Heftiger Protest gegen die Erhöhung des RenteneintrittsaltersSchneider, Prof. Dr. Lic. Eberhard © Schneider

Heftiger Protest gegen die Erhöhung des Renteneintrittsalters

Kurz nach der Wahl von Wladimir Putin zum vierten Mal zum Präsidenten am 18. März 2018 gab Premier Dmitrij Medwedew Ende April 2018 bekannt, dass die Regierung ein neues Gesetz über den Eintritt in das Rentenalter ausarbeitet. Männer sollen bis zum Jahr 2028 statt mit 60 mit 65 Jahren in Rente gehen dürfen und Frauen bis 2034 statt mit 55 Jahren mit 63 Jahren.

Hintergrund ist laut einer Studie der „Stiftung Wissenschaft und Politik“ in Berlin, dass sich das Verhältnis von Pensionären zu Berufstätigen verschiebt, weshalb der Pensionsfonds auf steigende Zuschüsse aus dem föderalen Haushalt angewiesen ist.

„Das russische Statistikamt Rosstat erwartet in seinen Prognosen, dass die Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter in den Jahren 2018 bis 2024 um 5 Prozent schrumpft, während die Zahl der Rentner im selben Zeitraum um 9,3 Prozent steigt. Dadurch werden höhere Transfers aus dem föderalen Haushalt in die Rentenkassen nötig: Im Jahr 2016 beliefen sich die Beitragseingänge des Pensionsfonds auf 4,8 Prozent des russischen BIP, während die Rentenzahlungen bei 7 Prozent des BIP lagen.

Die Finanzierungslücke, die 2016 somit 2,2 Prozent des BIP betrug, dürfte demografisch bedingt bis 2024 auf 3,3 Prozent des BIP ansteigen.“[1] Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt in Russland laut der staatlichen Statistikbehörde ROSSTAT für Männer bei 66 Jahren und für Frauen bei 77 Jahren. 40 % der Rentner arbeiten nach dem Erreichen des Pensionsalters weiter, um so ihre Rente, die sich auf 29,1 % des Durchschnittsgehalts beläuft, aufzubessern.[2]

Laut einer Umfrage des Moskauer Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum von Ende Juli 2018 sind 89 % der Bevölkerung gegen die Erhöhung des Rentenaltes.[3] Es ist schwer, so das Meinungsforschungsinstitut, sich an andere Entscheidungen der russischen Behörden zu erinnern, die zu einer solchen einstimmigen Ablehnung führten.

Am 19. Juli 2018 billigte die Staatsduma in der ersten Lesung das Gesetz. (Die zweite Lesung ist für September vorgesehen.) Dieses Gesetz beginnt inzwischen die Machtpartei „Einiges Russland“ (ER) zu korrodieren. So nahm an der Abstimmung der ER-Abgeordnete Sergej Shelesnjak, der auch Mitglied des Staatsdumakomitees für internationale Beziehungen ist, nicht teil. Zudem trat er von seiner Parteifunktion als Stellvertretender Sekretär des Generalrats von „Einiges Russland“ – das höchste Organ zwischen den Parteitagen – zurück. Seine Fraktionskollegin Natalija Poklonskaja stimmte gegen das Gesetz und weigerte sich außerdem, an der Sitzung der von ihr geleiteten Kommission der Staatsduma für die Kontrolle der Einkommen der Abgeordneten teilzunehmen.[4]

Das Rating der Machtpartei „Einiges Russland“ sank inzwischen laut einer Umfrage des Moskauer Meinungsforschungsinstituts WZIOM Mitte August 2018 auf den niedrigen Stand von 35,3 %.[5] Auch Putin hat an Zustimmung verloren. Sein aber immer noch hohes Rating sank laut einer Umfrage des Lewada-Zentrums von 82 % im April 2018 auf 67 % im Juli.[6]

Am 28. Juli 2018 protestierten in Moskau 12.000 Menschen und in anderen Städten Tausende gegen die Erhöhung des Renteneintrittsalters. Sie folgten den Aufrufen der Kommunistischen Partei, der Gewerkschaften und der außerparlamentarischen Opposition von Alexej Nawalnyj. Laut der Aussage des Präsidenten der „Konföderation für Arbeit Russlands“ – zeitgrößte russische Gewerkschaft -, Boris Krawtschenko, fanden bis Mitte August 2018 450 Demonstrationen in 281 Städten gegen die Rentenreform statt.[7]

Eine andere Form des Protestes ist die Durchführung eines Referendums, welches die Kommunisten anstreben. Das entsprechende Gesetz schreibt vor, dass für dessen Durchführung 2 Mio. Unterschriften in 42 Föderationssubjekten gesammelt werden müssen, wobei es in einem Föderationssubjekt nicht mehr als 50.000 sein dürfen.

Diejenige Initiativgruppe, die als erste der Zentralen Wahlkommission die geforderte Anzahl an Unterschrift vorlegt, darf das Referendum mit ihrer Frage durchführen. Die genaue Formulierung der Frage muss allerdings vorher mit der Zentralen Wahlkommission abgestimmt werden. Verschiedene Initiativgruppe haben sich inzwischen gebildet, was dazu führen könnte, dass keine genügend Unterschriften sammeln wird, so dass das Referendum nicht zustande kommt, was im Interesse der Präsidialadministration sein könnte. Nach Auskunft der Leiterin der Zentralen Wahlkommission, Ella Pamfilowa, waren Mitte August bereits 20 Anträge lokaler Initiativgruppen in 15 regionalen Wahlkommissionen formuliert worden.

Am 21. August 2018 führte die Staatsduma eine Anhörung zum neuen Rentengesetz durch, die der Erste Stellvertretende Leiter der ER-Fraktion, Adalbi Schagoschew, als eine Alternative zum Referendum sieht.[8] Die Anhörung fand in zwei Teilen statt: Vertreter der Regierung und ihr nahestehender Strukturen sowie Experten verteidigten die Erhöhung des Renteneintrittsalters, räumten aber Mängel der Reform ein und ihre mangelnde Gründlichkeit.

Eine kleine Gruppe von Führern der Opposition in der Staatsduma forderte dagegen die Aufgabe der Reform.[9] Die Zeitung „Wedomosti“ fasst die Anhörung so zusammen: „Die Regierung hat den Abgeordneten die Rentenreform anvertraut, aber es ist der Staatsduma nicht erlaubt, die Schlüsselparameter zu ändern.“

 

[1]              Kluge, Janis, Russlands Staatshaushalt unter Druck. Finanzielle und politische Risiken der Stagnation. Berlin 2018, S. 21. SWP-Studie 14 vom Juli 2018 (https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2018S14_klg.pdf)

[2]              https://www.kommersant.ru/doc/3701755

[3]              https://www.levada.ru/2018/07/31/nado-plyt-obshhestvennoe-mnenie-o-pensionnoj-reforme/

[4]              https://www.vedomosti.ru/politics/articles/2018/07/26/776662-reforma-partiyu

[5]              https://wciom.ru/news/ratings/elektoralnyj_rejting_politicheskix_partij/

[6]              https://www.levada.ru/indikatory/odobrenie-organov-vlasti/

[7]              https://www.svoboda.org/a/29420279.html

[8]              http://www.1rre.ru/157411-gosduma-21-avgusta-2018-goda-provedet-slushaniya-po-voprosu-pensionnoj-reformy.html

[9]              https://www.vedomosti.ru/politics/articles/2018/08/22/778697-pensionnuyu-reformu-deputatam

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