Werte oder Illusionen – die Zukunft der russisch-deutschen Beziehungen

Werte oder Illusionen – die Zukunft der russisch-deutschen Beziehungen

[von Dr. Artem Sokolow] Unabhängig vom Ausgang der Eskalation der Ukraine-Krise werden die russisch-deutschen Beziehungen nicht zu dem Zustand zurückkehren, in dem sie sich seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre befanden. Russland und Deutschland haben ein erhebliches Vertrauensdefizit gegenüber dem jeweils anderen Land aufgebaut. Eine neue Generation von russischen und deutschen Politikern arbeitet in einem anderen Bezugsrahmen.

Die Eskalation der Ukraine-Krise im Februar 2022 beendete den „besonderen“ Charakter der russisch-deutschen Beziehungen. Obwohl die russische und die deutsche Fachwelt seit langem die Auffassung vertreten, dass Moskau und Berlin in eine schwierige Phase ihrer Beziehungen eingetreten sind, wurde dies erst nach dem Ausbruch der Militäroperation in der Ukraine deutlich. Obwohl der Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz in Russland den langen Verhandlungsprozess zwischen Moskau und den Hauptstädten der wichtigsten westlichen Länder im Winter 2021-2022 abschloss und in gewisser Weise zusammenfasste, gab es keine Anzeichen dafür, dass Berlin die Absicht hatte, als „Anwalt“ für die russische Führung zu fungieren oder zu vermitteln. Im Gegenteil: Deutschland hat sich sofort in den Sanktionsprozess eingeschaltet und die Zertifizierung der Nord Stream 2-Pipeline ohne Verzögerung eingefroren. Die Verurteilung des russischen Vorgehens durch deutsche Politiker bewegte sich innerhalb der für westliche Länder üblichen rhetorischen Grenzen.

Heute erklären deutsche Politiker einen „Point of no Return“ in den Beziehungen zu Russland. Nicht nur Vertreter der regierenden „Ampel“-Koalition, sondern auch Oppositionsparteien, darunter die traditionell sympathisierende Linke und die AFD, äußern sich kritisch gegenüber Moskau. Rund hundert Experten von Think Tanks in Deutschland haben sich in einem offenen Brief für eine radikale Revision der Beziehungen zu Russland ausgesprochen. Auf Initiative der deutschen Seite wird der Abbau der deutsch-russischen Beziehungen in allen möglichen Bereichen vorangetrieben, von der Wirtschaft bis zur Zivilgesellschaft.

Die russischen Behörden ihrerseits haben Deutschland zusammen mit anderen EU-Mitgliedern auf die Liste der „unfreundlichen“ Staaten gesetzt. Indem Moskau die Aussicht auf Nord Stream 2 mit scheinbarer Leichtigkeit abtat, drohte es Berlin mit einer vollständigen Unterbrechung der Gaslieferungen, falls es sich weigern sollte, diese in russischen Rubeln zu bezahlen. Da der Energiefaktor in den letzten Jahren praktisch der einzige Punkt war, der Russland und Deutschland einander nähergebracht hat, sah die russische Führung keinen großen politischen Nutzen in der Aufrechterhaltung guter Beziehungen zu Berlin.

Trotz des systemischen Zusammenbruchs der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen ist es jedoch unwahrscheinlich, dass Deutschland vollständig vom Radar der russischen Außenpolitikplanung verschwindet.

Zum einen wird Deutschland auch angesichts der sich verschärfenden europäischen Energie-, Wirtschafts- und Migrationskrise auf absehbare Zeit seine Führungsrolle innerhalb der EU behalten. Das außenpolitische Engagement des französischen Präsidenten Emmanuel Macron sollte keine falschen Erwartungen wecken. Paris verfügt nicht über ausreichende Mittel, um das Gravitationszentrum eines vereinten Europas zu werden. Die Zukunft der EU wird lange Zeit von dem deutsch-französischen Tandem bestimmt werden, wobei Berlin den Ausschlag gibt. Moskau wird nicht in der Lage sein, die deutsche Führung in einem vereinten Europa, das im Westen an Russland angrenzt, zu ignorieren.

Zweitens ist die deutsche Wirtschaft trotz der Sanktionen und trotz des Drucks von außen nach wie vor stark in Russland vertreten. Viele Unternehmen zahlen die Gehälter ihrer Mitarbeiter trotz der vorübergehenden Aussetzung des Betriebs weiter. Trotz der vielen Kosten bleibt der russische Markt für Unternehmer aus der Bundesrepublik Deutschland insgesamt attraktiv. Sie werden versuchen, ihre Tätigkeit in Russland fortzusetzen und sich für eine Lockerung oder Aufhebung der Sanktionen einsetzen sowie nach Möglichkeiten suchen, Geschäfte unter Umgehung der derzeitigen Beschränkungen zu tätigen.

Drittens: Neben der harten Rhetorik versucht die deutsche Führung vorsichtig, die Grenzen des Zusammenbruchs der russisch-deutschen Beziehungen zu definieren. Bundeskanzler Olaf Scholz führt seit Beginn der Eskalation der Ukraine-Krise regelmäßig Telefongespräche mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Deutsche Politik hat Fälle von Russophobie in der Bundesrepublik verurteilt. Der Bruch in den Beziehungen auf der Ebene der Zivilgesellschaft hat noch nicht das absolute Ausmaß erreicht.

Die Konturen der Entwicklung der deutsch-russischen Beziehungen sind heute noch ungewiss. Sie hängen vom Ergebnis der Lösung der Ukraine-Krise, den kurz- und mittelfristigen Folgen der Wirtschaftssanktionen und der Entwicklung der innenpolitischen Lage in Russland und Deutschland ab. Es lassen sich jedoch bereits eine Reihe von Faktoren erkennen, die den Dialog zwischen Moskau und Berlin in naher Zukunft beeinflussen werden.

Erstens wird die Organisation des Dialogs auf hoher Ebene erheblich eingeschränkt und bleibt bestenfalls erzwungen. Anders als US-Präsident Joe Biden äußerte sich Bundeskanzler Olaf Scholz nicht scharf über den russischen Präsidenten. Die massive Kritik der meisten politischen Kräfte in Deutschland an Russland lässt Scholz jedoch wenig Spielraum für eine positive Wiederaufnahme des deutsch-russischen Dialogs, ohne seinen Ruf zu beschädigen. Treffen zwischen den Staats- und Regierungschefs der beiden Länder sind möglich, aber die Tagesordnung solcher Gespräche wird begrenzt sein. Das Gleiche gilt für den Dialog zwischen dem russischen und dem deutschen Außenminister.

Das Einfrieren des Nord Stream 2-Projekts und die Absicht Deutschlands, auf russische Energieträger zu verzichten, verändern eine entscheidende Konstante in den deutsch-russischen Beziehungen zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Auch wenn Deutschland in den kommenden Jahren nicht vollständig auf russisches Öl und Gas verzichten kann, ist die wirtschaftliche Attraktivität der Energiekooperation mit Moskau geopolitischen Überlegungen gewichen. Das dadurch entstandene Vakuum in der handelspolitischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Berlin und Moskau muss mit neuen Inhalten gefüllt werden, was im Kontext der Sanktionen eine schwierige Aufgabe sein wird.

Die bestehenden Formate der deutsch-russischen Zusammenarbeit – das Forum Petersburger Dialog (eingefroren im Jahr 2021), die Potsdamer Treffen, die Schlangenbader Gespräche, die DRJUG-Veranstaltungen und andere – werden entweder aufhören zu existieren oder die Arbeit an neuen Prinzipien wieder aufnehmen. Die Äußerungen der Führung des Deutsch-Russischen Forums nach dem Februar 2022 und der Rücktritt von Matthias Platzeck als Vorsitzender der Organisation zeigen, dass Deutschland nach einem neuen Ton in den Gesprächen mit den russischen Kollegen sucht. Heute ist diese Suche nur auf Kosten der Kritik an der Außen- und Innenpolitik der russischen Führung möglich.

Angesichts der Reputationsbeschränkungen bei Kontakten mit russischen Amtsträgern und Organisationen wird Berlin die Dialogformate mit der russischen Zivilgesellschaft, die mit Oppositionsbewegungen verbunden ist, sowie mit ihren Vertretern, die Russland nach Februar 2022 verlassen haben, verstärken. Das Engagement mit russischen Partnern in diesem Bereich wird von einer massiven wertebasierten Rhetorik mit ungleichen Positionen der Dialogteilnehmer begleitet. Es werden wahrscheinlich neue Formate und Organisationen entstehen, die ausschließlich in Deutschland tätig sind, sich aber als vollwertige russisch-deutsche Dialogplattformen positionieren. Andererseits werden auch die deutschen Parteien АFD und Die Linke für die russische Führung als bequeme Partner attraktiver werden und die Schwierigkeiten bei der Kommunikation über offizielle Kanäle kompensieren. Inwieweit diese Kräfte eine repräsentative Funktion für die Gesellschaft und den Staat erfüllen, bleibt eine offene Frage.

Die Massenmigration ukrainischer Bürger nach Deutschland wird sich auch auf die Entwicklung der deutsch-russischen Beziehungen auswirken. Die Integration der ukrainischen Flüchtlinge in die deutsche Gesellschaft wird letztendlich zu ihrer verstärkten Teilnahme am politischen Leben in Deutschland führen. Die ukrainischen Flüchtlinge werden in den politischen Parteien (vor allem den Grünen), den angeschlossenen politischen Stiftungen, den gemeinnützigen Organisationen und in der Fachwelt aktiv vertreten sein. Dies wird zu einer Verschärfung des antirussischen Diskurses in Deutschland führen.

Trotz der eindeutigen Tendenz zur Verschlechterung und Degradierung lässt die unruhige Dynamik der russisch-deutschen Beziehungen immer noch Raum für konstruktive Veränderungen. Ihr Erfolg wird vor allem von der Haltung und den konkreten Maßnahmen der russischen und deutschen Führung abhängen.

So können Äußerungen deutscher Politiker über die Unzulässigkeit von Russophobie in Deutschland die Grundlage für die Normalisierung der Haltung gegenüber der Russischen Föderation durch westliche Länder, einige internationale Organisationen und das Medienumfeld bilden. Die deutschen Soft-Power-Institutionen mit ihren Kompetenzen, Budgets und Kapazitäten können als Instrument zur Überwindung der abscheulichsten antirussischen Äußerungen dienen. Dieser Weg kann auch die Zusammenarbeit mit russischen Organisationen gewährleisten. Ein klassisches Musikkonzert in der Residenz des Bundespräsidenten in Bellevue mit Musikern aus Deutschland, Russland, Weißrussland und der Ukraine kann als wegweisende Initiative betrachtet werden.

Andererseits kann der Aufenthalt der ukrainischen Flüchtlinge in Deutschland von der deutschen Führung für eine Bildungsarbeit genutzt werden, die darauf abzielt, die Einheimischen in der Ukraine über die Verbrechen des Nationalsozialismus und seiner Anhänger in den besetzten Gebieten der Sowjetunion aufzuklären. Vertreter des ukrainischen Bildungsministeriums haben sich bereits gegen den Unterricht von Flüchtlingskindern in deutschen Lehrplänen ausgesprochen, die angeblich ein „russisches imperialistisches Narrativ“ enthalten. In Berlin zogen sie es jedoch vor, der bereits etablierten Praxis zu folgen und Klassen mit ukrainischen Kindern in deutschen Schulen zu bilden.

Die Initiativen der russischen Führung zur Unterstützung kleiner und mittlerer Unternehmen könnten langfristig eine Grundlage für die Erneuerung der russisch-deutschen Handels- und Wirtschaftsbeziehungen außerhalb des Energiesektors mit den großen Akteuren schaffen. Die Wirtschaftssanktionen behindern die Zusammenarbeit zwischen Berlin und Moskau, aber der Aufbau eines Systems der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit neuen Akteuren und Richtungen wird es ermöglichen, über die Sanktionsbeschränkungen hinauszugehen und das Fundament der russisch-deutschen Beziehungen zu stärken.

Langfristig wird die Nachhaltigkeit der neuen Beziehungen zwischen Russland und Deutschland davon abhängen, inwieweit die neue Konfiguration der Beziehungen zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Institutionen der beiden Länder gerecht und ausgewogen ist. Die derzeitige Systemkrise hat im Westen das Gerede über die Notwendigkeit, auf der „richtigen Seite der Geschichte“ zu stehen, verstärkt und ersetzt oft die Bereitschaft zu einer sinnvollen Diskussion und das Verständnis für die Ziele und Motive des Dialogpartners. Ein solcher Ansatz birgt die Gefahr, dass Kommunikationsformate mit illusorischem Wert für den bilateralen Dialog geschaffen werden.

Dr. Artem Sokolow, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Europastudien des Moskauer Staatlichen Instituts für Internationale Beziehungen (MGIMO).

Russland.NEWS übersetzte den mit freundlicher Erlaubnis der Redaktion der russischen Fachzeitschrift „Rossija w globalnoi politike“ (engl. Russia in Global Affairs) übernommenen Text.

 

https://globalaffairs.ru/articles/czennosti-ili-illyuzii/

 

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