Das Denken des 21. Jahrhunderts und die Zukunft des sog. „Westen“

Das Denken des 21. Jahrhunderts und die Zukunft des sog. „Westen“

[von Michael Schütz] Wir leben in Krisenzeiten und das nicht nur auf Grund eines bis dahin unbekannten Virus‘, sondern weil sich unsere Lebens- und Verhaltensweisen, die sich insbesondere im 19. und 20. Jahrhundert herausgebildet haben, als mit einer stabilen Zukunft nicht mehr kompatibel erweisen. Diese Lebens- und Verhaltensweisen basieren auf einer bestimmten Denkweise bzw. auf einer bestimmten Weise, die Welt wahrzunehmen und diese Denkweise hat sehr viel mit dem Selbstverständnis zu tun, das der sog. Westen als Führungskultur auf dem Globus in den letzten beiden Jahrhunderten entwickelt hat.

Der Westen, genauer, die dahinter stehende Denkweise – die weit über den politischen Begriff Westen hinausreicht – stellt sich selbst als Erfolgsgemeinschaft dar, die der Welt ein Orientierungsziel vorgeben will, aber tatsächlich erkennt man die Qualität des Baumes an seinen Früchten: Artensterben, Kriegstreiben, Ressourcenverschwendung, Finanzkrisen, Flüchtlingskrisen und manches andere mehr heißt das faule Obst dieses Baumes. Ein Zurück in diesen als „Normalität“ wahrgenommenen Zustand kann und wird es nicht mehr geben, schon allein deshalb, weil niemand zweimal in denselben Fluss steigt (Heraklit).

Wir stellen hier also drei zentrale Denkfehler des Westens dar und zeigen damit gleichzeitig auf, wie die Führungskulturen des fortgeschrittenen 21. Jahrhunderts denken werden. Diesen Denk-Wechsel kann man durchaus als Bewusstseinswandel verstehen. Es gilt auch zu bedenken, dass auch all jene gesellschaftlichen Phänomene, die auf diesem (veralteten) westlichen Denken aufbauen, damit eine Endlichkeitsgrenze erreicht haben.

1.) Das Prinzip vom Weniger ist mehr

Im letzten Jahrzehnt hat sich die Erkenntnis, dass Weniger mehr sei geradezu zu einer Redewendung entwickelt und zu einem Hinweis darauf, dass ein Umdenken in westlichen Verhaltensweisen notwendig geworden ist. Wenn man das Prinzip des Weniger ist mehr völlig auf die Spitze treibt, dann zeigt sich, dass Nichts alles ist.

Tatsächlich lässt sich in unserer Gesellschaft eine Tendenz dazu erkennen, aktiv in solche Nichts-Alles Erfahrungen hineinzugehen. Eigentlich geht es dabei darum, dass in der aktiven Aufgabe von Kontrolle (Loslassen können) die Erfahrung von ungeahnter Freiheit liegt. In einem solchen Bedeutungszusammenhang liegt zum Beispiel die Anziehungskraft mancher Extremsportarten genauso auch wie die von Meditation oder Sexualität.

Die Bedeutung des Weniger ist mehr bekommt daher bei genauerem Hinsehen noch eine Sinn-Erweiterung, die gesellschaftlich bisher nur am Rande wahrgenommen worden ist. Udo Jürgens wies allerdings schon vor Jahrzehnten darauf hin, als er in einem seiner Schlager sang: „Wer nie verliert, hat den Sieg nicht verdient.“ Auch das Bild des Phönix aus der Asche lässt sich auf dieses Prinzip zurückführen. Die Bedeutung dessen ist, dass Stärke aus Schwäche entsteht. Der kapitale Denkfehler des Westens besteht aber darin, zu glauben, dass Stärke von Stärke kommt.

Der Russland-Blogger Uwe Niemeier meinte einmal in einem seiner Beiträge (das Wunder der russischen Krisen, 30.12.2020), dass Russland aus jeder seiner Krisen gestärkt hervorzugehen scheine, ja, dass Krisen geradezu das Entwicklungsprinzip des Landes zu sein scheinen. In anderen Ländern dagegen würden Krisen zu einem Abstieg führen und einem darauffolgenden, mühevollen Wiederaufbau – ohne dass man dabei stärker geworden ist.

Das trifft es genau.

Die Krise des Westens verdankt sich wesentlich dem Unverständnis für solche Zusammenhänge und lässt sich geradezu modellhaft an dem Zustand der westlichen Führungsmacht ablesen, deren ausgelebte Stärke letztendlich zu einem massiven inneren Zerfallsprozess geführt hat.

Auf der weltpolitischen Seite sind hier auch die sich wiederholenden Sprüche aus Berlin und anderswo zu nennen, wonach man mit Russland aus einer Position der Stärke „reden“ müsse. In schöner Regelmäßigkeit richtet daraufhin der Russische Bär dem Berliner Bären aus, man möge sich doch bitte an die eigene Geschichte erinnern, wohin diese Position der Stärke geführt habe – nämlich in den eigenen Untergang. Wenn nämlich Stärke aus der Schwäche kommt, kommt also auch Schwäche aus der Stärke.

In Russland versteht man scheinbar diesen Zusammenhang. Putin verstehe nur eine Sprache der Stärke heißt es oft im Westen. Diese Sprache versteht er offenbar tatsächlich und antwortet daher darauf mit gezielter „Schwäche“, nämlich gerade aktuell mit Wünschen für die Gesundheit des amerikanischen Präsidenten.

Dass Putin dieses Prinzip so offenkundig angewandt hat, kann vermuten lassen, dass in der Moskauer Führungsmannschaft Kenntnis über einen weiteren Zusammenhang besteht, nämlich über das symbiotische Verhalten des Westens. Symbiotische Verhaltensweisen kennen wir zumeist aus Familienbeziehungen, in denen man sich im Kampf gegeneinander verbunden fühlt. Der Kampf gegen den Anderen und das Gefühl Opfer des jeweils Anderen zu sein, verleiht eine starke Existenzberechtigung. Die These ist, dass das ganze westliche „Verteidigungsdenken“ gegenüber Russland auf diesem symbiotischen Zusammenhang aufgebaut ist. Da symbiotische Verhaltensweisen sehr kräfteraubend sind, zerren sie auch an der Gesundheit. Moskau hat wohl immer versucht, sich vom Westen nicht in diese symbiotischen Beziehungen hineinziehen zu lassen, mit nicht ganz durchschlagendem Erfolg. Letztendlich wird daher eine Abkehr Russlands vom Westen notwendig sein, verbunden mit der Bereitschaft paradox zu reagieren. Das Verweilen des Westens in einem Zustand der symbiotischen „Stärke“ ist nicht auf Dauer durchhaltbar. Das weiß man im Russland genauso wie auch anderswo im Osten und ist sich dabei sicher, dass man den längeren Atem haben wird.

2.) Das Kleine und das Große Denken

Die folgenden Gedanken sind von dem US-amerikanischen spirituellen Vordenker Richard Rohr inspiriert, der schon vor etlichen Jahren den Kleinen und den Großen Geist beschrieben hat.

Dazu ist zunächst einmal anzumerken, dass weder das Kleine Denken, das dem Westen zugeordnet ist, noch das Große Denken, das dem Osten zugeordnet ist, gut oder böse sind. Es sind einfach zwei unterschiedliche Spielarten, die Welt wahrzunehmen. Beide sind notwendig, um die Welt erkennen zu können. Allerdings bestehen beide Sichtweisen sowohl aus Licht- und damit auch aus Schattenseiten, wie das in der Existenz üblich ist. Wenn sich allerdings Großes und Kleines Denken in einem Zustand des Gleichgewichts – genauer, eines dynamischen Gleichgewichts – zueinander befinden, werden die Schattenseiten der jeweils anderen Seite aufgehoben.

Probleme ergeben sich dann, wenn eine der beiden Seiten einen übermäßigen Einfluss bekommt, weil das dynamische Gleichgewicht zum Erliegen gekommen ist. Dieses zum Erliegen kommen eines dynamischen Gleichgewichts kennen wir auch von anderen existenziellen Zusammenhängen her, etwa im Bereich Männlich – Weiblich und die eigentliche Frage muss daher sein, wie es zu einem solchen Stillstand der Dynamik kommen konnte. In Bezug auf Großes und Kleines Denken wäre es wahrscheinlich, dass das etwas mit ökonomischer und militärischer Überlegenheit zu tun hat. Ein solcher Stillstand des dynamischen Gleichgewichts wird dann die Schattenseiten der zunächst überlegenen Spielart deutlich zum Ausdruck bringen und diese Spielart in den Abstieg führen.

Was ist Großes und Kleines Denken?

Das Kleine – westliche – Denken ist eine Wahrnehmung, die das Ganze in seine Einzelteile zerlegt, diese Einzelteile analysiert und daraus seine Erkenntnisse zieht. Die ganze westliche Wissenschaft basiert letztendlich auf diesem Kleinen Denken, das logisch aufgebaut ist, hat dabei aber übersehen, dass sie damit an Grenzen stößt. Im Kleinen Denken wird das Individuum großgeschrieben und dafür aber das Ganze vernachlässigt. Das Zerlegen in Einzelteile, die Betonung des Individuums entwickelt sich auf seiner Schattenseite zur Begrenzung, Spaltung und Trennung.

Das Große – östliche – Denken sieht dagegen das Große Ganze. Die Erkenntnis über das Einzelteil hat für das Große Denken untergeordnete Bedeutung und dementsprechend spielt das Individuum keine so große Rolle. In diesem Bereich denkt man nicht logisch, sondern paradox. Während das Kleine Denken ein akribisches, verstandesmäßiges Handeln veranlasst, nimmt das Große Denken die Sache etwas gelassener und agiert eher aus dem „Bauch“ heraus.

Bereits in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts begann sich bei vielen Menschen im Westen die Einsicht zu entwickeln, dass das begrenzende Kleine Denken nicht der Weisheit letzter Schluss sein kann. Man begab sich daher auf die Suche nach einer Erweiterung des verengten, westlichen Horizonts. Damit sickerte sukzessive östliches Denken und östliche Kultur in den Westen ein, was eine ganzheitliche Betrachtungsweise gefördert und damit zu der Erkenntnis schlechthin geführt hat, die im Westen an sich allerdings noch nicht so richtig angekommen zu sein scheint: Das Ganze ist immer mehr, als die Summe seiner Teile. Mit dieser Erkenntnis steht nicht nur die westliche Wissenschaft auf ihrem Prüfstand.

Das Problem, das das Kleine, westliche Denken im Generellen entwickelt hat, liegt darin, dass es seinen Gegenpart aus dem dynamischen Gleichgewicht verdrängt hat. Damit kommen nicht nur die Schattenseiten des Kleinen Denkens zum Ausdruck, sondern es entsteht daraus auch eine Identitätskrise des Westens. Außerhalb des Westens erkennt man diese westliche Identitätskrise sehr wohl und damit fällt der Westen für die Nicht-westliche Welt als Führungsmacht aus. Schließlich bringt man immer das nach außen, was man in seinem Inneren tatsächlich darstellt. Der Westen selbst scheint seine Krise jedoch nicht verstanden zu haben und agiert wie in einer Blase, in der man ihn scheinbar nicht mehr erreichen kann.

Es ist ein Kardinal-Irrtum der westlichen Strategen, zu glauben, dass man ein Denken oder Bewusstsein mit Kanonen beschießen oder mit Sanktionen zum Erliegen bringen kann.

Nichts ist so stark, wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist. Die durch das Versagen des Kleinen Denkens wieder in Gang gebrachte Dynamik der Gegensätze bringt jetzt das Große Denken zurück in das Spiel und in der Folge auch diejenigen Mächte, die dieses Denken repräsentieren. Es ist dann vor allem die Aufgabe Russlands, das zwischen östlichem und westlichem Denken eingespannt liegt, eine Balance zwischen diesem Großen und Kleinen Denken zu finden und als eine Art Waage-Balken zu fungieren, was dem Land schließlich eine Schlüsselrolle im 21. Jahrhundert zuweisen wird. Zunächst wird aber das Große Denken als Ausgleich zum bisher dominierenden Kleinen Denken die Führungsrolle übernehmen und der Westen wird sich (wenn er nicht umdenkt) als isoliert wiederfinden.

3.) Das Netzwerkbewusstsein

Wie schon zu Beginn angedeutet, kann man den jetzt stattfindenden Denk-Wechsel als Bewusstseinswandel verstehen. Die Menschheit wird auf ein Netzwerkbewusstsein umschalten. Das wird so fundamentale Bedeutung haben, dass wir im Moment gar nicht verstehen können, wie weitreichend die Folgen dessen tatsächlich sind. Das Bewusstsein für dieses neue Denken stammt eigentlich aus dem spirituellen Bereich, es ist aber auf ökologischer Ebene längst nachvollzogen worden. Es geht darum, dass alles mit allem verbunden ist. Auf spiritueller Ebene ist es die Wahrnehmung, dass man sowohl der Teil als auch das Ganze ist. Auf der materiellen Seite der Existenz zeigt sich, dass sich unsere Welt in vernetzten Netzwerken organisiert.

Dementsprechend sind in den letzten beiden Jahrzehnten die Erforschung solcher Netzwerke immer stärker in das Blickfeld der Öffentlichkeit gelangt: Die Gehirnforschung hat einen Höhenflug erlebt, man weiß heute, wie sich der Wald als Netzwerk organisiert oder wie zum Beispiel Pilze in einem Netzwerk agieren. Und man ist sich eigentlich schon lange darüber im Klaren, dass in der Natur alles und jedes in einem großen Netzwerk seine Funktion und seine Bedeutung hat und dass der Angriff auf dieses Netzwerk durch die Auswirkungen der sog. Zivilisation, einen Angriff auf den Bestand der Menschheit selbst darstellt.

Die Idee von der Schwarm-Intelligenz ist ebenso dem Netzwerkdenken zugeordnet, wie auch die Forderung nach einem Bedingungslosen Grundeinkommen. Sofern ein solches Grundeinkommen nicht einfach nur als „Abspeisungsprämie“ gedacht ist, sondern als Teil eines sinnvoll konzipierten, durchdachten Gemeinwesens entwickelt wird, erkennt es das Individuum als Netzwerkknoten, das heißt, als Knotenpunkt des Gesellschaftsnetzwerkes, der zugleich Impulse sendet, empfängt als auch verarbeitet. Damit löst sich die träge gesellschaftliche Masse auf und die Struktur bekommt eine ganz neue Beweglichkeit, die früher oder später zum Wettbewerbsvorteil werden wird.

Am augenscheinlichsten wird der Fortschritt des Netzwerkzeitalters mit der Entwicklung des Internets. Die Art, wie sich die Menschen in diesem Netz organisieren, stellt schon ein Hinweis auf zukünftiges gesellschaftliches Verhalten dar. Noch aber ist vielfach zu sehen, dass die Bedeutung der Netzwerkidee bisher nicht richtig verstanden worden ist. Was viele Leute tatsächlich im Internet machen, ist, alten Wein in neue Schläuche zu füllen.

Hier kommt das westliche, spaltende Denken zum Tragen, das die meisten westlich geprägten Menschen so sehr verinnerlicht haben. Dieses spaltenden Kleine Denken wird versuchen, die Netzwerkidee zu torpedieren, während das Aufkommen des Große Denkens die Netzwerkidee (zunächst) befördern wird. Zuletzt müssen sich Großes und Kleines Denken in einem dynamischen Gleichgewicht befinden, damit das Netzwerkdenken voll zum Tragen kommen kann. Die westliche Herrschaftsidee des „Teile und Herrsche“ kann nicht auf Dauer funktionieren, weil unsere Existenz auf eine völlig andere Weise organisiert ist. Die ökologische Krise wird uns früher oder später in das Netzwerkdenken geradezu hineindrängen. Ein solches Denken wird für das Überleben der Spezies Mensch von fundamentaler Bedeutung. Das Artensterben könnte daher ein großer Lehrmeister für die Menschheit werden – wenn westliche Herrschaftstechniken solcher Art Erkenntnisse zulassen.

Westliches Denken und Handeln wird sich an der Netzwerkidee messen müssen, wenn die Akteure des Westens für sich einen Platz in der Zukunft suchen. Der gegenwärtige Versuch westlich orientierter Eliten die Pipeline North Stream 2 zu Fall zu bringen, stellt einen sehr bildlichen Versuch dar, Westeuropa von Netzwerken abzuschneiden. Im Eurasischen Raum finden gerade diverse verschiedenartige Integrationsvorgänge statt, die äußerlich gesehen, nichts oder nur wenig miteinander zu tun haben, sich aber letztendlich gegenseitig verstärken werden.

Eine Verhinderung von North Stream 2 ist damit nicht nur ein Impuls zur wirtschaftlichen und politischen Schlechterstellung Westeuropas, die Bedeutung des Abkoppelns von Netzwerken reicht tiefer:

Netzwerke sind dezentral organisiert, auf Erweiterung ausgelegt und bilden dadurch eine Form von Intelligenz aus. Sie bauen fortwährend ein Know How auf, mit dem dann auf verschiedenartige Herausforderungen flexibel reagiert werden kann. Das Abschneiden von Netzwerken führt daher zu einem Wissens- und Kreativitätsverlust und zwar vor allem bei dem, der das Netzwerk unterbricht. Das wird tatsächlich die schwerwiegendste Folge für den Westen sein, wenn er seine Strategie des Trennens von Netzwerken fortsetzt: Wenn sich einmal ein solcher Wissens- und Kreativitätsverlust manifestiert hat, bleibt man sehr lange draußen und nimmt damit auch nicht mehr am Spiel teil. Normalerweise sind die Formen des Lebens darauf orientiert, Netzwerke zu bilden und nicht zu trennen. Gegen diese Zielgerichtetheit der Existenz zu handeln, führt in allerletzter Konsequenz zu dem Absterben der Organisationsform.

Netzwerkdenken wird unsere Wahrnehmung der Welt völlig verändern. Dementsprechend wird sich auch unser Handeln in der Welt verändern. Zum Beispiel macht es in einem Netzwerk keinen Sinn Feindbilder aufzubauen, denn in einem Netzwerk kommt das Feindbild irgendwann wieder zu einem selbst zurück. Mit einem Feindbild verurteilt man sich daher selbst. Dagegen wird ein in einem Netzwerk aufgetretenes Phänomen als Widerspiegelung der Interaktionen im Netzwerk angesehen werden.

Ein Phänomen als Feind darzustellen, ist daher nicht wirklich sinnvoll. Da man in einem Netzwerk immer selbst Teil der Interaktionen ist, bezeichnet man sich damit letzten Endes selber als Feind. Ein solches Verhalten erinnert schon sehr an die Weissagung des Orakels von Delphi an den eben mal kriegslüsternen König Krösus, dass dieser nämlich ein großes Reich zerstören werde, wenn er den Fluss Halys überschreite. Krösus zerstörte mit seinem Angriff auf die Perser sein eigenes Reich.

Anstatt sich also andauernd auf die Suche nach Feinden zu begeben, die man bekämpfen müsse, wird man die Interaktionen im Netzwerk entsprechend verändern, sodass sich damit auch die Phänomene, die das Netzwerk hervorbringt, verändern.

Mit dem Netzwerkdenken verändert sich auch jenes Phänomen, das im Westen gerne als „Demokratie“ bezeichnet wird. Demokratie à la Westen macht einen allzu erstarrten Eindruck und übt sich in hohlen Ritualen, wobei die meiste demokratische Substanz verloren gegangen zu sein scheint. Dass das eigentliche Wesen von Demokratie, nämlich der lebendige Ausgleich von Interessen – nicht nur nach innen, sondern auch nach außen – so wenig eine Rolle spielt, hängt nicht nur mit den politischen Eliten zusammen, sondern ganz wesentlich mit dem Desinteresse einer breiten Bevölkerung, ein entsprechendes demokratisches Selbstverständnis zu entwickeln.

Die Gesellschaft wird hier vor allem zwei Dinge lernen müssen: Was bedeutet eigentlich der Begriff Demokratie, also die Herrschaft des Volkes (meint im 21. Jahrhundert: die Herrschaft des Netzwerkes) und was bedeutet es eigentlich tatsächlich, einen Ausgleich von Interessen herzustellen.

Das Netzwerkdenken wird das politische Bewusstsein und damit den politischen Prozess grundlegend verändern und dabei eine völlig neue Struktur der politischen Entscheidungsfindung hervorbringen. Wie das genau aussehen wird, bleibt abzuwarten, wobei das World Wide Web schon einen Eindruck davon gibt, in welche Richtung sich das politisch-gesellschaftliche System entwickeln könnte. Ein solches System wird sich mit der Zeit über Versuch und Irrtum (länderspezifisch) herausbilden und die digitalen Techniken spielen dabei klarerweise eine Rolle.

Mit der Herausbildung eines Netzwerkbewusstseins wird auch eine zentrale europäische politische Institution aus dem 20. Jahrhundert herausgefordert werden, nämlich die Europäische Union. Die zunehmende Zentralisierung der Vorgänge in EU-Europa, ohne dass der Bürger noch eine demokratische Zugriffsmöglichkeit auf diese ihn oft direkt betreffenden Vorgänge besitzt, stellt genau die Gegenrichtung zur Entwicklung eines Netzwerkverhaltens dar. Das Netzwerkdenken wird daher früher oder später die Existenz der Europäischen Union in ihrer heutigen Form in Frage stellen – sofern diese nicht sowieso schon vorher an ihren inneren Widersprüchen zerbrochen ist. Netzwerke besitzen übrigens auch die Fähigkeit jene Teile der Netze stillzulegen, die nicht mehr gebraucht werden.

PS  Die in diesem Artikel beschriebenen Prozesse eines Denkwandels sind fundamental und grundlegend. Erfahrungsgemäß kommen solcherart Richtungsänderungen im Rahmen eines krisenhaften Prozesses, der an den Fundamenten des alten Systems ansetzt, zum Durchbruch. Wir können die Krise des Westens schon einige Zeit lang beobachten und dabei feststellen, dass sich die allgemeine Lage in den letzten Jahren immer stärker zugespitzt hat. Insofern ist es zu erwarten, dass alles auf eine große Durchbruch-Krise hinausläuft. Sehr wahrscheinlich ist aber, dass „Corona“ nicht selbst diese Durchbruch-Krise darstellt. Es wirkt eher so, als sei „Corona“ die Vorkrise, ein Vorbote gewissermaßen, der den Boden für das eigentliche Ereignis erst bereitet. Wir sollten daher nicht überrascht sein, wenn es in den Jahren bis 2025 noch ordentlich rumpeln wird und sich erst dann die Nebel zu lichten beginnen.

COMMENTS

WORDPRESS: 5
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    mistkaeferchen 3 Jahren

    Ein wunderbarer Artikel danke dem Schreiber.

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    Günter Guttsche 3 Jahren

    Liebe Redaktion,
    Die Thesen, die hier aufgestellt werden verkörpern eine gänzlich neue Denk- und Verhaltensweise im Herangehen an zukünftige weltpolitisch Fragen. Dem kann ich ohne weiteres zustimmen. Sie sollten nicht gleich verdammt werden, denn in ihrer nicht sehr langen Geschichte haben die USA über 200 Kriege geführt, die meisten davon waren Angriffskriege. Seit der Ächtung von Angriffskriegen beim Nürnberger Tribunal und in der nachfolgenden Charta der UNO haben die USA stets mit irgendwelchen Behauptungen, Falschmeldungen und provokatorischen Lügen über die Schuld des jeweiligen Opfers ihre Kriege gerechtfertigt und vom Zaun gebrochen. Die Dramaturgie war immer dieselbe, nur die Werkzeuge schienen sich verändert zu haben.
    Und ich stimme Herrn Schütz zu, dass „das Verweilen des Westens in einem Zustand der symbiotischen „Stärke“ … nicht auf Dauer durchhaltbar“ ist. Das scheint man sich auch im diplomatischen Moskau zur Grundlage aussenpolitischen Handelns gemacht zu haben.
    Vieles an der Putin’schen Politik findet meine Zustimmung auch nicht, aber die Weitsicht und umsichtige Ruhe, die er angesichts der ständigen Provokationen und Sanktionspolitik des Westens an den Tag legt, imponieren mir. Es haben sich inzwischen mit „…Euro-Amerika, Russland-Eurasien, und China-Südostasien drei neue Kraftlinien“… herausgebildet, die im 21. Jahrhundert eine zunehmende Rolle spielen werden. Davon bin ich felsenfest überzeugt.
    Und Russland ist nicht Nicaragua, nicht Guatemala, Korea, Vietnam, Afghanistan, Irak, Iran, Sudan, ist nicht Libyen, oder Syrien. Wenn das die westliche Welt endlich begreifen würde , dann wären wir schon ein bedeutendes Stück in den internationalen Beziehungen weiter. Es wird wohl noch eine ganze Weile dauern, bis alle Länder dieser Erde begreifen, das Miteinander leichter geht, als Gegeneinander.

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    Monica Chappuis 3 Jahren

    Ein hochinteressanter und äusserst überzeugender Text, dem eine breite Leserschaft zu wünschen wäre. Eine Theorie, die sich anhand zahlreicher Beispiele und Beobachtungen erhärten lässt. Ich wage zu behaupten, dass die Weltgeschichte einen anderen, weniger destruktiven Verlauf nehmen könnte, wenn alle Machthaber sie kennten und ernst nähmen. Aber davor sind wir leider sehr weit entfernt. – Hat Herr Schütz noch mehr publiziert, und wo?

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      Sehr geehrte Frau Chappuis,

      Ihre positive Reaktion auf meinen Artikel freut mich sehr und ich schließe mich Ihrem Wunsch nach einer breiten Leserschaft – wie zu erwarten gewesen – natürlich an….
      Was die Lernfähigkeit der meisten Machteliten angeht, bin ich wie Sie eher pessimistisch. Allerdings: die Hoffnung stirbt nicht zuletzt, sie stirbt überhaupt nicht!
      Von mir gibt es noch ein(en)Blog zur Geschichte Mittel- und Osteuropas:
      https://mittelundosteuropa.wordpress.com/
      Die Seite schläft derzeit ein bisschen, der letzte Beitrag stammt von Anfang 2020 und hat auch ein paar zeitaktuelle Bezüge, ansonst sind die Themen aber eher zeitlos und sollen Interesse und Verständnis für diesen geographischen Raum Europas wecken.
      Alles Gute und einen schönen Tag
      Michael Schütz

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    Martin Fricke 3 Jahren

    DEMOKRATIE – Was ist das???
    Überall dort, wo die vermeintlich freie Welt, ihr dekadentes, asoziales und raffgieriges System installieren will, formiert sich der Widerstand der Massen.
    In Südamerika, Afrika, Asien, Osteuropa, Indien, China und eben auch in den islamischen Ländern. Auch wenn das nicht gern gehört wird …
    Ein System, in dem die Reichen die Armen gnadenlos ausbeuten, Ehebruch, Pornografie, Prostitution und antichristliche Lebensweise Alltag sind, die Familien zerbrechen, nicht geschützt, der Egoismus die neue Religion ist und der Mensch nur als Kostenfaktor wahrgenommen wird, kann kein Vorbild und nicht erstrebenswert für den Rest der Welt sein …
    Das haben die Armen dieser Welt längst begriffen und genau deshalb lehnen sie die Lebensweise (DEMOKRATIE) des WESTENS ab!

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