Verfassungsrechtlich eigentlich nicht nötiges Referendum und Machtkampf im FSBSchneider, Dr. Lic. Eberhard © Schneider

Verfassungsrechtlich eigentlich nicht nötiges Referendum und Machtkampf im FSB

Referendum

[Eberhard Schneider] Am 1. Juli 2020 wurde das Referendum über die Verfassungsänderungen abgeschlossen, das eigentlich am 22. April 2020 hätte stattfinden sollen, welches aber wegen der Corona-Pandemie verschoben worden war. Mit der Beteiligung von 67,67 % war die erforderliche Norm der Mindestbeteiligung von 50 %, damit das Referendum rechtlich gilt, erfüllt. Für die Verfassungsänderungen votierten 77,92 %, mindestens 50 % wären nötig gewesen.[1] Verfassungsrechtlich ist kein Referendum erforderlich gewesen, denn es waren Mitte März nur Artikel in den Verfassungskapiteln 3-8 geändert worden, für deren Änderungen nur die Zustimmung von zwei Dritteln der Abgeordneten der Staatsduma und drei Vierteln der Senatoren des Föderationsrats sowie die Zustimmung von zwei Dritteln der regionalen Parlamente erforderlich waren, die auch erfolgten (Vgl. meine April-Kolumne). Folgerichtig unterschrieb Präsident Wladimir Putin am 3. Juli 2020 das Dekret über das Inkrafttreten der Verfassungsänderungen vom 14. März 2020.[2] Das Verfassungsänderungsgesetz hatte Putin bereits am 14. März 2020 unterschrieben gehabt.[3]

Bei der Änderung der Verfassungsartikel ging es im Kern um die Nullsetzung der bisherigen vier Amtszeiten Putins und die Ermöglichung von zwei neuen. Mit der Einführung von sozialen Artikeln wie der Erhöhung des Mindestlohns auf das Existenzminimum und die Indexierung der Rente (ihre regelmäßige Erhöhung um die Inflationsrate) sollte die Zustimmung vieler Menschen gewonnen werden. Die Befragung vom 27. bis 28. Juni 2020 von 1.622 Personen der russischen Bevölkerung über 18 Jahren durch das Moskauer Lewada-Zentrum, ob sie der Annullierung der bisherigen Amtszeiten Putins und der Ermöglichung seiner erneuten Teilnahme an Präsidentschaftswahlen zustimmen, ergab, dass 31 % dies definitiv billigten, 21 % eher billigten, 33 % dies definitiv ablehnten, 11 % eher ablehnten.[4] Das bedeutet, dass 52 % mehr oder weniger dafür waren und 44 % mehr oder weniger dagegen. Die Wähler durften zwischen den 206 Änderungen nicht auswählen, sondern nur das gesamt Paket annehmen oder ablehnen.

Die Abstimmung über das Referendum begann bereits am 25. Juni 2020, weil angesichts der Anticorona-Schutzmaßnahmen immer nur wenige Personen gleichzeitig in einem Wahllokal sein durften. Nach Mitteilung der Zentralen Wahlkommission stimmten 54 % der Wähler vor dem 1. Juli 2020 ab, 62 % von denen in und 36 % außerhalb eines Wahllokals. Insgesamt stimmten 30 % der Wähler in einem Wahllokal ab.[5] Die Möglichkeit, über eine Woche lang und mittels des „Mobilen Wählers“ auch außerhalb des Wahllokals abzustimmen zu können, wurde stark genutzt. Das ermöglichte die Abstimmung unabhängig davon, wo der Wähler registriert ist, also z.B. in der Wohnung (gab es auch früher), an einer Ecke am Straßenrand usw. Im Wahllokal musste jedoch jeder Wähler ein Papier unterzeichnen, in dem er erklärte, dass er noch nicht gewählt hat, und er wurde vor der Verantwortung einer Doppelwahl gewarnt. Trotzdem kam es dazu, dass auch doppelt abgestimmt wurde. Zudem kam es vor, dass jemand, der in seinem Wahllokal abstimmen wollte, feststellen musste, dass für ihn bereits abgestimmt worden war, sogar mit Unterschrift im Wählerverzeichnis. Am 21. Juli 2020 beschloss die Zentrale Wahlkommission, bis zum 30. Juli die Daten von 23.000 Wählern zu überprüfen, die über die Verfassungsänderungen doppelt abgestimmt haben konnten.[6] Eine andere Lehre zog die Staatsduma am 21. Juli 2020 aus dem Referendum: In Zukunft kann bei Wahlen und Referenda innerhalb von drei Tagen abgestimmt werden. Zur regulären Regionalwahl am 13. September 2020 wird dieses neue Gesetz zum ersten Mal angewandt werden.[7]

Die bekannte russische Innenpolitikanalytikerin Tatjana Stanowaja von Moscow Carnegie fragte sich, warum Putin unbedingt das Referendum wollte, das verfassungsrechtlich gar nicht erforderlich war. Sie meint, dass Putin diese Vertrauensbescheinigung der russischen Öffentlichkeit wollte, um den Eliten in Moskau klar zu machen, dass sie nicht nach einem Präsidentennachfolger zu suchen brauchen. „Diese Angst, dass die Eliten nach einem Nachfolger suchen, anstatt wie gewohnt zu arbeiten, erklärt Putins Wunsch, seine Beziehung zu ihnen neu zu gestalten. Sein Plan, das Gütesiegel des Volkes zu erhalten, verrät sein wachsendes Misstrauen gegenüber dem Establishment.“[8]

Machtkampf im FSB

Am 3. Juli 2020 wurde der Ermittler des Ermittlungskomitees für besonders wichtige Fälle, Ruslan Miniachmetow, festgenommen zwecks Einleitung eines Strafverfahrens wegen Annahme eines Bestechungsgeldes in einem besonders großen Ausmaß (Teil 6 von § 29 des russischen Strafgesetzbuches).[9] Die Entscheidung über die Einleitung dieses Verfahrens war vom Chef des Ermittlungskomitees, Alexander Bastrykin, unterzeichnet gewesen. Miniachmetow hatte hauptsächlich hochkaratigen Ermittlungen durchgeführt wie z.B. gegen den Generalleutnant des Innenministeriums Denis Sugrobow, den Generalleutnant des Föderalen Drogenkontrolldienstes FSKN (hat Geheimdienstcharakter) Alexander Bulbow, den ehemaligen Leiter der Hauptuntersuchungsdirektion des Ermittlungskomitees Dmitrij Dowgij und gegen Witalij Wawilin, den ehemaligen Chef der Bank „Globex“, die involviert war in eine Holzsache, die sich gegen die Brüder Alexander und Oleg Nawalnij richtete. Miniachmetow nahmen Offiziere der Verwaltung „M“ (Ordnung in den Strafverfolgungsorganen) des FSB fest. Miniachmetows Büro wurde durchsucht, und er wurde vier Stunden lang verhört, musste aber nicht in Untersuchungshaft. Der Stellvertretende Generalstaatsanwalt Viktor Grinin hob die Entscheidung des Leiters des Ermittlungskomitees Bastrykin, Miniachmetow festzunehmen, auf.

Miniachmetow arbeitete eng mit der Verwaltung „K“ (wirtschaftliche Spionageabwehr) des FSB zusammen. Er hatte bisher hauptsächlich Strafsachen untersucht, bei denen er operative Unterstützung durch diese Verwaltung erhielt und die auch Initiatorin der Verfahren war. Die Verwaltung „K“ war sozusagen das „Dach“ von Minachmetow.

Generalstaatsanwalt Bastrykin legte sofort beim Generalstaatsanwalt Igor Krasnow Berufung gegen die Entscheidung des Stellvertretenden Generalstaatsanwalts Grin ein, die Festnahme Miniachmetows aufzuheben. Und am selben Tag wies Generalstaatsanwalt Igor Krasnow die Militärstaatsanwaltschaft an, die Rechtmäßigkeit der Handlungen der Offiziere der Verwaltung „M“ zu überprüfen, Miniachmetow festzunehmen.

Bis zu seiner Bestätigung als Generalstaatsanwalt durch den Föderationsrat am 22. Januar 2020 war Krasnow Stellvertretender Leiter des Ermittlungskomitees gewesen, also Stellvertreter Bastrykins (vgl. meine März-Kolumne). Zwischen beiden besteht eine sehr gute Beziehung. Es geht vielmehr um einen Kampf zwischen den beiden FSB-Verwaltungen „M“ und „K“.[10] Bei der Bildung der neuen Regierung im Januar 2020 (vgl. meine Februar-Kolumne) blieb der Block der Machtbehörden (Innenministerium, FSB, Generalstaatsanwaltschaft, Strafverfolgungsorgane) praktisch unverändert bis auf die soeben angeführte Auswechslung des Generalstaatsanwalts, die mehr technischer Natur war, damit der bisherige Generalstaatsanwalt Jurij Tschajka Vertreter des Präsidenten im Föderalen Bezirk Nordkaukasus werden konnte. Es war zu erwarten, dass nach dem positiven Ausgang des Referendums über die Verfassungsänderungen in dem Machtblock Bewegung stattfinden würde. Der Kampf der Verwaltungen „M“ und „K“ ist ein Kampf der Clans, Generalstaatsanwaltschaft und Ermittlungskomitee sind dabei nur Werkzeuge. Die Verwaltung „M“ leitet General Wladimir Sergejenko. Die Verwaltung „K“ gehört zum „Dienst für wirtschaftliche Sicherheit (SEB)“, dem Vierten Dienst des FSB, und wird von General Iwan Tkatschew geleitet, einem der einflussreichsten Sicherheits- und Machtfiguren des Landes. Fünf Tage nach seiner Vereidigung als Präsident hatte Dmitrij Medwedew am 12. Mai 2008 den bisherigen Leiter des SEB, Armeegeneral Alexander Bortnikow, geboren 1951, zum neuen Chef des FSB ernannt.

[1]              http://cikrf.ru/news/cec/46749/

[2]              http://publication.pravo.gov.ru/Document/View/0001202007030012

[3]              http://kremlin.ru/acts/news/63602

[4]              https://www.levada.ru/2020/07/02/obshherossijskoe-golosovanie-po-popravkam-v-konstitutsiyu-4/

[5]              https://www.vedomosti.ru/newspaper/articles/2020/07/02/833880-rezultati-golosovaniya

[6]              https://www.vedomosti.ru/politics/articles/2020/07/21/835086-dannie-23-000-rossiyan

[7]              https://www.kommersant.ru/doc/4432231

[8]              https://carnegie.ru/commentary/82229

[9]              https://novayagazeta.ru/articles/2020/07/04/86149-lubyanskie-voyny

[10]             https://www.mk.ru/social/2020/07/05/podopleka-zaderzhaniya-sledovatelya-pri-bastrykine-voyna-idet-v-fsb.html

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