Der europäische Zentralraum und seine Bedeutung für einen stabilen Kontinent

Der europäische Zentralraum und seine Bedeutung für einen stabilen Kontinent

[von Michael Schütz] Krisen sind dazu da, um aus ihnen zu lernen. Sie eröffnen die Möglichkeit eines Neuanfangs. Aus kleinen Krisen lernt man zumeist wenig, aus großen Krisen lässt sich dagegen viel lernen und die Effektivität eines politisch-gesellschaftlichen Systems erweist sich darin, inwieweit es die Fähigkeit besitzt, solche Lernvorgänge einzuleiten und umzusetzen.

Von der Europäischen Union, ihren politischen Eliten und ihren traditionellen, westlich-orientierten   Medien dürfen wir uns eine solche Lernfähigkeit kaum erwarten.

Die notwendigen Lernschritte in der „Wertegemeinschaft“ werden daher von einer Kritischen Masse ausgehen müssen – ein doppeldeutiger Begriff – die für die Zukunft unserer westlichen Gesellschaften von größerer Bedeutung werden wird. EU-Machteliten und -medien haben ein deutliches Problem mit dieser Kritischen Masse. Ihre Unterdrückung wird allerdings längerfristig Wettbewerbsnachteile nach sich ziehen und damit letztendlich diese Machteliten international der Bedeutungslosigkeit ausliefern.

Die aktuelle Ukraine-Krise muss man als europäischen Zentral- oder Kernkonflikt sehen, der daher ein großes Veränderungspotential für den Kontinent besitzt und der der Geschichte wieder einmal die Möglichkeit geben wird, Strafmandate zu verteilen….

Der geografische Mittelpunkt Europas liegt in Litauen. Somit stellt die Region zwischen Ostsee und Schwarzem Meer einen europäischen Zentralraum dar, in dem eben der Ukraine die größte Bedeutung zugemessen wird. Das hat auch schon unser alter Bekannter Zbigniew Brzezinski  so gesehen. Kontinentale Zentralräume scheinen immer Interessenten aus dem ferneren Ausland anzulocken, was in der Regel internationalen Spannungen zur Folge hat. Zum Beispiel wird man die Vorgänge im Lande der Uiguren in China auf diese Art und Weise verstehen können.

Zentralräume haben eigentlich die Aufgabe, umliegende Regionen miteinander zu verbinden, Drehscheiben darzustellen und einen Ort des Austausches anzubieten. Sie sind natürlich auch Gebiete der Vermischung oder zumindest solche, wo verschiedene Kulturen friedlich miteinander oder nebeneinander leben können, was als menschliche Basiserfahrung erlebt wird.

Zentralräume haben also eine entscheidende Funktion für einen Kontinent, sind aber von Machteliten immer wieder auch dahingehend missbraucht worden, sie zu blockieren und damit gleichsam die Zirkulation im Gefäßsystem des Körpers zum Erliegen zu bringen. In einem solchen Fall gerät der Kontinent außer Tritt und zwar auf beiden Seiten des Zentralraumes und nicht nur, so wie sich das manche vorstellen, immer nur auf der Gegenseite. Wir erleben es gerade.

Der europäische Zentralraum verbindet – oder trennt – die beiden großen europäischen Leitkulturen, die aus der Spaltung des römischen Reiches, bzw. der Kirchenspaltung hervorgegangen sind. Das Trennende zwischen diesen beiden Leitkulturen ist stark religiös fundamentiert und wenn man sich ansieht, von welchen Staaten der antirussische Dogmatismus ausgeht, der mittlerweile die gesamte eu-ropäische Politik erfasst hat, so sind es die außerhalb Italiens am stärksten katholisch geprägten Länder des Kontinents.

Die Katholische Kirche hätte also in dieser Auseinandersetzung eine besondere Verantwortung, das Verhalten so mancher Ortskirchen im aktuellen Konfliktfall macht allerdings nicht den Eindruck, als ob Bischöfe & Co das verstanden haben. Die Hoffnung bleibt, dass zumindest an der Spitze des Vatikan solche Lernschritte möglich werden.

Der gesamte europäische Zentralraum ist ein Überlappungsgebiet westlicher und östlicher Glaubenstraditionen. Für den Wiederaufbau und die Pflege eines funktionierenden Zentralraums wird die Verbindung der beiden Traditionen von großer Bedeutung sein. Das Interesse daran muss allerdings von der Basis kommen, die Amtskirchen sollte man nicht mit zu großen Erwartungen überfordern. Die Frage ist natürlich, wie die Basis zu einem solchen Interesse kommen sollte, angesichts jahrhundertelanger kirchlicher und medialer Erziehung über die rechte Weltsicht. Die Antwort könnte darin liegen, dass wir in ein spiritueller geprägtes Zeitalter hineinzugehen scheinen und sich damit auch so manche Gegensätze zwischen den Glaubensrichtungen relativieren könnten.

Eine spezielle Ausprägung der Blockade des Zentralraums zeigt sich in den drei baltischen Republiken. Die antirussische Einstellung wird dort ohne Rücksicht auf eigene Verluste gelebt. Da allerdings der Anti-Russismus den Stellenwert eines Dogmas besitzt, also eine quasi-religiöse Bedeutung hat, scheint das akzeptiert zu sein.

Die baltischen Staaten, bekanntlich Ostseeanrainer mit wichtigen Hafenanlagen, haben von der Sowjetunion eine Warentransport-Infrastruktur geerbt, die auf ein tiefes Hinterland ausgerichtet worden war. Die Trennung vom postsowjetischen Raum und damit verbunden die Zuwendung zum Westen, hat die Bedeutung dieser Infrastruktur zunehmend in Frage gestellt.

Russland hat bereits in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts begonnen, nach Alternativen für die begrenzten russischen Hafenkapazitäten im Ostseeraum zu suchen. Anfang der 2000er Jahre wurde daher ein neues Hafenprojekt in Ust-Luga nahe der estnischen Grenze eröffnet. Die Anlagen werden seitdem beständig erweitert und ermöglichen Russland, sich von der Transport-Infrastruktur der baltischen Länder unabhängig zu machen. Insbesondere geht es dabei um den russischen Ölexport, der zuvor über ein leistungsfähiges Verladeterminal im lettischen Ventspils gelaufen ist. Als Tiefseehafen ermöglicht es Ventspils, auch größten Tankern anzulegen. Der Hafen in Ust-Luga kann inzwischen von fast so großen Tankern wie in Ventspils angelaufen werden, sodass das Verladeterminal Ventspils seine Bedeutung für die russische Wirtschaft verliert. Die Folge sind massive Einkommensverluste bei der lettischen Transport-Infrastruktur insbesondere bei den Eisenbahnen.

Diese Entwicklung hat inzwischen auch Litauen eingeholt. Die feindliche Haltung insbesondere Litauens und Polens gegenüber Weißrussland hat dazu beigetragen, eine bereits bestehende Tendenz zu verschärfen, nämlich die weißrussischen Warenströme ebenfalls am Baltikum vorbei zu lenken, um sie über Ust-Luga umzuschlagen. Und nachdem Litauen voriges Jahr ohne jeden Grund einen Streit mit China vom Zaun gebrochen hat, wollen auch die Chinesen ihre entsprechenden Warenströme um das  Baltikum herumführen.

Nun haben die litauischen Staatsbahnen LTG darüber informiert, dass sie 2000 der rund 9200 Mitarbeiter abbauen müssen. Als Grund wird der Rückgang bei den Gütertransporten angegeben, wobei die EU-Sanktionen gegen Weißrussland das Problem noch einmal massiv gesteigert haben. Zudem wurde von der EU auch der Eigentümer des litauischen Düngemittelherstellers Lifosa sanktioniert, weil dieser in Russland zu Hause ist.

1200 der gekündigten Mitarbeiter sind Teil der Cargo-Tochter der LTG, weitere 500 kommen aus dem Infrastrukturbereich der LTG und die restlichen 300 aus dem Gesamtkonzern. Diese Zahlen lassen das Ausmaß des Schadens erahnen, wobei gerade der Abbau der Mitarbeiter des Infrastrukturbereiches interessant erscheint. Dies könnte darauf hindeuten, dass es auf einen Rückbau der Infrastruktur hinausläuft. Der litauische Staat will nun zusätzliche 155 Millionen Euro in seine Eisenbahnen investieren, ob das allerdings schon aufgrund der jetzt von der EU freiwillig organisierten Wirtschaftskrise etwas nützt, bleibt abzuwarten.

Diese Entwicklung in den baltischen Ländern wird zukünftige Investoren-Entscheidungen maßgeblich (negativ) beeinflussen und das trifft dann wieder auf das Grundproblem der baltischen Staaten, nämlich die starke Abwanderung vor allem junger, gut ausgebildeter Leute. Zudem nützt auch die NATO die Eisenbahn-Infrastruktur des Baltikums, sodass Probleme mit dieser Struktur direkt auf militärische Vorgänge durchschlagen werden.

Die Balten begeben sich hier in eine Abwärtsspirale. Dies alles vor dem selben Hintergrund, der auch für den Ukraine-Konflikt eine maßgebliche Rolle spielt, dass nämlich der Westen für die Transformations-Länder kein wirtschaftliches Konzept entwickelt hat, das den Bedürfnissen dieser Ländern gerecht geworden wäre. Der Glauben an das Zauberwort Westen und damit verbunden, der Glauben an eine bestimmte wirtschaftliche Ideologie hat nicht nur die Ukraine in den Ruin getrieben, sondern schwächt im selben Maße die baltischen Länder.

Die Folgen einer solchen Entwicklung kennen wir bereits: Abwanderung einerseits und eine nationale Selbstüberhöhung andererseits als Kompensation des Abstiegs und entsprechende Folgen davon. Doch gleichzeitig wird die Situation, je extremer sie wird, eben auch Lerneffekte auslösen. Das gilt ebenso für die Ukraine. Solche Effekte entwickeln sich unter der Oberfläche, haben aber die Chance, sich zur gegebenen Zeit durchzusetzen, da schließlich nichts ewig währt.

Für Litauen würde das bedeuten, dass man sich seiner Rolle als Zentralraum wieder bewusst wird und beginnt, einen Austausch zwischen Ost und West auf seinem Gebiet anzuregen.

Ein Güteraustausch wird das allerdings nicht mehr sein, die Warenströme werden nicht mehr zurückkehren. Der Austausch muss sich daher auf geistig, kulturellem und wissenschaftlichen Gebiet abspielen und gerade da hätte Litauen eine gute historische Basis anzubieten. Dazu muss sich allerdings eine neue politische Szene herausbilden, die bereit ist, veraltete Dogmen über Bord zu werfen und mit einem professionelleren Auftreten zu verbinden. Wenn sich Litauen seiner europäischen Verantwortung als Zentralraum bewusst werden würde, würde das auch seiner Diplomatie Flügel verleihen.

Die Alternative dazu ist auf lange Sicht ein Verfall des Staates und seiner Gesellschaft, der bis zur Auflösung reichen kann. In Polen bestehen historische Ambitionen auf das Vilnius-Gebiet und auch andere Kräfte würden wahrscheinlich die Chance nützen, um sich in ein geschwächtes Baltikum hinein zu erweitern.

Eine Renaissance des Zentralraumes als verbindendes Element des Kontinents Europa muss ein gesamteuropäisches Projekt sein. Sie sollte uns als Bürgern ebenso ein dringendes Anliegen sein, wie die Wirtschaft daran ein absolutes Interesse haben sollte, um den europäischen Kontinent wieder flott zu bekommen.

EU-Politik, -Diplomatie und traditionelle Medien sind als gestalterische Kräfte ausgefallen, die Initiative dazu muss aus der Zivilgesellschaft kommen, einer Allianz aus engagierten Bürgern, Wirtschaftsbossen, Kulturinteressierten und Gläubigen aller Richtungen.

Der Begriff Europa wurde von Kräften in der EU zweckentfremdet. Mit der Wiederherstellung eines europäischen Zentralraumes können wir den ursprünglichen Begriff Europa revitalisieren und neu gestalten. Das gäbe dem Kontinent die Chance, seiner ihm jetzt zugedachten Rolle als Anhängsel der Weltgeschichte doch noch zu entkommen.

 

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