EIN HALTEPUNKT – ZUM 100. JAHRESTAG VON BORIS SLUTSKY

EIN HALTEPUNKT – ZUM 100. JAHRESTAG VON BORIS SLUTSKY

Ich beginne einen Vortrag oder ein Konzert. Über die Dichter des Großen Vaterländischen Krieges. Ich schließe das berühmte Lied „Brigantine“ von Pavel Kogan ein, der im Krieg starb. Junge Leute hören zu.

Wer hat es geschrieben?

Stille.

Gehen wir weiter: Pavel Kogan, Michail Kultschitsky, Wsewolod Bagritski, Leonid Wilkomir, Juri Lewitansky, Semyon Gudzenko, Ion Degen, Semyon Lipkin, David Samoilow, Boris Slutskiy……

Von einem hat man schon mal gehört, aber das ist alles. Dann wird gepasst.

„Danke“, sagt ein Junge in den Zwanzigern. „Wir wussten fast nichts über diese Dichter. Weder in der Schule noch im Institut wurden wir so über sie unterrichtet.“

Selbstverständlich“, fügt ein weiterer hinzu. „Immer nur Siegestag und wieder Siegestag. Ich bin es leid, einen Tag des Sieges zu haben, das kannman nicht mehr hören.“

Ich verstehe. Politiker und Beamte können alles  verderben. Aber trotzdem verletzten solche Worte das Ohr. Was sagt man dazu?

Vor mehr als viertausend Jahren, in etwa, kamen die Juden aus Ägypten. Mit Gottes Hilfe entkamen sie dem Pharao. Seitdem feiern sie ihre Befreiung jedes Jahr im Frühjahr. Ich bin es nicht leid. Sieg im Großen Vaterländischen Krieg ist auch eine Befreiung. Befreiung von Hitler. Befreiung von solcher Sklaverei, die keinem Pharao einfallen konnte. Und so gehe ich jetzt. Im Kopf dreht sich diese Liste all derer. Es gab noch andere wunderbare Dichter des Krieges: Mayorov und Simonov, Tvardovsky und andere. Aber warum so viele Juden? Dazu gibt es eine unerwartete Antwort von Boris Slutskiy:

Wir Juden hatten Glück.

Nicht unter falscher Flagge versteckt,

wurden wir dem Bösen ohne Maske ausgesetzt.

Es wurde nicht als gut hingestellt.

Es gab noch keinen Streit

in einem feierlich tauben Land.

Und wir, an die Wand gedrückt,

fanden in dem Land eine Stütze.

Glück gehabt? Worin Glück? Darin, dass „es das Böse ohne Maske gab“? Nein. In der Tatsache, das es „Stützpunkte“ gab. Viele Veteranen erklärten, dass die Kriegsjahre nach de schrecklichen Unterdrückung der dreißiger Jahre für sie eine Zeit der relativen Freiheit wurden. Die jungen Juden fanden damals im Land einen „Bezugspunkt“. Denn wie alle anderen gingen sie schließlich, als Gleichgestellte unter Gleichen, in den Kampf mit dem „Pharao“ des XX. Jahrhunderts. Zusammen. Mit allen. In diesem Moment schien es ihnen, dass die Suche nach der Einheit von dem Land, in dem sie lebten, mit der des Wohnsitzes zusammenfiel. Es war möglich als Gleicher mit allen anderen zu kämpfen und zu sterben. Weil Gott in diesem Moment mit dem Land war. Hier muss man sich sofort an den Satz von Semena Lipkin zu erinnern, den er im Streit mit Wassily Grossman äußerte: „Im Krieg hat Gott gewonnen, der sich im Volk niedergelassen hat.“ Es ist nicht schwer, die Parallelen zur Ermahnung an Josua zu erkennen: „Niemand kann in allen Tagen deines Lebens vor dir stehen; aber wie ich bei Mose war, werde ich auch bei dir sein; ich werde dich nicht aufgeben, noch werde ich dich verlassen.“

Slutskiy war einer der Ersten. Major, politischer Offizier. Auch nach dem Krieg behielt er die Gewohnheiten und das Verhalten seines Offiziers für lange Zeit bei. In den siebziger Jahren ging ich eine Zeitlang in ein Seminar von ihm, das er bei der Zeitschrift „Yunost“ leitete. Bemerkenswert war: „Nachdem ich zusammengefaßt habe“, sagte Boris Abramovich, „müssen  die anderen schweigen.“ Nicht wörtlich, aber ungefähr so. Yuri Lewitansky erzählte mir, dass Slutsky ihn und David Samoilov ziemlich regelmäßig anrief und  einen Bericht über seine Arbeit verlangte: Was schreiben Sie, was haben Sie geschrieben?

Mit einem Wort – ein Kommissar.

Natürlich begann das russische Land, das Slutskiy und andere junge Dichter angesichts des Krieges bereits gefunden zu haben schienen, einige Jahre nach dem letzten Schuss unter den  Füßen von Slutskiy zu verschwinden. Nicht auf einmal. Allmählich erinnerte er sich daran, was er mit sich trug „wie eine Seuche, zu der diese Rasse verdammt ist“. Man brachte ihn dazu sich zu erinnern und nie zu vergessen. Hier scheint mir die Haupttragödie von Slutsky nach dem Krieg zu liegen: Nachdem er den einen „Pharao“ besiegt hatte, kehrte er in das „gelobte Land“ zurück, fand dort aber einen anderen „Pharao“ – den sowjetischen. Und der russische Dichter Slutskiy musste mit Bitterkeit feststellen: „Auf dem russischen Land sind meine Rechte nicht groß.“ Und – wie in einem hoffnungslosen Trost: „Aber  den russischen Himmel wird niemand mir wegnehmen.“ Natürlich wird niemand ihn wegnehmen. Vor allem, da der Himmel als Allgemeines allgemein ist und es in ihm keine Grenzen und Nationalitäten gibt. Aber die eigenen Wurzeln im Himmel zu sehen, ist auch ein sehr jüdisches Merkmal, das sich im Laufe der Jahrtausende des Wanderns entwickelt hat.

Der Dichter Slutskiy hat gewonnen. Der Bürger Slutskiy erlitt nach dem großen Sieg eine Niederlage. Dazu gestand er:

„…ich bin nicht durchgebrochen, sondern abgestürzt,

Ich bin nicht durchgedrungen, ich bin ausgerastet.

Ich trat mit einem Fuß auf.

Entweder Staatsangehörigkeit oder Staatsbürgerschaft,

Ich gehe zurück in mein Heimatland,

Ich gehe zurück vom Punkt in den Raum.“

Irgendwo in diesem grenzenlosen, staatenlosen, „flüchtigen“ Raum befindet sich Slutskiy bis heute. Zusammen mit seinen großen Gedichten.

 

Efim Bershin

Übersetzt von Kai Ehlers

zum russischem Original >>>

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