Falsche Welt

Falsche Welt

Abends gehe ich heimlich in den kleinen Gassen und Höfen spazieren. Heimlich, weil es verboten ist. Ich liebe Hinterhöfe: Für mich ist in ihnen immer etwas Neues verborgen, unsichtbar für das Auge der ewig eilenden Passanten. Aber wir müssen jetzt nicht über Passanten sprechen. Die Straßen und Höfe sind abends leer. Zufällige Passanten gehen, wenn sie mich sehen, auf die andere Straßenseite hinüber oder umgehen mich und wenden sich ab.

Es ist die Angst. Und die Angst ist verständlich. Alle Fernsehnachrichten beginnen ausschließlich mit Informationen darüber, wie viele Menschen sich mit dem Coronavirus infiziert haben und wie viele daran gestorben sind. Zahlreiche Professoren und Akademiker stellen Vermutungen darüber an, wie viele von uns in naher Zukunft sterben werden und wie lange wir das Haus nicht verlassen können. Aber da bisher noch keiner von ihnen etwas Verständliches, für normale Menschen Verständliches gesagt hat, ist es mir irgendwie nicht in den Sinn gekommen, ernsthaft über diesen unerwarteten Angriff zu sprechen, der uns auf den Kopf gefallen ist. Die Menschen sind wirklich krank und sterben, und ich kann das Vorhandensein einer Pandemie nicht leugnen. Andererseits erkranken und sterben Menschen immer wieder an verschiedenen Krankheiten, weil wir selbst Träger von Millionen von Viren sind und nicht wissen, welcher von ihnen morgen aktiv sein wird. Wir wissen nur, dass es geschehen wird. Leider hat der Herr uns als Sterbliche erschaffen.

Aber für mich ist etwas anderes interessant. Ich frage mich, wie schnell die überwiegende Mehrheit der Menschen, die einfach aus Mangel oder völliger Unkenntnis nicht verstehen können, was geschieht, einer drastischen Einschränkung ihrer Menschenrechte zugestimmt haben. Nicht alle, aber die große Mehrheit. Ich bin bereit zuzustimmen, dass wir gegenwärtig die Kommunikation einschränken, uns die Hände waschen und uns in Sitzungen nicht küssen sollten. Aber als Kind zwang mich meine nicht sehr gebildete Mutter auch, mir die Hände zu waschen und nicht zum Nachbarsjungen zu gehen, wenn dieser die Grippe oder die Masern hatte. Und obwohl es mir schwerfiel, stimmte ich dem zu. Auch  heute bin ich bereit, meine Hände zu waschen und auf Küsse zu verzichten. Aber ich kann der totalen elektronischen Überwachung nicht zustimmen, den elektronischen Pässen, der Tatsache, dass unsere Telefone und das Internet zu unseren Wächtern geworden sind, nicht zustimmen kann ich den hohen Bußgeldern für das Gehen auf fast menschenleeren Straßen, der Unlogik der Verbote, wenn Kirchen geschlossen werden, während sich in der Metro immer noch Menschenmassen gegenseitig ins Gesicht atmen.

Ich verstehe, dass man mich jetzt steinigen wird, aber ich muss feststellen, dass die gegenwärtige Pandemie (falls es sich um eine Pandemie handelt) ein hervorragendes Testfeld für neue Methoden zur Beeinflussung des öffentlichen Bewusstseins geworden ist. Die derzeitige Methode ist die Verbreitung von Angst. Das Virus wird sich früher oder später beruhigen, aber ich bin überzeugt, dass unsere Politiker und andere führende Politiker der Welt Lehren für die Zukunft ziehen werden. Und diese Lektionen werden für die Weltbevölkerung deprimierend sein. Denn schon Niccolo Machiavelli schrieb, dass Politik die Kunst ist, Menschen zu manipulieren. Und seine Anhänger argumentieren, dass Machiavellis Prinzipien der Regierungsführung heute sowohl in totalitären als auch in modernen Demokratien gelten. Die Prinzipien sind die gleichen, nur die Methoden sind anders. Der wissenschaftliche und technische Fortschritt hat es möglich gemacht, riesige Massen mit Hilfe elektronischer Mittel ohne jegliche Gewaltanwendung zu kontrollieren. Es ist kein Zufall, dass Revolutionen heutzutage nur in technologisch rückständigen Ländern stattfinden. Das ist nicht so, weil der Lebensstandard dort niedriger ist, sondern weil die dortigen Machthaber nicht über die elektronischen Möglichkeiten verfügen, welche die technisch fortgeschrittenen Staaten haben. Und damit auch nicht die Möglichkeiten der Manipulation. Es ist so, weil, wie Merab Mamardaschwili beschrieb, Manipulation auf einem  Bewusstsein beruht, das die Illusion oder die äußere Form als das Wesen dieses oder jenes Phänomens betrachtet. Und auch Erich Fromm hat, als es noch kein Internet gab, bewiesen, dass politische Manipulation im kybernetischen Zeitalter einen Menschen seiner Fähigkeit beraubt, sich ein vollständiges Bild von der Welt zu machen, und dieses durch ein abstraktes Mosaik von parteiischen Fakten ersetzt. Fromm argumentierte auch, dass Manipulation eine falsche Realität voraussetzt. Längst haben wir eine zweite, weitgehend gefälschte Realität erhalten, die durch das Fernsehen und das Internet geschaffen wurde.  Aber jetzt, da alle zu Hause sitzen sollen, haben wir eigentlich nur noch eine Realität – eine Scheinrealität. Diese Realität beraubt die Menschen ihrer Verantwortung, des Bewusstseins ihrer Rolle im realen gesellschaftlichen Prozess, flößt ihnen Angst ein und hindert sie selbstständig zu denken. Und während Vertreter verschiedener politischer Richtungen (genauer gesagt, Sekten und Schablonen) darüber streiten, ob sich die Regierung in dieser Pandemie richtig oder falsch verhält, verdichtet sich über uns allen eine globale elektronische Pandemie, aus der nur wenige Menschen lebendig und selbstdenkend hervorgehen können.

Das ist der Grund, weshalb ich trotz Verbot durch die kleinen Straßen und durch die Höfe gehe und gehen werde. Denn der Frühling ist da. Weil die grünen Blätter in Bäumen und Sträuchern allmählich zum Leben erwachen. Weil es da draußen eine lebendige Realität gibt, eine lebendige, keine gefälschte Welt.

Jefim Bershin.  

Übersetzung;: Kai Ehlers

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