Ausgeklammert vom Leben – Jungen und Mädchen im gegenwärtigen Russland

Ausgeklammert vom Leben – Jungen und Mädchen im gegenwärtigen Russland

Vor zwanzig Jahren, schon im Spätherbst, veröffentlichte ‚Literaturnaya Gazeta‘ einen Artikel des 19-jährigen Moskauer Jungen Ilya Tyurin „Russian Character“. Die Veröffentlichung kam leider posthum heraus, weil Ilya im selben Jahr starb. Heute wird dieser Artikel jedoch als einzigartiges Dokument der Epoche der 90er Jahre verstanden, als die Menschen viel über die zukünftigen Wege Russlands, über dessen Schicksal, Form und Besonderheit diskutierten. Für mich ist jedoch etwas anderes wichtiger: Damals zeigte sich, dass es noch viele junge Menschen gab, die sich ernsthaft um das Schicksal des Landes sorgten, weil sie sich von dessen Schicksal noch nicht getrennt hatten.

Natürlich können wir heute über den jungen Autor lachen, der meinte, dass wir zur Wiedergeburt zehn Jahre mit „anständiger Macht“ und „historischem Frieden“ bräuchten. Aber es ist nicht möglich die von ihm gestellten Fragen abzulehnen, unmöglich, eine weitere Bedingung beiseite zulassen, die er genannt hat: die Überwindung der ewigen russischen Spaltung, ohne die das normale Leben im Land nicht zu denken ist. Diese Spaltung wird, wie wir wissen, in unserem Land nur in Notsituationen eines Krieges oder einer anderen schrecklichen Katastrophe überwunden, was uns zu einer wirklich „Not“-Nation macht. Wir haben uns in unserer tausendjährigen Geschichte in Reiche und Arme,  in Volk und Intellektuelle, „Mob“ und „Wissen“ unterteilt, ganz zu schweigen von den zahlreichen zwischenethnischen Gegensätzen in einem historisch multiethnischen Land.

Was ist also in den letzten zwei Jahrzehnten passiert? Was ist wahr geworden und was ist nicht? In der ersten Hälfte der 2000er Jahre konnten wir unsere reale Staatlichkeit relativ wiederherstellen, derer wir faktisch die ganzen 90er Jahre über beraubt waren, und ohne die das Volk, von alters her an die Ideologie der „Reichsstaatlichkeit“ (Russisch ‚Derschawnost‘) gewöhnt, schon erschöpft war. Für mich ist es jedoch offensichtlich, dass für Ilya Tyurin und seine damaligen Gefährten der Begriff „Wiederbelebung Russlands“ gleichbedeutend war mit der Hoffnung, dessen Kultur wiederzubeleben – das einzige, was Menschen im gewöhnlichen, nicht in Not geratenen Leben vereinen kann. Aber die Antwort auf diese Hoffnungen im kulturellen Bereich war die totale Macht des Glamours, waren die endlosen Details des Lebens sogenannter Stars, waren glitzernde Umschläge leerer Zeitschriften und idiotische Fernsehsendungen, welche die Fernsehbildschirme überfluteten. Wir haben keine Trennung mehr zwischen Volk und Intelligenz, weil die Intelligenz praktisch verschwunden ist. Wir hatten jedoch einen neuen „glamourösen“ Adel, der immer  beharrlicher aristokratische Masken anprobierte. Wir haben keine Spaltung mehr in Reiche und Arme, da zwischen sehr Armen und sehr Reichen inzwischen ein Abgrund besteht. Wir besiegten die kommunistische Ethik restlos, ersetzten sie durch die selbstmörderische Ethik des Konsums, durch den berüchtigten „Erfolg“ um jeden Preis, der fast zu einer Religion wurde und alles Leben verschlang. Aber das Wichtigste – bei uns entstand eine allgemeine innere Spaltung der Kultur.

Vor einigen Jahren leitete ich eine Autorenkolumne in einer der zentralen Zeitungen. (Literaturnaya Gazeta – ke) Da gestand mir eine Ressortchefin, eine junge und erkennbar gebildete Frau, dass sie meine Artikel mit Interesse lese, aber nachdem sie alles gelesen habe, nicht verstehen könne, worum es sich handele. In unserem weiteren Gespräch entdeckte ich zu meinem Entsetzen, dass all meine Alliterationen, alle Hinweise und Hinweise auf russische Folklore, auf Ideen von künstlerischen Werken, die kürzlich noch für alle Menschen des Landes ein gemeinsamer Ort zu sein schienen, nicht mehr gelesen, verstanden, nicht mehr aufgerufen werden. Verschwunden ist der kulturelle Kodex, der allein eine Nation zusammenhalten kann, der eine Nation zur Nation macht. Das Wurzelgeflecht, das den Verstand, die Fantasie und die Kreativität nährt, ist ausgetrocknet. Und spräche Ilya Tyurin unter diesen Umständen heute über den Nationalcharakter, wenn die Nation selbst, die all-russische, betone ich, nur mit großer Mühe gefunden werden kann?

Man muss darüber nachdenken, was trotz allem noch übrig ist. Zum Beispiel über junge Leute. Über viele, viele talentierte Jungs und Mädchen, die unser Land nach wie vor hervorbringen wird. Vor einiger Zeit begann ich, über einige offensichtliche anomale Verhaltensweisen in bestimmten Gruppen junger Menschen nachzudenken: Drogenabhängigkeit – Anomalie. Der Verlust des Interesses am öffentlichen Leben im Land – Anomalie. Die Konzentration von jungen Menschen ausschließlich auf Bereicherung – Anomalie. Die Leidenschaft für exotische, nicht traditionelle Religionen, Ideen und Trends für unser Land – auch eine Anomalie. Ich musste mit vielen jungen Leuten sprechen, bevor ich eine einfache Sache verstanden hatte: Alle diese Anomalien folgen demselben Muster, sie haben alle ein und denselben Grund. Und das Phänomen selbst kann sehr einfach charakterisiert werden: Flucht vor der Realität. Eine beträchtliche Anzahl junger Menschen akzeptiert die in der heutigen Gesellschaft vorherrschende Ethik der Freizügigkeit nicht. Daher laufen sie vor dieser Weltsicht wie auch vor dieser Gesellschaft weg. Die Konsumgesellschaft selbst wird nie herausfinden, wie sie ihre eigenen jungen Talente „verbrauchen“ kann. Und, einfacher gesagt, wie sollte sie ihre eigene Zukunft „verbrauchen“? Besonders wenn es um immaterielle Substanzen geht. So muss man schon nicht so sehr über den berüchtigten „Brain Drain“ sprechen, als vielmehr über das Dahinschwinden der Nation von morgen. Und irgendwie scheint mir, dass Ilya Tyurin, wenn er heute noch lebte, nicht mehr über den russischen Nationalcharakter schriebe, sich nicht so ernsthaft um sein Land sorgen und nicht versuchen würde, die Bedingungen für den Austritt aus einer multilateralen Krise zu bestimmen. Er würde vielen seiner Freunde zur Seite treten, für die die Flucht vor der Realität zur einzigen nationalen Idee wurde.

Jefim Berschin

Übersetzung: Kai Ehlers

Zum russischen Original hier >>>

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