Als der von den Amerikanern gewählte Präsident Donald Trump erklärte, nur die USA und Großbritannien hätten den Zweiten Weltkrieg gewonnen, ohne die Sowjetunion zu erwähnen, fragten sich einige Internetnutzer: Warum haben Amerikaner und Briten Inschriften auf dem Reichstag in russischer Sprache hinterlassen? Und haben sie speziell ausgebildete Übersetzer mitgebracht?
In den Tagen, die durch das Coronavirus bestimmt wurden, wurde 75 Jahre nach dem Ende des Krieges in Europa so viel geschrieben, so viel diskutiert, dass absolut klar wurde: Es gibt keine Wahrheit. Jeder hat die seine. Und es gibt viele Wahrheiten zur Auswahl. Kurz gesagt, „es gibt viele Dinge in der Welt, Freund Horaz, von denen unsere Weisen nie geträumt haben.“ Von einem solchen Aufruhr diverser Propaganda haben auch die „Weisen“ nicht geträumt. Inzwischen kann Propaganda jede mögliche Wahrheit überschatten.
Erinnern Sie sich an den Satz zu Barry Levinsons brillantem Film „The Tail Wags a Dog“? „Warum wedelt der Hund mit dem Schwanz? Weil er schlauer ist als sein Schwanz. Wenn der Schwanz klüger wäre, würde er mit dem Hund wedeln“. So wedelt der „Schwanz“ der Propaganda mit dem Gehalt. Es ist schon eine Weile her. Vor vier Jahren führte die französische Firma IFOR eine interessante Umfrage in westlichen Ländern durch, welches Land im Zweiten Weltkrieg einen größeren Beitrag zum Sieg über Nazideutschland geleistet habe. Und verglich die Ergebnisse mit denen der Vorjahre. Und das kam dabei heraus: Im Jahr 1945 erhielt die Sowjetunion 57 Prozent der Stimmen, die Vereinigten Staaten – 20, Großbritannien – 12. Dann änderten sich die Zahlen stetig, und 2015 sahen sie schon wie folgt aus: USA – 54 Prozent, UdSSR – 23, Großbritannien – 18. Da die Beteiligung der UdSSR in all den Jahren gegen Null strebte, gibt es Trump nichts vorzuwerfen – er ist der Sohn seines Landes und seiner Zeit. Und heute geht es nicht nur um einfache Mythen – sondern um für langandauernde Leitmythen.
Natürlich wurden schon immer Mythen geschaffen. Und sie haben die Wahrheit nicht nur ersetzt – sie wurden Teil der Geschichte und Kultur. Was wüssten wir über das antike Griechenland oder Rom, wenn es keine Mythen gäbe? Zum Beispiel: „die Griechen haben Elena entführt“; auf dieser Spur folgte Homer mit seinem Mythos. Ohne diesen Mythos ist es weder möglich sich das antike Griechenland noch die gesamte Menschheitsgeschichte vorzustellen. Aber heute ist alles anders. Erstens ist kein einziger Homer am Horizont zu sehen. Und zweitens lügen täglich Tausende von Journalisten, Politikwissenschaftlern, politischen Kommentatoren und anderen Amateuren etwas daher, die versuchen, Tausende derselben untalentierten Mythen zu schaffen, wobei sie sich oft auf Dr. Goebbels‘ Devise stützen: Damit eine Lüge geglaubt wird, muss sie erschreckend sein. Und man glaubt daran. Aber nicht alle. Jeder glaubt an das Seine.
Die Geschichte ist eine geheimnisvolle Sache. Zu meiner Zeit kam ich sogar auf die Idee, dass Geschichte keine Wissenschaft, sondern eine Kunst ist. Die Kunst besteht darin, eine Tatsache oder sogar deren Abwesenheit so darzustellen, dass sie in den Köpfen der Geschichtskonsumenten zur Tatsache oder zur Nicht-Tatsache wird. Aber die Manipulation der Geschichte ist weit gefährlicher, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Wie wir wissen, macht das Militär, was auch immer Wissenschaftler sich ausdenken, mit Sicherheit eine Bombe daraus. So immer in der Geschichte. Wenn eine historische Trumpfkarte in die Hände von Politikern fällt, wird mit Sicherheit eine „Bombe“ daraus gemacht. Weil es möglich ist, mit Hilfe von Geschichtsinterpretationen ganze Staaten zu errichten oder zu zerstören. Verzeihen Sie mir, dass ich noch einmal den Nazi Goebbels zitieren muss, aber wie mir scheint, lebt und gedeiht sein Stil in vielerlei Hinsicht: „Nimm dem Volk die Geschichte weg – nach einer Generation wird es zur Masse, und nach einer weiteren Generation kann es wie eine Herde kontrolliert werden. Deshalb darf man dem Volk seine Geschichte nicht wegnehmen, auch wenn sie voller Mythen ist.
Die modernen technischen Möglichkeiten haben die Entstehung von Mythen überraschend beeinflusst. Wenn es früher erst ein Ereignis gab und dann auf dessen Grundlage ein Mythos geschaffen wurde, so ist es heute oft andersherum. Zuerst wird ein Mythos erfunden, und dann wird, ausgehend von diesem Mythos, ein Ereignis provoziert. Oder sogar sein Fehlen. Auch das geschieht. Ich kehre zu meinem Lieblingsfilm „Der Schwanz wedelt mit dem Hund“ zurück, der meiner Meinung nach einfach ein PR-Lehrbuch ist und dessen wichtigster Bestandteil ist – die Propaganda. Dort musste, wie Sie sich sicherlich erinnern werden, am Vorabend der Wahlen das Bild des wegen sexueller Belästigung angeklagten Präsidenten beschönigt werden. Und um seine Verfehlung vergessen zu machen, musste ein bedrohliches Ereignis erfunden werden, das alles andere in den Schatten stellen würde. Etwa ein Krieg. Und ein speziell zusammengestelltes PR-Team erfand einen Krieg mit einigen fiktiven Terroristen in einem erfundenen, völlig unwirklichen Albanien. Ein Krieg, der nie stattgefunden hat. Mit Hilfe technischer Mittel griff man Filmmaterial aus verschiedenen Kriegen auf und zeigte es im Fernsehen. Und alle glaubten es. Nur der Vertreter der CIA glaubte es nicht, der nichts über diese Terroristen oder über einen Krieg mit ihnen wusste. Natürlich äußerte er extreme Verblüffung. Aber als Antwort hörte er: „Wenn Sie nicht glauben, dass es einen Krieg gibt, wozu brauchen wir Sie dann? Gehen Sie nach Hause und spielen Sie Golf. Sie müssen unseren Krieg akzeptieren, denn es gibt keinen anderen Krieg als unseren“.
Als ich 1992 den Fernseher einschaltete, hörte ich im russischen Fernsehen eine Ansagerin, Tatjana Mitkowa mit aufgeregter Stimme sagen, dass russische Panzer den Dnjestr überwunden hätten und sich zum Sturm auf Chisinau bewegen würden. Und man zeigte einige nicht identifizierbare Panzer und einen nicht identifizierbaren Fluss. Aber ich war zu dieser Zeit dort, genau an der Stelle, wo, wie sie sagte, Panzer den Dnjestr überwunden hätten. Nichts dergleichen war da. Da kann also nichts gewesen sein. Aber es gab auch keine Widerlegung. Und 2008 war ich verblüfft, als ich eine Sendung von CNN sah, die Zchinwali zeigte, wo es Kämpfe gab, und man mir sagte, dass es nicht Zchinwali, sondern Gori sei, wo es überhaupt keine Kämpfe gab. Wie dem auch sei, es gibt noch viel mehr Rezepte von Goebbels zu erfinden. Und man glaubt daran.
Vor zwei Jahren sah ich in der israelischen Stadt Petah Tikva einen Marsch des „Unsterblichen Regiments“. Menschen, von denen die meisten natürlich aus der ehemaligen Sowjetunion stammten, trugen Porträts ihrer Lieben, die in diesem Krieg gekämpft haben. Neben mir an der Kreuzung hielt ein Mann in traditioneller Kleidung, der eindeutig zu den einheimischen Israelis gehörte. Er beobachtete neugierig die Prozession. Plötzlich fragte er mich:
– Was feiern sie? Russischen Pessach?
Da ich nicht wusste, wie ich ihm etwas auf Hebräisch erklären sollte, stimmte ich einfach zu. Ja, in gewisser Weise ist es der russische Pessach. Weil Pessach ein Symbol der Befreiung von der Sklaverei ist. Und für uns ist der Tag des Sieges auch ein Symbol der Befreiung von einer solchen möglichen Sklaverei, von der kein Pharao jemals geträumt hätte. Deshalb muss man diesen Tag nicht anrühren. Auch wenn der Sieg mit Mythen gefüllt ist.
Jefim Berschin
Übersetzung: Kai Ehlers
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COMMENTS
Es hat immer einen Unterschied zwischen Geschichtspolitik und Geschichtswissenschaft.
In Deutschland wurde dieser zum ersten Mal auf fatale Weise kurz nach der Reichsgründung zu Bismarckscher Zeit virulent: nämlich während des großen Streits zwischen Theodor Mommsen und Heinrich von Treitschke. Mommsen trug kurzfristig dabei den Sieg davon, aber was Treitschke vertrat sollte eine giftige Saat streuen, die verheerend auf das spätere Schicksal der Weimarer Republik wirken sollte, als sie durch das fatale Bündnis zwischen den deutschen Konservativen und den Hooligans um Hitler entgültig begraben wurde.
Die Geschichtsklitterung von USA und NATO, die auch bei einer bedrückenden Menge deutscher Politiker eine Echokammer findet, haben jedoch keinen Grund in den Forschungen deutscher Geschichtswissenschaftler, auch nicht im Inhalt deutscher Schulbücher. Daran ändert auch die beschämende Zustimmung deutscher EU-Parlamentarier nichts, die gegen die deutsche Geschichtswissenschaft der Falschbehauptung zugestimmt haben, der Pakt zwischen Ribbentrop und Molotow sei die Ursache des Zweiten Weltkriegs.
Es ist eine unleugbare Tatsache, dass das Kernprojekt des Nazismus die Annexion Osteuropas bis weit hinter den Ural sowie die Vertreibung und den Völkermord der dort lebenden Zivilbevölkerung und die Erschließung des dortigen Raums für die Besiedlung durch eine „germanische“ Bevölkerung vermittels eines Vernichtungskriegs zu bewirken.
Das Projekt hieß „Generalplan Ost“, wurde von Hitler bereits 1925 im 14. Kapitel des 2. Buchs von „Mein Kampf“ angekündigt und fand die volle Unterstützung der deutschen Konverativen, die bereits 1915 in der „Professoreneingabe“ des Alldeutschen Verbandes ähnliches von Theobald von Bethmann-Hollweg als Kriegsziel des Ersten Weltkriegs einforderten, allerdings damals ohne Erfolg.
Es fand auch ein Präambel in Erich Ludendorffs Annexionsversuch „Ober Ost“ zum Ende des Ersten Weltkriegs.
Für geschichtsbewusste Deutsche, die gerne den Frieden in Europa durch die zweite deutsche Republik bewahrt sehen wollen, ist die Neigung ihrer transatlantischen Politiker seit 2014 nicht minder verstörend wie für Russen. Eigentlich sollte sie alle Bewohner Europas aufscheuchen.
Wer über die Geschichte lügen muss, will keinen Frieden. Denn es gibt nur eine. Man mag von verschiedenen Seiten auf sie blicken, aber wer über sie lügt, der kultiviert keine „alternative Geschichte“, sondern schlichtweg die Lüge, die immer schon die Mutter aller Kriege war.
Wer lügt, dem ist nicht zu trauen.
Und deshalb ist weder von der EU, erst recht nichts von dem Kriegsbündnis NATO, aber auch leider nichts von den nationalen Regierungen zu halten, aus denen sie sich zusammensetzen.
Denn ohne Wahrheit wird es keinen dauerhaften Frieden in Europa geben.