Zurückgehendes Vertrauen zu Putin und den politischen ElitegruppenSchneider, Dr. Lic. Eberhard © Schneider

Zurückgehendes Vertrauen zu Putin und den politischen Elitegruppen

[Dr. Eberhard Schneider] Vor zwanzig Jahren wurde Wladimir Putin am 26. März 2000 zum ersten Mal zum Präsidenten Russlands gewählt, damals bereits im ersten Wahlgang mit 52,94 %. Vor diesem Hintergrund ist zu fragen, in welchem Maße die russische Bevölkerung ihm heute vertraut und welche politischen Elitegruppen hinter ihm stehen.

Am 27. April 2020 veröffentlichte das Moskauer Meinungsforschungsinstitut WZIOM eine Umfrage über das Vertrauen in die russischen Politiker im März dieses Jahres mit folgendem Ergebnis[1]:

Vertrauen in Politiker

Name Funktion Prozentzahl
Putin, W.W. Präsident 28,3
Schojgu, S.K. Verteidigungsminister 13,3
Lawrow, S.W. Außenminister 12,1
Schirinowskij, W.W. LDPR-Vorsitzender 8,0
Mischustin, W.W. Premierminister 7,9
Sjuganow, G.A. KPRF-Vorsitzender 4,4
Medwedew, D.A. Stellvertretender Sekretär des Sicherheitsrats, Vorsitzender der Machtpartei „Einiges Russland“, 3,0
Grudinin, P.N. Agrarunternehmer 2,9
Sobjanin, S.S. Meȉr (Oberbürgermeister) von Moskau 2,4
Nawalnij, A.A. Bekanntester Aktivist der außerparlamentarischen Opposition 1,7
Mironow, S.M. Vorsitzender der Partei „Gerechtes Russland“ 2,0

 

Bei diesem Umfrageergebnis ist bemerkenswert, dass das Vertrauen in Präsident Wladimir Putin mit 28,3 % auf den niedrigsten Stand seit 14 Jahren gefallen ist. In diesem Januar vertrauten Putin noch 30,6 %. An zweiter Stelle des Ratings rangiert unter großem Abstand mit 13,3 % Verteidigungsminister Sergej Schojgu. Schojgu war immer schon beliebt bei der Bevölkerung, weil er der dienstälteste Minister war, dessen 18jährige effiziente Tätigkeit als Katastrophenschutzminister für die Bevölkerung wichtig und nicht selten unmittelbar erlebbar war. An dritter Stelle folgt mit geringem Abstand Außenminister Sergej Lawrow, seit sechs Jahren im Amt.

Laut der Umfrage eines weiteren Meinungsforschungsinstituts, des Moskauer „Lewada-Zentrums“, deren Ergebnis am 13. April 2020 von der Zeitung „Wedomosti“ veröffentlicht wurde[2], sind 38 % der Russen der Ansicht, dass Präsident Putin primär die Interessen von Oligarchen, Bankern und Großunternehmern vertritt.[3] Zum ersten Mal in der gesamten Forschungsperiode seit 2000 haben mit diesem Indikator die Oligarchen die Silowiki, also die Sicherheitskräfte, mit 37 % knapp auf den zweiten Platz verwiesen. Im Oktober 2017 betrug deren Quote noch 41 %. An dritter Stelle sehen die Russen mit 28 % die Beamten, dann folgen mit 18 % die Mittelschicht und mit 16 % die einfachen Leute, deren Interessen Putin im Auge hat.

Wegen seiner Außenpolitik respektieren nur 12 % der Bevölkerung Putin, was meines Erachtens bedeutet, dass außenpolitische Erfolge für die Menschen offensichtlich gar nicht so wichtig sind, wie wir oft annehmen. 11 % meinen sogar, dass Putin mit der Führung des Landes nicht zurechtkommt.

Angst hatten Ende März 2020 laut einer weiteren Umfrage des Lewada-Zentrums[4] nach einer Skala von 1 (keine Angst) bis 5 (ständige Angst) die Menschen in Russland vor allem davor, dass Verwandte und Kinder krank werden (4,3), es folgen Weltkrieg (3,5), Willkür der Behörden und Gesetzlosigkeit (3,4), Krankheit und Leiden (3,3), Armut (3,2), Rückkehr zur Unterdrückung (3), Härten des politischen Systems (3), kriminelle Angriffe (2,9), Einsparungsverluste (2,9), Aids (2,8), Tod (2,8), Arbeitslosigkeit (2,7), Naturkatastrophen (2,6), öffentliche Demütigungen und Beleidigungen (2,5) sowie Alter (2,5).[5]

Laut einer Umfrage des dritten Moskauer Meinungsforschungsinstituts FOM antworteten auf die Sonntagsfrage Ende März 2020, dass 37 % für die Machtpartei „Einiges Russland“ stimmen würden, 12 % für die Kommunisten (KPRF), 9 % für die Nationalisten (LDPR) und 4 % für die kommunistennahe Partei „Gerechtes Russland“.[6]

Nach den umfassenden Verfassungsänderungen (vgl. meine April-Kolumne) stellt sich die Frage, in welchem Maße sind die politischen Eliten in Russland von Putin abhängig bzw. stehen hinter ihm oder balancieren sich gegenseitig aus? Damit befasste sich Tatjana Stanowaja, die in der bekannten Moskauer Denkfabrik „Zentrum für politische Technologie“ die Analyse der russischen Innenpolitik leitet. Sie unterscheidet folgende fünf politische Elitegruppen[7]:

  1. Putins persönliches Gefolge,
  2. Putins Freunde und Mitarbeiter,
  3. Politische Technokraten,
  4. Umsetzer des Regimes,
  5. Beschützer des Regimes.
  • Das persönliches Gefolge Putins setzt sich aus seinem persönlichen Sekretariat zusammen, aus Personen, die zum Teil ihre gesamte Karriere im Kreml gemacht haben und nirgendwo sonst gearbeitet haben, und aus den leitenden Beamten des Föderalen Schutzdienstes (FSO), die als Leibwächter des Kreml tätig sind. Die Mitglieder dieser Gruppe arbeiten täglich eng mit Putin zusammen. Der Kern des Teams legt den Zeitplan des Präsidenten fest und übernimmt Protokollfunktionen.[8] Er bereitet Putins Treffen vor und arrangiert diese. Er bietet Sicherheit und versorgt Putin mit Informationen. Zu ihm gehören der Leiter der Präsidialadministration Anton Wajno, Putins Pressesprecher Dmitrij Peskow und der Leiter des FSO-Schutzdienstes Generalmajor Sergej Udowenko. Mehrere Vertreter des FSO sind hoch aufgestiegen. Der FSO-Kommandeur von 2000 bis 2013, Viktor Solotow, wurde von Putin 2014 zum Kommandeur der neuen russischen Nationalgarde ernannt. Die ehemaligen Leibwächter Generalleutnant Alexej Djumin und Dmitrij Mironow wurden Gouverneure der Gebiete Tula und Jaroslawl. Der Vizegouverneur des Gebiets Leningrad, Walerij Pikalewa, war früher Leiter der FSO-Hauptverwaltung.
  • Putins Freunde und Mitarbeiter waren in seinen früheren Karrierephasen seine Stellvertreter in verschiedenen Positionen, langjährige Mitarbeiter und ehemalige KGB-Kollegen. Sie bilden Putins persönliches Unterstützungsnetzwerk und standen ihm 2000 zur Seite, als er an die Macht kam und dann die Elite der Jelzin-Zeit aus dem Weg räumen musste. In dieser Zeit, in der Putin die Machtvertikale von oben nach unten aufbaute, erhielten viele von ihnen große staatliche Vermögenswerte, um sie zu verwalten, so wurden sie zu staatlichen Oligarchen. Inzwischen wichtig und reich geworden, konzentrieren sie sich zunehmend darauf, ihre eigenen Unternehmensinteressen zu verteidigen und voranzutreiben und gerieten so mehr in Distanz zu denen des Staates. Für Putin stehen diese Interessen manchmal im Konflikt mit denen des Staates. Das führte dazu, dass er diese Mitarbeiter durch politische Technokraten ersetzte. Davon profitierten beide Seiten. Auf der einen Seite sind die Mitarbeiter froh, die Verantwortlichkeiten und Risiken des Staatsdienstes vermeiden zu können. Auf der anderen Seite hat Putin es lieber mit jungen Technokraten zu tun, mit denen es viel einfacher ist zu arbeiten als mit denen, die den Präsidenten als einen alten Freund sehen. Konkret können drei Untergruppen unterschieden werden: (a) die Staatsoligarchen, (b) die staatlichen Manager und (c) die privaten Geschäftsleute.

Zu den (a) Staatsoligarchen gehören Igor Setschin (Vorstandsvorsitzender der staatlichen Ölgesellschaft ROSNEFT), Sergej Tschemesow (Generaldirektor des staatlichen Rüstungskonzerns ROSTECH), Alexej Miller (Vorstandsvorsitzender des halbstaatlichen Gaskonzerns GAZPROM), Herman Gref (Vorstandsvorsitzender der größten russischen Bank, der Sparkasse Sberbank), Nikolaj Tokarew (Chef der Erdölpipelinegesellschaft TRANSNEFT) und der bis zu einem gewissen Grad putinkritische Anatolij Tschubajs (Chef der staatlichen Firma für Nano-Technologie ROSNANO). Sie verfolgen die Interessen ihrer Firmen, haben eine internationale Perspektive und wünschen sich deshalb bessere Beziehungen zum Westen, und dabei vor allem Erleichterungen bei den Sanktionen. Sie spielen in gewisser Weise die Rolle von „Liberalen innerhalb des Systems“.

Von der Untergruppe der (b) staatlichen Manager sind zu nennen: Dmitrij Medwedew (bis Januar 2020 Premierminister und seither Stellvertretender Sekretär des Sicherheitsrats), Dmitrij Kosak (bis Februar 2020 Stellvertretender Regierungschef und seither Ukraine-Beauftragter der Präsidialadministration), Sergej Iwanow (bis August 2016 Leiter der Präsidialadministration und inzwischen Aufsichtsratsvorsitzender von ROSTELEKOM) und Alexej Kudrin (2011 als Finanzminister und Stellvertretender Regierungschef zurückgetreten und seit 2018 Vorsitzender des Föderalen Rechnungshofs). Bis auf Kudrin haben die übrigen drei an politischem Einfluss verloren, Putin setzt bei Spitzenjobs offensichtlich stärker auf jüngere Gesichter.

Zur Untergruppe der (c) privaten Geschäftsleute gehören Personen, die aufgrund ihrer jahrelangen persönlichen Beziehungen zu Putin in hohem Maße geschäftlich profitiert haben, meist in Form von lukrativen Staatsaufträgen. Zu „Putins Miliardären“ zählen Arkadij Rotenberg (Bauunternehmer), Jurij Kowaltschuk (Aufsichtsratsvorsitzender der Bank Rossija und Kontrolleur der größten Medienholding National Media Group, die große Fernsehsender und Zeitungen kontrolliert), Gennadij Timtschenko (steht hinter der Beteiligungsgesellschaft Wolga-Group, die vor allem im Erdöl- und Gashandel aktiv ist), Kirill Schamalow (Schwiegersohn Putins, Hauptgeschäftstätigkeit bei der petrochemischen Holding SIBUR)) und Jewgenij Prigoschin („Putins Koch“, der große staatliche Gastronomieaufträge wie die Versorgung der Staatsduma und des russischen Militärs erhielt und der die Trollfabrik in St. Petersburg für den hybriden antiwestlichen Desinformationskrieg in den sozialen Medien finanziert).

  • Die politischen Technokraten bilden eine wachsende Gruppe, sie sind die Stabilisatoren des Systems. Als Arbeitspferde sind sie mit der Umsetzung der Regierungspolitik betraut. Sie standen von Anfang an Putin nicht nahe, haben aber durch ihre Professionalität und ihren Erfolg Putins persönliches Vertrauen erworben. Es ist von Vorteil für sie, dass Putin immer ungeduldiger mit Persönlichkeiten wird, die persönliche politische Ambitionen zur Schau stellen. So erging es Wjatscheslaw Wolodin, der 2016 vom Posten des Ersten Stellvertretenden Leiters der Präsidialadministration von Putin auf die Position des Staatsdumavorsitzenden abgeschoben wurde. Aber auch in dieser neuen Funktion konnte er nicht an sich halten, denn im April und im Juli 2019 schlug er öffentlich Verfassungsänderungen vor (vgl. meine Novemberkolumne). Sein Nachfolger in der Präsidialadministration ist Sergej Kirijenko, dort für Innen- und Regionalpolitik zuständig. Weitere politische Technokraten sind: Alexej Gromow, in der Präsidialadministration für die traditionellen Medien verantwortlich; der Erste Stellvertretende Regierungschef Andrej Beloussow, der den wirtschaftspolitischen Entscheidungsprozess leitet und im Moment den an Covit-9 erkrankten Premier Michail Mischustin vertritt; Finanzminister Anton Siluanow ist für die Finanzpolitik und den Haushalt verantwortlich, Außenminister Lawrow und Verteidigungsminister Schojgu setzen außen- und militärpolitische Entscheidungen um. Zu nennen sind ferner Moskaus Oberbürgermeister Sergej Sobjanin, der entschlossener gegen die Ansteckungsgefahr durch das Coronavirus in Moskau vorgeht als der Regierungschef, und die Nationalbankchefin Elwira Nabiullina.
  • Die Umsetzer des Regimes sind politisch am entbehrlichsten und am schwächsten. Das gilt für viele Stellvertreter Mischustins an der Spitze der Regierung, die meisten Minister, auch für den Innenminister Wladimir Kolokolzew und den neuen Generalstaatsanwalt Igor Krassnow. Minister sind nicht selten einflussreichen Persönlichkeiten außerhalb der Regierung praktisch unterstellt, z.B. Energieminister Alexander Nowak den CEOs von ROSNEFT (Setschin) und GAZPROM (Miller). Der neue Minister für digitale Entwicklung und Massenkommunikation, Maksut Schadajew, ist schwächer als große Akteure im IT-Bereich und die Silowiki.
  • Die Beschützer des Systems haben sich die Aufgabe gesetzt, das Regime sowohl vor inneren als auch vor ausländischen Feinden zu schützen. Sie vertreten eine konservative, verschwörerische und antiwestliche Ideologie. Sie treten für eine repressive Politik ein und verwenden eine aggressive Rhetorik. Die Gruppe bildet ein opportunistisches Bündnis zwischen denen, die den Unterdrückungsapparat des Staates anwenden, und denen, die ihn durch Gesetze legitimieren. Ihre Ideologie gewinnt im offiziellen Diskurs zunehmend an Bedeutung, und ihr politischer Einfluss nimmt zu. Vertreter dieser Gruppe sind der Leiter des Ermittlungskomitees Alexander Bastrykin, der Staatsdumavorsitzende Wjatscheslaw Wolodin, der Chef des Auslandsnachrichtendienstes SWR Sergej Naryschkin, der Sekretär des Sicherheitsrats Nikolaj Patruschew und der Kommandeur der Nationalgarde Viktor Solotow.

Tatjana Stanowaja kommt zu dem Ergebnis, dass Russlands Elite extrem fragmentiert und von Konflikten getrieben ist. Ihre untereinander konkurrierenden Gruppen kämpfen nicht nur um Einfluss und Eigentum, sondern auch um ideologische Positionen. Die Elitefragmentierung geht so weit, dass es fast keinen Konsens über wichtige Themen gibt. Angesichts der zunehmenden Abwesenheit Putins von der Tagespolitik gewinnen die Player mehr Spielraum für ihre eigene geschäftliche und politische Agenda. Diese Entwicklung wird zunehmend zu einem Problem für Putin, denn das lauteste und aktivste Segment vertritt Ansichten, die weitaus radikaler sind als seine eigenen. Die Beschützer des Regimes befinden sich in einem tiefgehenden und längerfristigen Konflikt mit den politischen Technokraten, die gezwungen sind, politisch neutral zu bleiben, die aber für die Modernisierung des Staates verantwortlich sind.

Je konfrontativer das äußere Umfeld Russlands und je unnachgiebiger die Haltung des Regimes dem Westen gegenüber, desto mehr politische Vorteile gewinnen die Beschützer, zusammen mit der moralischen Rechtfertigung, ein Anziehen der Schraube zu fordern. Selbst im Falle einer hypothetischen Verbesserung der Beziehungen Russlands zum Westen und dem damit verbundenen Rückgang der vielbeschworenen ausländischen Bedrohung ist es unwahrscheinlich, dass die Dynamik des anhaltenden Konservatismus und der staatlichen Repression aufgehalten wird, höchstens verlangsamt.

[1]              https://wciom.ru/news/ratings/doverie_politikam/

[2]              https://www.levada.ru/2020/04/15/pochti-40-rossiyan-uvereny-v-otstaivanii-putinym-interesov-oligarhov/

[3]              https://www.vedomosti.ru/society/articles/2020/04/13/827945-putin-otstaivaet

[4]              https://www.levada.ru/2020/04/27/chego-boyatsya-rossiyane/

[5]              https://www.vedomosti.ru/opinion/columns/2020/04/26/829021-chego-boyatsya-rossiyane

[6]              https://www.kommersant.ru/doc/4314447

[7]              https://carnegie.ru/commentary/81037

[8]              https://carnegieendowment.org/files/Stanovaya_Putin_Elite-Final.pdf

COMMENTS

WORDPRESS: 0
DISQUS: 0