Der Systembruch

Der Systembruch

[von Michael Schütz] Liebe Leserin, werter Leser, unbemerkt von der großen Öffentlichkeit erfährt der kollektive Westen durch die Ukraine-Krise einen Systembruch, der die gerade stattfindende militärische Auseinandersetzung in der Ukraine wesentlich mitbestimmt.

Der Westen hat sich selbst in diese Situation hineinmanövriert, die den Konflikt in der Ukraine in einem anderen Licht erscheinen lässt. Russland hat wohl verstanden, um was es geht, im Westen scheint man den Systembruch auch irgendwie wahrzunehmen – ob bewusst oder intuitiv sei dahingestellt.
Die Waffenlieferungen, die von der Wertegemeinschaft jetzt zusätzlich in ein bereits waffenstarrendes Land hineingepumpt werden, haben mit dem Versuch zu tun, diesen Bruch noch einmal zu kitten. Genauso wie in diesem Zusammenhang die Deutsche Bundesregierung unter stehenden Ovationen des Deutschen Bundestages ihr Historisches Bewusstsein über Bord gekippt hat.
Der Versuch, diesen Systembruch jetzt noch einmal rückgängig zu machen, kann uns sogar in den Dritten Weltkrieg führen – auf jeden Fall darf man sich nicht darüber wundern, wenn es im Westen Forderungen gibt, den Konflikt bis zum Äußersten zu eskalieren.

Bevor wir uns daran machen, zu verstehen, was passiert ist, sollten wir uns allerdings über einige grundlegende Dinge klar werden. Die gerade im öffentlichen Raum stattfindenden heftigen Wortgefechte über die Deutungshoheit in der Ukrainekrise, lassen das angebracht erscheinen. Im Kampf um das Territorium der Wahrheit wird schließlich ziemlich scharf geschossen.

Daher erlaubt sich der Autor, daran zu erinnern, was er vor einiger Zeit hier an dieser Stelle unter Berufung auf ein bekanntes spirituelles Grundlagenwerk geschrieben hat: „Wenn Du ein Problem (wie z. B. Krieg) lösen möchtest, dann frage Dich zuerst, was ist Dein Anteil am Problem? Wenn Du diese Frage nicht stellst, willst Du das Problem nicht lösen, sondern eskalieren!“
Auch an dieser Stelle hat er bereits früher einmal geschrieben, dass alles mit allem zusammenhängt und dass es daher sinnlos ist, nach Schuldigen zu suchen. Wir sind alle darin involviert. Oder anders herum formuliert: wir sind immer gemeinsam verantwortlich.

Ein wichtiger Trick in der Kommunikation, die wir – sowie Politik und Leitmedien – anwenden, besteht darin, ein Phänomen so zu beschreiben, als wäre es aus sich selbst heraus entstanden. Es gibt aber nichts, was aus sich selbst heraus entstanden ist. Alles ist relativ, das heißt aus Beziehungen hervorgegangen und aus den Interaktionen in diesen Beziehungen.

Der ehemalige Direktor für Russland-Analysen bei der CIA George Beebe wird – daher – in einem Kommentar auf MSNBC so zum Ukrainekonflikt zitiert:

„Die Entscheidung, vor der wir in der Ukraine standen – und ich spreche hier absichtlich in der Vergangenheitsform – bestand darin, ob Russland sein Veto gegen das Engagement der NATO in der Ukraine am Verhandlungstisch oder auf dem Schlachtfeld einlegen würde, und wir haben uns dafür entschieden, sicherzustellen, dass das Veto auf dem Schlachtfeld ausgeübt wird, in der Hoffnung, dass Putin sich entweder zurückhält oder die militärische Operation scheitert.“ (Übersetzung durch den Autor)

Der Verfasser dieses Kommentars, Zeeshan Aleem, schreibt weiter:
„Die USA müssen alles in ihrer Macht Stehende tun, um diese militärische Auseinandersetzung … so schnell wie möglich zu beenden, wozu auch Verhandlungen über den NATO-Status der Ukraine und eine mögliche Neutralität gehören. Und längerfristig müssen die Amerikaner erkennen, dass es in einer zunehmend multipolaren Welt von entscheidender Bedeutung für eine friedlichere und gerechtere Welt ist, sich mit den Grenzen ihrer Macht auseinanderzusetzen.“
Erstaunliche Erkenntnisse in einem Artikel, der an sich ganz von der US-amerikanischen Sichtweise auf die Welt ausgeht…

Es macht keinen Sinn, uns in Ritualen der Empörung zu üben, die letztendlich doch nur in der Logik des Konfliktführens verbleiben. Wir müssen uns aus der Konfliktlogik herausbewegen und das meint, unser Denken über die Welt völlig neu aufzusetzen.
Das gilt genauso auch für andere Themen, für deren Lösung wir zuerst einmal unsere Wahrnehmung, die wir von der Welt haben, ändern sollten. Sonst wird es letztendlich bei einem Immer weiter so wie bisher bleiben.

Die aktuelle Krise in der Ukraine und ihre westlichen Reaktionen darauf ist ein neuerlicher Hinweis, nein, Wink mit dem Zaunpfahl, dass wir uns als Gesellschaft insgesamt keinen Zentimeter weiterbewegt haben. Die Zuspitzung der Verhältnisse auf allen Ebenen wird so lange weitergehen, bis wir das endlich kapiert oder eben den Point of no Return erreicht haben.
Das Vorgehen Russlands in der Ukraine ist ein Weckruf, der die Menschen aus ihren falschen Träumen herausgerissen hat. Wir werden gezwungen, uns zu entscheiden: Wollen wir weiterhin in der Konfliktlogik verbleiben oder entscheiden wir uns für die Lösung?
Eine solche Lösung setzt auch dort an, wo wir zuerst Fragen an uns selbst stellen, wie zum Beispiel diese: Wo waren wir in den letzten acht Jahren? So lange dauert nämlich schon die Ukraine-Krise mit dem alltäglichen Beschuss der Bewohner des Donbass.

Der zu Beginn angesprochene Systembruch, der gerade stattfindet, hat etwas mit der Wahrnehmung zu tun, die wir von der Welt haben. Wahrnehmung ist ein weites Feld – bekanntlich ist das Glas halb voll oder halb leer.
Den Wenigsten ist bewusst, dass die Art und Weise, wie jede und jeder von uns die Welt versteht, auch von „Programmen“ gesteuert ist, die im Hintergrund ablaufen. Solche „Programme“ sind z. B. die großen Mythen, die wir uns seit Jahrtausenden über die Welt erzählen. Im westlichen Zusammenhängen ist dabei der Mythos von der Vertreibung aus dem Paradies und den Folgen dieses Vorgangs von Bedeutung. Wir verstehen unser Dasein daher als Kampf um die Existenz, der auch schon mal auf Leben und Tod geführt werden muss.
Der Gedanke, aus dem Paradies vertrieben worden zu sein, ist aber nicht universal. Diverse Naturvölker kennen diesen Mythos nicht, im Gegenteil sie wurden vom göttlichen Willen als Wächter des Paradieses eingesetzt. Es wäre daher an der Zeit, manche unserer tradierten Mythen zu hinterfragen und uns neue Geschichten über die Welt zu erzählen.

Ein weiterer Ansatz in Bezug auf Wahrnehmung sind unsere Glaubenssätze, die wir auf Grund unserer Erfahrungen in Kindheit und Jugend entwickeln und durch Erziehung und Sozialisation beeinflusst werden. Wir stülpen diese persönlichen Glaubenssätze der Welt über und denken dann, dass die Welt tatsächlich genau so funktioniert, wie wir es zuvor in sie hineininterpretiert haben. Dieser Mechanismus spielt nicht zuletzt bei Personen, die z. B. öffentliche Ämter innehaben oder in Zeitungsredaktionen sitzen eine wesentliche Rolle, denn von deren persönlichen Glaubensätzen wird auch die Wahrnehmung der Öffentlichkeit beeinflusst.

Mit unseren Glaubenssätze inszenieren wir uns tagtäglich unsere Welt und aufgrund langjähriger Erfahrung mit der immer selben Inszenierung, erscheint uns dieses Schauspiel sinnvoll zu sein.
Der Psychologe Stephen Karpman fand jedoch heraus, dass sich solche Inszenierungen oft in einem Dreieck abspielen, wo wir die Rollen des Opfers, Retters sowie Täters/Verfolgers an uns und unsere Mitmenschen vergeben. Die Rollen können wechseln, im Laufe des Spiels kann z. B. der Retter zum Täter werden und die anderen Figuren entsprechend über das Dreieck weiterwandern. Die Spieler dieses Dramas stehen dabei in einem Abhängigkeitsverhältnis untereinander. Diese Konstruktion nennt sich Drama-Dreieck – manche haben dieses Dreieck vielleicht schon in Kommunikations-Seminaren kennengelernt.
Theoretisch könnten wir auch einmal aus unseren Drama-Dreiecken aussteigen, aber weil es so gut zu funktionieren scheint, fühlen sich Menschen offenbar darin zu Hause. Dummerweise haben das auch Politik und Medien verstanden und inszenieren daher die Welt ebenso in einem solchen Dreieck, indem sie die drei Rollen von Opfer, Retter, Täter an verschiedene Akteure vergeben:

Angriffskrieg der Nato gegen Jugoslawien 1999:
Täter: Serbien
Opfer: Kosovo-Albaner
Retter: NATO

Allgemeine Weltlage:
Täter: Putin/Russland
Opfer: unsere Werte
Retter: die westliche Wertegemeinschaft

Klima:
Täter: CO², bzw. die, die das CO² verursachen
Opfer: Kinder, Jugend, spätere Generationen
Retter: eine kleine Schwedin

und so weiter und so weiter.
Wirklich verstanden hat der Autor das Drama-Dreieck allerdings erst, als er an einer überraschenden Stelle wieder darauf gestoßen ist, nämlich beim Schamanismus-Vermittler Alberto Villoldo.
Villoldo nennt dieses Dreieck jedoch „Dreieck der Ohnmacht“ (Erneuere deinen Körper, S. 160).
Er schreibt dazu: „So lange wir uns von unseren beengenden Glaubenssätzen leiten lassen, die im limbischen System gespeichert und dort aktiv sind, werden wir immer von anderen hören wollen, was zu tun ist. Und das sind nicht nur die Ärzte, die über medizinische Maßnahmen bestimmen, sondern auch die politischen Experten… und schließlich die Medien, die uns sagen, wer unsere Feinde sind.“ (ebenda)

Das Drama-Dreieck hält uns also in einer Ohnmacht gefangen, wobei dementsprechend die Retter-Figur oft magisch überhöht wird.
Wenn sich jedoch herausstellt, dass zum Beispiel die Retter-Figur nicht das bringt, was sie versprochen hat, kann das Dreieck der Ohnmacht aufgebrochen werden. Im öffentlichen Raum ist das der Zeitpunkt, an dem die Zivilgesellschaft aus dieser Inszenierung aussteigen kann, um selbst initiativ zu werden.
Psychologisch gesehen ist es wünschenswert, wenn Menschen aus Ihrem Drama-Dreieck ausbrechen, auf politisch/medialer Ebene sieht man das ein wenig anders. Kritische Teile der Zivilgesellschaft, die eigenständig in die Kreativität gehen, sind nicht wirklich gern gesehen und erfahren daher Abwertung. In den letzten Jahren wurde uns das mehr als deutlich vor Augen geführt.

Wenn wir uns solcher Zusammenhänge bewusst werden, wird uns auch die Dynamik der Ukraine-Krise verständlicher. Die Geschehnisse in und um die Ukraine werden schon seit langem als ein solches Drama-Dreieck inszeniert. Wir wissen, wer Täter, Opfer, Retter ist. Die Figuren in diesem Drama sind auch hier voneinander abhängig.

Die Leserin / der Leser mag vielleicht schon ahnen, worauf das hinausläuft:
Die vom Westen vorangetriebene Zuspitzung der Verhältnisse, hat dazu geführt, dass sich die USA aus dem Dreieck herausnehmen muss, um – zumindest vorläufig – nicht in einen Weltkrieg Drei hineinzurutschen. Damit jedoch ist die Macht des Dreiecks gebrochen, die Abhängigkeit der drei Spieler voneinander löst sich auf. Das gibt Russland nun die Möglichkeit, sich neu zu definieren, obwohl es auf den ersten Blick so aussieht, als würde es weiterhin die ihm zugedachte Rolle im Drama-Dreieck erfüllen.
Die Empörung des Westens über das Verhalten Russlands ist aber vor allem deswegen so groß, weil es dieses Dreieck der Ohnmacht verlassen hat. Russland kann jetzt sein Selbstverständnis unabhängig von westlichen Erwartungen neu gestalten und das tut es u. a. dadurch, indem es sich auf eine bestimmte Art in Szene setzt. Auch der Rückzug westlicher Firmen aus Russland eröffnet dem Land einen Raum zur Neuorientierung.

Das Pikante an diesem Vorgang liegt aber darin, dass sich durch das Aufbrechen des Dreiecks auch die Ukraine und die in der Ukraine lebende Bevölkerung neu definieren müssen. Man kann sich nicht mehr auf einen Retter bzw. die Dynamik des Dreiecks verlassen, sondern muss selbst in die Verantwortung kommen. Das beginnt man wohl gerade in der Kiewer Führung wahrzunehmen. Damit können auch hier Verwandlungsprozesse in Gang kommen.

Mit anderen Worten, die derzeitige Situation hat die erstarrten Verhältnisse in Fluss gebracht und wohin das Gewässer fließt, bleibt abzuwarten. Wir sollten aber nicht überrascht sein, wenn jetzt sehr viel möglich wird, was zuvor unmöglich gewesen ist. Der Zusammenbruch eines Drama-Dreiecks eröffnet vom Prinzip her völlig neue Perspektiven.

Der Westen erscheint in dieser Konstellation als Verlierer. Er hat es selber so gewollt. Nun versucht er zwar das Dreieck noch einmal zu kitten, durch Waffenlieferungen, sonstige Unterstützung und Sanktionen, allerdings gibt es kein zurück. Daher auch die unmissverständlichen Forderungen mancher Kräfte nach einem direkten Eingreifen der NATO – endlich Dritter Weltkrieg sozusagen.
Der Westen darf jetzt nicht den Fehler begehen, die Uhr noch einmal zurückdrehen zu wollen.
Der westliche Tanker liegt so oder so bereits mit Schlagseite im Wasser.
Statt dessen sollte der Westen erkennen: Der Aufbruch des Drama-Dreiecks wird auch für ihn zur Chance. Und diese muss er unbedingt nützen!

Der Autor hat an dieser Stelle bereits einmal geschrieben, dass wir in einer Wendezeit leben – eigentlich ein Wendezeitraum – und dass das Charakteristikum dieser Wendezeit der Mauerfall ist. Mit den Maßnahmen des Westens in dieser aktuellen Welt-Krise, verbunden mit der Ablehnung von allem, was mit Russland zu tun hat, nimmt sich daher der Westen selbst aus dem Spiel. Wir wissen: wovon das Herz voll ist, davon geht der Mund über.

Die EU zerstört gerade vieles von dem, was von Generationen über Jahrhunderte am europäischen Kontinent aufgebaut worden ist. Ehrlicher kann das Statement der EU, was sie vom Alten Kontinent, seiner Geschichte und Kultur hält, nicht sein.
Die Welt blickt auf dieses EU-ropa und sie kann in ihm keinen weise gewordenen Krieger erkennen, der sich selbst besiegt hat und somit die Fähigkeit erlangt hätte, zu führen. EU-ropa war einmal selbst ein Mythos. Jetzt aber werden sich die Menschen einen neuen Mythos suchen, der ihnen einen verlässlicheren Weg in die Zukunft weisen kann.

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