Von einem Glücksfall der Diplomatie und was dieser mit der aktuellen Weltpolitik zu tun hat

Von einem Glücksfall der Diplomatie und was dieser mit der aktuellen Weltpolitik zu tun hat

[von Michael Schütz]  Am 16. Januar erschien auf russland.News ein interessantes Video von Philipp Rowe in dem er sich gleichsam auf die Suche nach der russischen Seele begibt – und dabei das russische Mindset findet.

Wir greifen hier einen Aspekt dieses von Rowe vorgestellten russischen Mindsets auf, um damit – im jetzigen Zeitkontext geradezu zwingend – an einen Glücksfall der Diplomatie zwischen Ost und West zu erinnern.

Rowe mag es verzeihen, dass der Autor hier den Begriff „Mindset“ möglicherweise vereinfachend  mit „Mentalität“ wiedergibt, oder mit dem umgangssprachlichen Wort „Ticken“.

Wie tickt also der Russe und was hat das mit der angesprochenen Sternstunde der Diplomatie zu tun, aus der wir womöglich etwas für die aktuellen Strategieprobleme rund um die Ukraine lernen können?

Wir leben gerade in Zeiten, wo es auf verschiedenen Ebenen hoch hergeht.

Rowes Video fällt genau in eine Phase drastischer Spannungen zwischen West und Ost und dem Versuch durch intensive Wortgefechte einerseits und Verhandlungen andererseits diese Eskalationssituation für sich zu entscheiden, bzw. in den Griff zu bekommen.

Es liegt auf der Hand, dass westliche Verhandler, die mit Russland sprechen wollen, dieses Mindset bzw. Ticken der Russen kennen sollten, um nicht blauäugig in solche Verhandlungen hineinzugehen und womöglich mit den falschen Schlüssen wieder herauszukommen. Da gäbe es also den Vorschlag, angehenden Russland-Verhandlern Rowes Video unbedingt in den Koffer zu packen…

Es ist besonders eine Eigenschaft des von Rowe vorgestellten russischen Mindsets, die beim Autor eine Assoziationskaskade ausgelöst hat: Großzügigkeit, Großherzigkeit und damit verbunden, die Größe zu haben, zu verzeihen. So wie das Land groß ist, sagt Rowe, sind auch die Russen großzügig und sie besitzen dabei auch die Fähigkeit, dem anderen etwas zu gönnen.

Wer schon einmal von dieser russischen Großzügigkeit überrascht worden ist, wird sie nicht so schnell wieder vergessen und das bezieht sich auch auf ein historisches Ereignis, mit dem sich der Autor in einem anderen Zusammenhang vor bereits mehr als zweieinhalb Jahrzehnten beschäftigt hat: dem Abschluss des Österreichischen Staatsvertrags von 1955, der das Land nach 10 Jahren Besatzung durch die vier Siegermächte des WK II in die Freiheit und Neutralität entlassen hat. Der Schlüssel zu diesem Vertrag lag in Moskau und obwohl der Autor zwischenzeitlich fast alle Details, die dabei eine Rolle gespielt haben, wieder vergessen hat, ist ihm ein Schlagwort dazu immer in Erinnerung geblieben: die Großzügigkeit.

Die Erinnerung an den österreichischen Staatsvertrag erscheint hier schon deshalb angebracht, weil inzwischen in den USA selbst sich Analysten aus der Deckung wagen und in Bezug auf die Ukraine-Krise zum Beispiel auf eben diesen Glücksfall der Diplomatie mitten im Kalten Krieg, mitten in Europa verweisen.

Die angespannte innen- und außenpolitische Situation der USA hat offenbar dazu geführt, dass vereinzelt, aber an durchaus prominenter Stelle Stimmen zu hören sind, die jetzt ein klares Reinemachen einfordern. Und dazu gehört eben auch eine Neubewertung des Engagements der USA in der Ukraine.

Eine dieser Stimmen ist die Publizistin Katrina vanden Heuvel, die in ihrem Artikel Stop the stumble toward war with Russia (Stoppt das Taumeln Richtung Krieg mit Russland) in der

Washington Post schreibt:

„…Die Ukraine gibt Biden die Möglichkeit, sich diplomatisch zu engagieren. Österreich bietet ein Modell an. Mitte der 1950er Jahre, als sich der Kalte Krieg verschärfte und das atomare Wettrüsten begann, trafen sich die Sowjets und die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich, um zu entscheiden, was mit Österreich geschehen sollte. Die Sowjets, die im Zweiten Weltkrieg bis zu 27 Millionen Menschen verloren hatten, hatten geschworen, niemals auch nur einen Zentimeter des von ihren Truppen besetzten Gebiets abzugeben. Der streitbare US-Außenminister John Foster Dulles lehnte Verhandlungen zunächst ab. Trotzdem einigten sich die beiden Seiten in 13 quälenden Verhandlungstagen darauf, ein unabhängiges und neutrales Österreich zu garantieren, das von allen Besatzungstruppen befreit ist….“

Dieser Absatz bedarf ein bisschen einer Kommentierung:

Haben die Sowjets tatsächlich „geschworen“, niemals auch nur einen Zentimeter des von ihren Truppen besetzten Gebiets abzugeben?

In Bezug auf Österreich nicht. Eher im Gegenteil.

Bereits 1943 wurde in der Moskauer Deklaration der alliierten Außenminister als Ziel des Kampfes gegen Hitler-Deutschland u. a. die Errichtung  eines freien und unabhängigen Österreich genannt. Obwohl die Westmächte später Moskau wieder von dieser Zielsetzung abbringen wollten, beharrte Stalin auf dieser Entscheidung. Entsprechend erklärte auch die Sowjetarmee, als sie Ende März 1945 österreichisches Territorium erreichte, sie sei nicht als Eroberer gekommen, … sondern, um Österreich von der deutschen Abhängigkeit zu befreien. Sowjet-Außenminister Molotow wollte später allerdings diesen selbst gesetzten Anspruch über den Haufen werfen, konnte sich damit letztlich aber nicht durchsetzen.

Katrina vanden Heuvel fährt in ihrem Artikel fort:

„Das (die Neutralität; M. Schü.) ist sicherlich eine bessere Alternative für die Ukraine, für unsere europäischen Verbündeten und für uns selbst, als die Russen bis auf den letzten Ukrainer zu bekämpfen. Die Ukraine ist ein geteilter Staat. Die allgegenwärtige Korruption und die bittere Spaltung sabotieren die Wirtschaft und die Demokratie des Landes. Die Einmischung der USA und Russlands hat die Lage noch verschlimmert. Die Unabhängigkeit mit garantierter Neutralität würde dem Land eine Chance zur Heilung geben.“

Bei den Sesselkriegern komme die Eskalation jedoch besser an, meint dann noch vanden Heuvel, aber diese werde sich einmal mehr als teure Torheit erweisen:

„Außerdem haben die Amerikaner genug von endlosen Schlachten in fernen Ländern. Biden könnte eine echte Einigung weitaus populärer finden als anhaltende Spannungen. Die Frage ist, ob Putin und Biden sich stark genug fühlen, um Zurückhaltung, Dialog und Engagement zu wählen, anstatt in einen Krieg zu stolpern.“

Es geht also um Heilung und man kann hinzufügen, mit der Ukraine würde in einem solchen Fall auch der europäische Kontinent ein Stück weit heilen können. Was man in Brüssel-Europa offenbar nicht versteht, ist, dass man sich mit dem Zugriff auf ein anderes Land, mit dem Schicksal dieses Landes verbindet. Der Zugriff des Westens auf die Ukraine und der damit verbundene Niedergang des Landes überträgt sich auf die westlichen Verbündeten selbst.

Dieses Muster haben wir in Afghanistan kennenlernen dürfen und wir sollten eigentlich daraus geschlossen haben, dass wir dort vor allem unsere eigene Glaubwürdigkeit und Kraft untergraben haben. Um wie viel besser würde die EU heute dastehen, wenn sie sich nicht auf diese Selbstüberschätzung in der Ukraine eingelassen hätte.

Anstatt in Brüssel-Europa ständig neue Militärkonzepte zu entwerfen und darüber nachzudenken, wie man militärische Interventionen am besten rechtfertigen könne, ist die Zeit reif dafür, echte Größe zu zeigen und wieder einen Schritt zurück zu machen. Das wäre ein Weg, mit dem man auch auf internationaler Ebene Glaubwürdigkeit zurückgewinnen könnte – sofern man überhaupt noch darauf Wert legt.

Stichwort Größe:

Wir wollten hier von einem Moment staatsmännischer Großzügigkeit berichten, dem österreichischen Staatsvertrag von 1955.

Der Begriff Großzügigkeit wird in diesem Zusammenhang von einem der österreichischen Verhandler eingebracht, nämlich von Bruno Kreisky, seines Zeichens später legendärer Bundeskanzler der Republik Österreich.

Was vielleicht erwähnt werden sollte, ist, dass die österreichischen Verhandler aus ÖVP und SPÖ bestehend aus Bundeskanzler, Vizekanzler, Außenminister und eben Staatssekretär Kreisky allesamt einen langen Weg in ihrem (politischen) Leben gegangen sind, bevor sie Österreich in diesen Verhandlungen vertreten haben. In der ersten Republik getrennt durch eine erbitterte Feindschaft der beiden politischen Lager, die schließlich in einen Bürgerkrieg führte, war es die Verfolgungssituation der Nazi-Zeit, die beide Seiten zur Einsicht brachte, Österreich gemeinsam aufbauen zu wollen.

Die Hoffnungen Österreichs nach dem Krieg die Besatzungsmächte bald wieder loszuwerden, wurden unter einer Aneinanderreihung von Frustrationen begraben, mit einem Höhepunkt auf der Berliner Konferenz von 1954. Dort präsentierte der sowjetische Außenminister Molotow der österreichischen Delegation eine Art „Staatsvertrag light“, was aber die österreichische Seite zurückwies. Die österreichischen Verhandler setzten auf alles oder nichts und scheiterten. Die Österreicher verließen die Konferenz mit hängenden Köpfen, weil sie sich die Frage stellen mussten, ob sie nicht gerade einen kapitalen Fehler begangen haben. Wäre es nicht vernünftiger gewesen, auf das Angebot Moskaus einzugehen? Und wie würde die österreichische Bevölkerung auf dieses Scheitern reagieren?

Bevor sich aber noch Konsequenzen dieses Scheiterns zeigen konnten, kam plötzlich Bewegung in die Sache. In Moskau wurde immer deutlicher, dass sich Chruschtschow in der Nachfolgefrage im Kreml durchsetzen werde. Die Kreml-Astrologen deuteten daraufhin die Aussichten für einen österreichischen Staatsvertrag bald sehr viel optimistischer.

Als dann im März 1955 am Wiener Ballhausplatz (dem Regierungssitz) eine Einladung aus Moskau ins Haus flatterte, löste das in der Regierung zunächst Verwirrung aus. Glaubten die einen, dass die sowjetische Führung Österreich damit konfrontieren werde, dass an der Zonengrenze der Eiserne Vorhang niedergehen werde, hofften die anderen, dass die Einladung ein Zeichen dafür sei, dass Fortschritte erzielt werden könnten.

Die Regierungsspitze setzte sich also in ein sowjetisches Flugzeug und begab sich nach Moskau. Während des Fluges wurde den österreichischen Gästen – fast als wollte man sie sedieren oder gefügig machen – reichlich Wodka und Kaviar serviert und als das Flugzeug in Moskau landete, stand der Tisch immer noch voll mit Wodkaflaschen. Nur ein leises Klirren der Gläser begleitete das Aufsetzen der Maschine. Wie die Delegation dann aber das Flugzeug verließ, staunte sie nicht schlecht: Am Rollfeld war alles angetreten, was Rang und Namen hatte, das Gardebataillon, dazu das diplomatische Corps und eine große Musikkapelle, die die österreichische Hymne mit derartigem Schwung zum Besten gab, wie man es in Österreich zuvor noch nie gehört hatte. Da dämmerte den österreichischen Verhandlern, dass ihre Moskau Reise wohl einen guten Ausgang nehmen sollte.

So war es dann auch. Die österreichische Frage solle im Geist der Freundschaft gelöst werden, verkündete Ministerpräsident Bulganin beim Abendessen. Dennoch gab sich die sowjetische Seite am Anfang zäh hinhaltend. Bruno Kreisky konnte später allerdings resümieren:

„..schließlich zeigten sie sich sehr großzügig. Das ist eine Erfahrung, die man mit Russen immer wieder macht. Wenn sie einmal „Njet“ sagen, ist das leider meistens endgültig und kein Russe geht von diesem Nein ab. Wenn sie sich aber zu Zugeständnissen innerlich entschlossen haben, kennt ihre Großzügigkeit oft keine Grenzen…. Am Ende bekamen wir eigentlich alles, was wir hatten  erreichen wollen.“

Diese russische Großzügigkeit Österreich gegenüber war das Ergebnis einer sehr speziellen innen- und außenpolitischen Situation der Sowjetunion, sowie des Wirkens einer vorausschauenden Sowjetführung – vor allem Chruschtschows – die ein Zeichen setzen wollte. Chruschtschow selbst war allerdings bei den eigentlichen, in einer sehr jovialen Atmosphäre ablaufenden Verhandlungen, nicht zugegen. Ohne ihn, meint Kreisky, hätte Österreich den Staatsvertrag wahrscheinlich nicht so leicht bekommen. Er sei ein nicht unsympathischer Draufgänger gewesen, man habe das Gefühl gehabt, es mit einem Kosakenhetman zu tun zu haben, ein Mann nicht ohne Großzügigkeit.

Der von der US-Regierung ausgegebenen Devise des Rollback, also der Zurückdrängung des sowjetischen Einflusses in der Welt, stellte Chruschtschow die Idee der Friedlichen Koexistenz gegenüber. Diese Idee beruhte auf der Anerkennung der jeweiligen Einflusssphären, wurde allerdings zugleich widersprüchlich gehandhabt. Sie drückte sich aber auch darin aus, Zeichen der Entspannung zu setzen. Ein solches Zeichen war eben der Abschluss des österreichischen Staatsvertrags. Im Grunde genommen bediente der Staatsvertrag sowohl Rollback als auch Friedliche Koexistenz in einem.

Die Sowjetunion hat damals zusammen mit den westlichen Alliierten in einer gemeinsamen großen Anstrengung die Freiheit Österreichs ermöglicht und so eine Entwicklung in Gang gesetzt, die Bruno Kreisky für den Beginn der Détente (Entspannungspolitik) gehalten hat und die in der Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Helsinki ihren Höhepunkt fand.

Sicherlich, das damalige Geschehen lässt sich nicht eins zu eins auf das Heute übertragen, aber es kann uns eine Inspirationsquelle dafür sein, was möglich ist, wenn wir Mut zeigen, aus unseren Gedankengefängnissen ausbrechen und in einem positiven Sinne Geschichte schreiben wollen.

Die oben zitierte Publizistin Katrina vanden Heuvel hat in einem weiteren Artikel zur Ukraine-Krise dem Westen einen interessanten Begriff vorgeschlagen: strategische Empathie.

Größe zeigen, strategische Empathie walten lassen – würde uns da ein Stern aus dem EU-Symbol fallen? Sicher nicht. Im Gegenteil, Historiker würden uns später sogar noch einige Sterne dazu verleihen…

COMMENTS

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    Horst Beger 2 Jahren

    Von wenigen Ausnahmen abgesehen ist es leider eine Illusion zu glauben, dass der materialistische Westen und Deutschland außer inhaltsleeren Worthülsen ein Verständnis für russische Geistigkeit und seelische Größe haben, von russischem Christentum ganz zu schweigen. Für Anglo-Amerika und Deutschland zählen nur preußischer Militarimus und Säbelrasseln, einschließlich der bellizistischen Grünen, die gleichzeitig von Demokratie und Menschenrechten faseln.

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