„Monopol auf die Vergangenheit“: russischer Historiker über die Verflechtung der Geschichte und der Gegenwart im heutigen RusslandJurij Piwowarow

„Monopol auf die Vergangenheit“: russischer Historiker über die Verflechtung der Geschichte und der Gegenwart im heutigen Russland

Professor, Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften, Autor zahlreicher Monographien und Träger internationaler Auszeichnungen Historiker und Politologe Jurij Piwowarow war viele Jahre Direktor des Moskauer Inion-Instituts. Nach dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine wurde er Mitglied des Antikriegskomitees, dem Oppositionelle im Exil wie Michail Chodorkowski oder Garry Kasparow angehören. Professor Piwowarow lebt seit 2018 nicht mehr in Russland.

Herr Piwowarow, wir beobachten ein hohes Interesse der Machthaber in Russland an der Geschichte. Der russische Präsident bezieht sich in seinen Reden oft auf historische Ereignisse, um gegenwärtige geopolitische Konflikte zu erklären, und auf den zentralen TV-Kanälen gibt es unzählige historische Sendungen und Talkshows. Ich würde es sogar als eine regelrechte Fixierung auf die Vergangenheit bezeichnen. Worauf führen Sie dieses Phänomen zurück?

Jurij Piwowarow: Das lässt sich leicht erklären. Das Regime hat von Anfang an den Weg der Ablehnung der verfassungsrechtlichen Legitimität eingeschlagen. Das Wahlsystem wurde zwar beibehalten, aber kontinuierlich ausgehöhlt (durch die Verhinderung potenzieller Konkurrenten bei den Wahlen, die Fälschung der Ergebnisse usw.). Aber es musste auf irgendeine Weise begründet werden, warum der Putin-Clan die Macht innehat. Und hier wandten sich die Putinisten historischem Material zu. Das Regime hat seine eigene Formel für die russische Geschichte entwickelt, die für seine Legitimation notwendig ist. Ihre Ausgangsannahme besagt, dass Russland einen besonderen Weg hat, der sich vom „Westen“ unterscheidet, dass Russland der Bewahrer traditioneller religiöser Werte ist, die der westlichen Zivilisation verloren gegangen sind, und dass es ihr das System der liberalen Demokratie grundsätzlich fremd ist. In der Putin’schen Version der russischen Geschichte gibt es keinen Platz für demokratische, liberale Traditionen; sie setzt stattdessen auf den Kult militärischer Siege. Tatsächlich wird die gesamte Geschichte auf eine endlose Abfolge siegreicher und gerechter Kriege (aus russischer Sicht) reduziert. In dieser Logik erscheint das Putin-Regime als die Apotheose des siegreichen Marsches Russlands durch die Jahrhunderte. Der Krieg gegen die Ukraine, der offensichtlich als „kleiner und siegreicher“ geplant war, sollte diese Version der Geschichte von militärischen Paraden bestätigen. Dass es nicht so lief, untergräbt die historische Legitimität des Regimes.

Wir erleben eine Offensive im Bildungsbereich. In Schulen und Universitäten gibt es neue Geschichtsbücher, in denen bereits von der sogenannten militärischen Sonderoperation die Rede ist. Welcher Zweck wir damit verfolgt?

Jurij Piwowarow: Das Bildungssystem ist das Versuchsfeld für Putins Geschichtsverständnis als einzig mögliches und alternativloses. Das Regime braucht ein Monopol auf die Vergangenheit. Der Wunsch, ein „einheitliches Geschichtslehrbuch“ zu schaffen, und die Einrichtung der „Kommission zur Bekämpfung von Versuchen der Geschichtsfälschung zum Nachteil der Interessen Russlands“ im Jahr 2009 sind damit verbunden. Auf diese Weise sollte die Kontrolle über die Geschichtswissenschaft sowie über den Geschichtsunterricht und die Popularisierung der Geschichte sichergestellt werden. Im Jahr 2020 wurde eine Bestimmung über die „historische Wahrheit“ in die Verfassung aufgenommen. Dadurch wurde ein Veto gegen jede andere Interpretation der Geschichte außer der „einzigen wahren“ – der Kreml-Version – verhängt. Besonderes Augenmerk wird auf die „Angemessenheit“ der Interpretation der militärischen Vergangenheit gelegt. Die Verfassung legt nun fest: „Die Verharmlosung der Bedeutung der Heldentaten des Volkes bei der Verteidigung des Vaterlandes ist nicht zulässig“. Ein Verstoß dagegen wird mit Strafen bis zur Freiheitsberaubung geahndet. Es existiert auch das entsprechende Überwachungsinstitut – die Russische Militärhistorische Gesellschaft (deren Leiter der Direktor des Auslandsgeheimdienstes der Russischen Föderation Sergei Narysсhkin ist), die „Gesetzverletzungen“ überwacht. Derzeit wird ein Lehrbuch zur Geschichte des russischen Staates vorbereitet, in dem die russische Geschichte im „totalitären“ und antizivilisatorischen Sinne ausgelegt wird.

Selbst ein neuer Begriff wurde erfunden – Russland wird in neuen Geschichtslehrbüchern als „Zivilisationsstaat“ bezeichnet.  

Jurij Piwowarow: Der Begriff ist aber nicht neu. Dieses „Produkt“ wurde bereits im 19. Jahrhundert vom russischen konservativen politischen Denken entwickelt. Es handelt sich um die Vorstellung, dass der russische Staat nicht einfach nur ein Staat ist, sondern eine ganze besondere kulturell-historische Welt. Er unterwirft das Individuum und bestimmt sein gesamtes Leben, wodurch er ihm das Recht auf soziale Wahl nimmt und seine Subjektivität einschränkt. Der Begriff „Zivilisationsstaat“ lehnt Demokratie und Menschenrechte, sozialen und politischen Pluralismus und Freiheit vollständig ab. Diese Weltanschauung ist dem Putin-Regime eigen. Außerdem ermöglicht sie es, seine sozial ungerechte Natur zu verbergen. In der Verfassung steht, dass der russische Staat ein sozialer Staat ist. In der Praxis werden jedoch einige (in der Regel unehrlich) zu Milliardären, während andere (Millionen) in Armut und Elend leben. Hinter dieser lügnerischen Rhetorik verbirgt sich die Tatsache, dass „einfache Staaten“ (das heißt demokratische Staaten) viel effektiver sind und ihren Bürgern ein viel höheres Maß an sozialem Wohlstand bieten.

In letzter Zeit ist zu einem Allgemeinplatz geworden, Wladimir Putin mit allen möglichen dunklen Gestalten in der Geschichte zu vergleichen – mal mit Iwan dem Schrecklichen, mal mit Hitler, mal mit Stalin. Auch westliche Journalisten verwenden solche Vergleiche. Wie gerechtfertigt sind diese pauschalen Parallelen?

Jurij Piwowarow: Die Menschen stellen immer Vergleiche an. Der komparative Ansatz ist eine grundlegende Methode in der Wissenschaft. All diese Persönlichkeiten waren, um es in modernen Worten auszudrücken, Diktatoren. In diesem Sinne ist Putin ihnen ähnlich. Allerdings lebten sie im anderen Zeitalter. Direkte Parallelen sind daher nicht korrekt. Was diese Persönlichkeiten gemeinsam haben, ist das Verständnis von Macht als ausschließlichem Gewaltmittel, das Streben nach uneingeschränkter Machtmonopolisierung und die ausschließliche Nutzung der Macht zu eigenen Zwecken. Ihre Macht ist personifizierte Gewalt und Willkür. Denken wir daran, dass Putin im Jahr 2020 die Begrenzung seiner früheren Präsidentschaftszeiten aufgehoben hat (was völlig undenkbar ist – wie kann man das Ehemalige für Nichtexistent erklären?) und eine radikale Umgestaltung der Verfassung vorgenommen hat. Dabei erhielt er die Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung. Dadurch wurden die verfassungsrechtlichen Grundlagen der Macht vollständig mit Füßen getreten. Wäre es nicht passiert, denke ich, hätte es auch keinen Krieg gegeben. Damals haben Putin und sein Umfeld verstanden: Sie können tun und lassen, was sie wollen.

Manche glauben, dass ein echter „russischer Hitler“ dann an die Macht gelangen könnte, wenn Russland besiegt, zum Außenseiter wird und Europa es nicht schafft, das Land nach dem Krieg zu integrieren, sondern wieder eine Art eisernen Vorhang aufbaut. In ungefähr zehn Jahren werden die heutigen Teenager erwachsen sein. Und sie werden genau die gleichen Ressentiments haben, auf die sich Hitler einst stützte.

Jurij Piwowarow: Solche Prognosen gibt es in der Tat. Das sind allerdings Vermutungen. In Russland, wohlgemerkt, ist schon jetzt ein Tyrann an der Macht. Menschen werden ins Gefängnis geworfen, gefoltert und zur Emigration gezwungen; im Grunde genommen tobt ein Weltkrieg. Was in der Zukunft passieren wird, können wir nur erraten. Wer hätte zum Beispiel den Putsch von Prigoschin erwartet? Wir müssen noch die gesamte Tragweite seiner sozialen und politischen Folgen analysieren. Wir wissen noch nicht einmal, ob er der Auslöser für etwas Größeres war. Der Krieg dauert zu unserem kollektiven Unglück und Entsetzen immer noch an. Natürlich sollten wir verschiedene Szenarien in Betracht ziehen. Aber wir sollten keine einzige Vermutung absolut setzen. Andernfalls wird sie unsere Wahrnehmung der aktuellen Ereignisse dominieren und das politische Verständnis verzerren.

Daria Boll-Palievskaya

COMMENTS

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    Michael Hänel 10 Monaten

    Ich kann auf Ihrer russischen Seite das Originalinterview nicht finden. Wäre nett, wenn Sie verlinken könnten.

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    Horst Beger 10 Monaten

    Alexander Puschkin hat in einer Rezension über die historische Stellung des Christentums von 1830 geschrieben: „Das Christentum ist der größte geistige und politische Umbruch unseres Planeten. Mit dieser heiligen Elementarkraft verschwand eine (alte) Welt und erneuerte sich“ (zitiert aus Wolfgang Kasack: „Christus in der russischen Literatur“ von 1999). Und Herman von Skerst hat in seiner „Frühgeschichte und christliche Berufung Russlands“ von 1961 geschrieben: „Vom 9., 10. Jahrhundert an wurde in der zivilisierten Welt die Möglichkeit geschaffen, dass das eigentliche Christusvolk entstand, das die besondere innere Befähigung empfing, die Christusoffenbarung in die Zukunft zu tragen…“ Da das ältere, römische Christentum diese Berufung für sich in Anspruch nimmt, hat es das russische Christentum seit dessen Bestehen bis heute bekämpft; insbesondere das katholische Polen hat sich im Laufe seiner Geschichte von Rom immer wieder gegen Russland instrumentalisieren lassen. Der amerikanische Politologe Samuel Huntington hat diesen über tausend Jahre alten Kulturkampf des westlichen(römischen) Christentums gegen das östliche(russische) Christentum in seinem Buch „Kampf der Kulturen“ von 1996 detailliert aufgezeigt, ohne auf den substanziellen Unterschied einzugehen.

    In unserer heutigen weitgehend säkularisierten Welt, in der noch ganz andere Kräfte wirksam sind, kann man natürlich die Frage stellen, welche Bedeutung solche spirituellen Überlegungen haben. Der intellektuelle auch im Westen mehrfach ausgezeichnete Historiker Professor Jurij Piwowarow mit russischer Staatsangehörigkeit stellt solche Fragen jedoch, wenn er erklärt, das russische Regime habe eine eigene Formel für die russische Geschichte entwickelt, die besage, dass Russland der Bewahrer traditioneller religiöser Werte ist, die in der westlichen Zivilisation verloren gegangen sind, und die er selbst ablehnt. Statt dessen sympatisiert er mit Vertretern alttestamentarischer Rachedenker wie Michail Chordokowski und Boris Nemzow, von denen ich nur letzteren einmal persönlch kennen gelernt habe und nicht den Eindruck hatte, dass er russische Interressen vertritt.

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