern von China angeführt. Länder wie Indien, Pakistan, Iran und Türkei werden sich den Allianzen nicht verwehren. Afrika und der Nahe Osten erleben eine Bevölkerungsexplosion, werden Hautopfer des Klimawandels; der Islamismus wird sich dort ausbreiten.

Wir sind Zeugen von so vielen Ereignissen gewesen, die nach logischem Sachverstand undenkbar, völlig unvorstellbar waren – sogenannte „schwarze Schwäne“.

In Amerika ist mit Trump ein Außenseiter von außerhalb des Establishments zum Präsidenten gewählt worden. Seitdem versuchen die etablierten Herrschaftseliten ihn zu stürzen. Aufgrund der innenpolitischen Auseinandersetzungen in der Supermacht USA, wackelt das gesamte Weltgerüst.

Europa erweitert sich nicht, wie es geplant war, zusammen mit den USA, zu einer transatlantischen Großgemeinschaft. Trump stellt die NATO in Frage, führt Handelskriege mit der EU. Großbritannien schert aus der EU aus, reiche EU-Länder im Norden zanken sich mit den armen im Süden. Mittelosteuropa orientiert sich wieder an nationalen, statt liberalen Werten. Deutschland verliert seine Führungsrolle.

Und Russland? Leider entfernen sich EU und Russland immer weiter voneinander anstatt sich im Rahmen eines gemeinsamen europäischen Raumes von Lissabon bis Wladiwostok zu vereinigen. In den westlichen Führungseliten ist ein historischer Streit darüber entfacht, ob ein künftiges Europa mit Russland oder gegen Russland errichtet werden muss.

Die Befürworter eines gemeinsamen europäischen Hauses sind in der Politik und Medien in der Minderzahl. Die Gegner der deutschen Ostpolitik, die immer auf ein gemeinsames Haus gerichtet war, überwiegen und dominieren den Diskurs.

Man sollte die Entwicklung in Deutschland und Europa ernst nehmen. Es werden mit Hilfe diverser mächtiger Strukturen, die aus Übersee finanziert werden, Strategien entwickelt und Ideen in der Öffentlichkeit verbreitet, wie man die alte Ostpolitik „umdrehen“ könnte. Von einer prorussischen Annäherungspolitik zu einer Eindämmungspolitik.

Vor 50 Jahren hatten die Befürworter der Ostpolitik die Unterstützung der Deutschen Wirtschaft. Heute hält sich die deutsche Wirtschaft aus der Politik heraus. Sie schweigt – oder wird von der Politik jedes Mal attackiert, wenn sie sich Russland annähert. Sie wird brutal vor die Wahl gestellt: wenn sie in Russland bleibt, verliert sie den Zugang zum US-Markt.

Das Gas-Röhrengeschäft war auf eine Politik des Wandels durch Handel ausgerichtet. Russland lieferte an Deutschland Erdgas, Deutschland an Russland die benötigte Fördertechnik. Gemeinsame Abhängigkeiten entstanden und stärkten das Vertrauen. Die Wirtschaft betrieb Friedenspolitik. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion vertieften sich die „Verflechtungen“, die Ostpolitik blühte auf. Nun durften deutsche und westliche Konzerne direkt in die russische Wirtschaft investieren und Ressourcen fördern. Russlands Privatunternehmen verdienten in der Zeit steigender Energiepreise  viel Geld, das sie in die westliche Wirtschaft investierten. Eine Wertschöpfungskette entstand.

Auf dem Petersburger Dialog 2002 erklärte der damalige Kanzler Schröder, die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland seien noch nie so gut gewesen, wie Anfang des 21. Jahrhunderts.

Was für eine Situation haben wir heute? Die alte Ostpolitik wird als Riesenfehler, als Appeasement-Politik gegenüber der Sowjetunion verpönt. Die USA, Regierungen mittelosteuropäischer Staaten und andere Kräfte, wie beispielsweise die Partei der Grünen in Deutschland, warnen vor „gefährlichen Abhängigkeiten“ von Russland. Sie werfen Moskau vor, Energie als Waffe gegen den Westen zu benutzen, und wenden sich gegen eine Energieallianz mit Russland. Russland, das gerade über die Energieschiene jahrzehntelang mit dem Westen verbunden war, soll nun aus Europa ausgestoßen werden.

Der Grund: Russlands Regime sei homophob, totalitär, imperialistisch. Der Westen glaubt, Russland für seine Ukraine-Aggression schmerzlich bestrafen zu können und Moskau zu zwingen, ins diplomatische Fahrwasser der 90er Jahre zurückzukehren, als Russland eine Juniorrolle im Verhältnis zum Westen anstrebte. Die Idee des Wandels durch Handels stirbt einen langsamen Tod.

Bei aller verständlichen Kritik an Rechtsbrüchen und Menschenrechtsverletzungen in Russland: wo bedroht Russland heute Europa? Wer glaubt ernsthaft an die Geschichte von den russischen Hackern, die Trump an die Macht gebracht, den Brexit manipuliert und künftig die Wahlen zum EU-Parlament verfälschen sollen?

Ist es nicht eher so, dass nachdem der CIA-Agent Snowden nach Russland übergelaufen und das gesamte Spitzelwerk seiner Geheimdienste öffentlich gemacht hatte, die Amerikaner den Spieß geschickt umdrehten? Nicht mehr der NSA führte den Cyberkrieg weltweit, auch gegen eigene Verbündete. Nein – die russischen Hacker waren die Bösewichte.

Die Mutter der Konflikte ist und bleibt die NATO-Osterweiterung. Sie hätte gegenüber Russland abgefedert werden müssen. Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz in München 2007 war keine Kriegserklärung an den Westen, sondern eine Warnung, die NATO und die amerikanische Raketenabwehr nicht an die russischen Grenzen zu nähern.

Warum haben wir die Interessen Russlands nicht ernst genommen? Weil wir Russland als Verlierer des Kalten Krieges betrachteten, der in der internationalen Politik keine Bedeutung mehr spielt. Weil manche von uns glauben, Putin sei an allem schuld und sein Sturz würde alles wieder gut machen?

Putin steht für die Interessen Russlands, ob es uns gefällt oder nicht. Rechenschaft ablegen wird er vor seinem Volk. Jedenfalls hat er durch den russischen Militäreinsatz in Syrien die „Regime-Change“ Strategie des Westens zerstört. Zweitens hat er in der Ukraine eine weitere Erweiterung der NATO im Keime erstickt.

Dabei hat er sich nur so verhalten, wie Präsident Kennedy in der Kuba-Krise. Die US-Regierung sagte damals zur Sowjetunion: Keinen Schritt weiter, oder wir schießen. Der USA waren ihre nationalen Sicherheitsinteressen heilig. Die UdSSR trat den Rückzug an.  Und heute? Im Westen Aufrüstung, Eindämmung, Ächtung…

Das Zeitalter Europas und des Westens ist vorbei. Auch wenn viele westliche Eliten es nicht wahrnehmen wollen. Ohne den aufklärerischen Westen als Gestaltungsmacht in der Weltpolitik wird die internationale Politik gefährlicher, chaotischer, rücksichtsloser.

COMMENTS

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    walter finger 6 Jahren

    @Anja Böttcher
    Ich kann jedes Wort von ihnen nur unterstreichen…“Rechtsverstöße und Menschenrechtsverletzungen in Russland“ ..da kann ich nur noch den Kopf schütteln…seit 1990 sind wir in den Westen vereinnahmt und müssen sehen wie eine Regierung die wir nicht gewählt haben eine Vasallenpolitik gegenüber der usppa und ein Russlandhetze an den Tag legen das man sich nur noch abwenden kann.
    Menschen- und Rechtsverstöße gegen das eigene deutsche Volk das einen nur noch graut…auch wenn ein russischer Präsident nicht mehr die Umfragewerte hat wie zB ein XI in China oder er noch vor mehreren Jahren, Ursachen sind bekannt und verwundern nicht, ist das noch lange kein Freipass für die MSM und die verblödeten deutschen Politiker sich so anmaßend zu benehmen.
    Ich frage mich schon lange wo sind wir nur hingeraten…man kann gar nicht soviel Unrat aufzählen wie auf unsere Kosten Politik getrieben wird die wir ablehnen und verurteilen.
    Das russische Volk kann froh sein solch einen Mann an der Spitze zu haben.

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    Horst Beger 6 Jahren

    In seinem verklärenden Rückblick auf die letzten 50 Jahre deutscher und europäischer Ostpolitik geht Alexander Rahr von einer zu positiven Betrachtung des vorwiegend merkantilen Zieles „Wandel durch Handel“ aus. Und seine Behauptung vom „Ende des Kalte Krieges vor 30 Jahren“ ist eine Illusion. Das beweist die NATO-Doktrin, wie sie der erste NATO-Generalsekretär formuliert hat: „Amerika in Europa zu halten, Russland draußen zu halten und Deutschland klein zu halten“, die Alexander Rahr zu Recht als „Mutter aller Konflikte“ bezeichnet. Und auch die katholischen Gründungsväter der Europäischen Union hatten nie das Ziel, Russland einzubeziehen, was sich in den letzten Jahren deutlich abzeichnet. Und „die Interessen Russlands wurden nie wirklich ernst genommen“, auch nicht von der SPD, sonst hätten sie den „Messdiener“ Maasen nicht zu Außenminister gemacht. Das heißt, hinter dem Kampf gegen Russland verbirgt sich auch der Jahrhunderte alte Kulturkampf des westlichen (römischen) Christentums gegen das östliche (russische) Christentum, wie der amerikanische Politologe Samuel Huntington das in seinem „Kampf der Kulturen“ aufgezeigt hat, und der auch dem Ukrainekonflikt zugrunde liegt. Im Hinblick darauf hat Deutschland seine Führungsrolle als ausgleichendes Element in Europa auch „nicht verloren“ sondern verraten.

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    Sehr geehrter Herr Rahr,

    wenn die derzeitigen transatlantisch gezüchteten Funktionseliten ernsthaft glauben, die Bevölkerung, von der sie sich in jeder Hinsicht Äonen entfernt haben, weiter in das Prokrustesbett der US-Hegemonie pressen zu können, um uns alle in eine geopolitische Aggressionsschiene auf den Spuren des kaiserlichen Deutschlands(von die seine Nachfolger unterm Hakenkreuz nur radikalisierten), dann haben diese Leute den Schuss nicht gehört.

    Ist es diesen offensichtlich in einem Paralleluniversum lebenden Leuten nicht aufgefallen, dass sie, obgleich wir in den letzten Jahren als Exportweltmeister Rekorde feiern durften, womit es erst einmal vorbei sein dürfte, derartig erschütternd an Legitimation verloren haben, dass ihnen eigentlich angst & bange werden müsste?

    SPD und CDU haben seit 1972 die Hälfte ihrer Wähler und die Hälfte ihrer Parteimitglieder verloren – obgleich die deutsche Bevölkerung seitdem um über 20 Millionen gewachsen sind? Die deutschen Leitmedien und ihre transatlantisch bestens vernetzten Chefredaktionen haben seit 1992 mehr als die Hälfte ihrer Kunden und Leser verloren. Ähnlich Gewerkschaften, alle gesellschaftlichen Großverbände.

    Was glauben diese Leute, was hier erst los ist, wenn es eine wirkliche wirtschaftliche Krise gibt? Kennen die überhaupt die Zusammensetzung der Bevölkerung, in der sie leben?

    Wie sieht, sozial und herkunftsmäßig, die Zusammensetzung des Personals in unseren aktuellen politischen Institutionen und Lobbynetzwerken aus? Zu 90% stammen sie aus dem westdeutschen Großbürgertum und aufgestiegenen Kleinbürgern in den 70ern bis 90ern. 10% ist transatlantisch besonders eifriges ostdeutsches Personal. Bereits jetzt schwindet der Anteil der Menschen, die sie sozial und politisch als repräsentativ empfinden, immer mehr. Und das ist woanders nicht anders: Wie schnell hat sich der „Hoffnungsträger Macron“ zerlegt? Wann werden die „Gelbwesten“ oder eine ihnen folgende Protestbewegung der Regierung in Paris jede Handlungsfähigkeit rauben? Wie kräftig werden sie die Leute befremden, bis sich schließlich doch Marine Le Pen die Hände reiben kann? Welche Wirkung würde sie dann auf die geopolitische Orientierung Europas haben? Schon jetzt ist die innere Statik der EU die eines Kartenhauses!

    Noch gravierender sieht der Loyalitätsmangel gegenüber unserer hegemonialen Klientel bei der jungen Generation aus: knapp 40% der Schüler an unseren Schulen, bzw. ihre Familien, stammen ursprünglich nicht aus Deutschland – und bringen familiär eine geopolitische Orientierung mit, die eher nicht nordeuropäisch oder angelsächsisch ist. Dieser Anteil wird weiter in den nächsten Jahren zunehmen. Wie setzt er sich aber zusammen?

    Die bis zu 4 Millionen Menschen im Land, die aus russischen, russlanddeutschen oder russisch-deutschen Famlilien stammen, haben in den letzten Jahren still gelitten – und tun es immer noch. Bereits, als nur 100 von ihnen wegen des „Falls Lisa“ vor dem Kanzleramt demonstrierten war das Presse-Geschrei groß, das sich nicht schämte diese leidgeprüfte Gruppe geschichtsvergessen als „5. Kolonne“ zu verschreien, obgleich es ziemlich privat zurückgezogene Leute sind, die sich politisch wenig exponieren.

    Das sähe innenpolitisch ganz anders aus, würde sich Deutschland je geostrategisch gegen die Türkei aufstellen. Dazu haben politisch die 4.8 Millionen türkischstämmigen Bundesbürger nicht wenige Sympathisanten unter den muslimischen Jugendlichen vom Balkan, sowohl bei Kosovo-Albanern wie bei Bosniern, aber auch Turkmenen aus dem Kaukasus. Ich weiß, was für Erfolge in Serienform jugendlich dargebotene neo-osmanische Heldenepen auf Youtube mit serbokratischen Untertiteln unter Heranwachsenden feiern – wie andere netzweise erfolgende politische Werbung von Jugendlichen seitens nationalistischer türkischer Produzenten. Wenn die Türkei und Russland sich Richtung Asien orientieren und der Nahe Osten noch dazu, dann ziehen spätestens in zehn Jahren innenpolitisch aber eine kräftige Fraktion in dieselbe Richtung. Und diese jungen Leute werden in unseren Sicherheitsapparaten, der Polizei sowieso, aber auch in der personell von bürgerlich westdeutsch-geprägten Jugendlichen ziemlich links liegen gelassenen Bundeswehr einen gewaltigen Prozentanteil darstellen.

    Glauben Bundesregierung und Funktionäre transatlantischer Netzwerke ernsthaft, die wertewestlerische Rhetorik würde auch nur bei 20% der derzeitigen Jugendlichen Loyalitätsbedürfnisse auslösen? Auch das Verhältnis ostdeutscher Jugendlicher zu unserer Nomenklatura ist mit „Entfremdung“ nur milde umschrieben.

    Bundesregierung und sie umschwirrende Lobbysphäre, inklusive der Nato- und US-Netzwerke und ihrer Meinungsingeneure scheinen, je deutlicher ihre Legitimationskrise, umso heftiger, autistischer und panikartiger in die oben skizzierte Richtung zu ziehen – aber ich schätze, da haben sie die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Je schriller sie in die Bevölkerung reinruft, umso mehr wenden sich gleichgültig, zornig oder verächtlich ab. Die Fliehkräfte sind gewaltig. Sie werden im schwarz-grünen Milieu immer genügend Bürgerkinder finden, die ihnen werterhetorisch schöne Konfrontationspapiere schreiben, aber immer weniger, die die damit verbundene Politik durch Steuern, Geschäftseinbußen, erst recht aber nicht mit physischen Risiken umzusetzen bereit wären. Sie werden sich so lange in einer hermetisch von der Entwicklung der gesellschaftlichen Basis abgeschirmten Exklusivspäre einkapseln können, bis eine wirkliche Krise das Fass zum Überlaufen bringt. Und dann kann es richtig knallen. Die Frage ist angesichts der dramatischen Entwiklung nur: Wird es zunächst außen- oder innenpolitisch knallen? Kommt zuerst ein Krieg oder ein Bürgerkrieg? Denn dagegen, dass die zweifellos frustrierende oben dargelegte Entwicklung sich einfach nur statiscch vollziehen könnte,sprechen so viele Brandherde innerhalb und um unsere Gesellschaft, dass dies unwahrscheinlich ist.

    Herr Rahr, Sie schreiben, dass die Schwächung des „aufklärerischen Westens“ in der Welt dramatisch sei. Dass Tragischste daran sehe ich aber darin, dass dieser Westen seit 1990, in der Stunde ungeheurer Chancen, seine eigenen historischen Grundlagen dadurch verspielt hat, dass er sie selbst zerstört hat.

    Er hat den Liberalismus, der für unparteiische, neutrale und vom Anspruch her universale Rechtsprinzipien stand, zu einem identitären Etikett erhoben, für dessen Hegemonie er just diese Rechtsprinzipien brechen zu dürfen beanspruchte. Er hat im Namen der Menschenrechte Hegemonialkriege geführt, in deren Verlauf er just die Verachtung dieser Menschenrechte triumphal zelebriert hat. Wer glaubt, die Bilder von Sadam Hussein im Erdloch, die TV-Demonstration des abgeschlachteten Osama Bin Laden, der, anders als die Völkermörder des NS keinen fairen Strafprozess erhalten hat, die erniedrigten Gefangenen von Abu Graib und Guantanamo, die Allianz mit Saudi Arabien und die geopolitische Instrumentalisierung von Islamismus und ukrainischen Neonazis hätten sich nicht ebenso tief in das kollektive Gedächtnis der Menschheit eingebrannt wie der verlogene Auftritt von Colin Paul vor dem UN-Sicherheitsrats zur Rechtfertigung des im Ergebnis so katastrophalen völkerrechtswidrigen Angriffskriegs gegen den Irak oder der geschmacklose TV-Auftritt von US-Außenministerin Hillary Clinton nach der fatalen Liquidation von Gadafi, der hat sich geirrt. Wer auch nur die entfernteste Beziehung zur europäischen Kulturgeschichte hat, dem ist ihr ebenso dummes wie zynisches „We came, we saw, he died hahaha“ in peinvoller Erinnerung geblieben.

    Das Katastrophale an der Politik des US-geführten „Westens“ seit 2015 ist, dass er nicht etwa nach fremden, sondern seinen eigenen ethischen Maximen so fürchterlich versagt hat, dass er jegliche moralische Legitimation verloren hat. Auch in den Augen der eigenen Bevölkerungen, was vielleicht noch das Tröstlichste daran ist: Es gibt zu der Politik der blinden Zerstörung und der auf Doppelmoral beruhenden Hybris zumindest keine Bilder jubelnder US-amerikanischer oder europäischer Massen, die im millionenfachen Chor die Frage „Wollt ihr die totale Hegemoie?“ mit einem hysterischen „Jaaa“-Geschrei beantworten. Ob uns das irgendwer zugute hält, weiß ich nicht: Aber als Bevölkerung mögen wenigstens wir uns dies zugestehen.

    Mir liegt, als jemand, dem staatsbürgerlich die kantische Ethik als eine gute und solide Grundlage erscheint, jede apologetische Haltung gegenüber irgendeiner Regierung fern, inklusive der eigenen. Ich käme nie auf die Idee, für die Frage, wie der russische Präsident als Regent zu beurteilen sei, irgendjemand anders für entscheidungsbefugt zu halten als die Bürger Russlands. Aber es gibt eine Rede von ihm, seine Rede vor der UN-Vollversammlung von 2015, von der ich jeden Satz hätte unterschreiben können, weil sie, ohne konkrete Namen zu nennen, nach einem Resümee über die US- und Nato-geführte Nahostpolitik eine Frage stellt, die sich mir selbst aufdrängt: „Wissen die, die das zu verantworten haben, eigentlich, was sie da tun?“ Wissen sie, was sie seit 1990 verbrochen haben? Außerhalb ihrer Grenzen, aber auch an uns, ihren Bürgern?

    Die Basis, auf der unsere Gesellschaft inzwischen ruht, ist so marode geworden, dass sie nicht halten wird. Wenn wir einen Kollaps verhindern wollen, der so dramatisch verlaufen könnte wie der nach dem Untergang der mittelalterlichen Welt oder zur Zeit des 30jährigen Kriege des 17. und 20. Jahrhunderts, brauchen wir eine wirklich ernst gemeinte Grundsatzdebatte mit jeder Bereitschaft zur Selbstkorrektur, inklusive eines freiwilligen Gangs nach Canossa. Drunter wird die Wiedergewinnung eines beständigen Fundaments unserer Gesellschaften nicht zu erlangen sein. Sonst landen wir in einer Katastrophe. Ich verstehe nicht, wie dies irgendeinem intelligenten und reflexionsfähigen Menschen noch verborgen sein kann.