Wird Russland die Ukraine militärisch angreifen?Schneider, Dr. Lic. Eberhard © Schneider

Wird Russland die Ukraine militärisch angreifen?

[Eberhard Schneider] Am 4. Dezember 2021 stellte die „Washington Post“ – auf neue Geheimdienstberichte gestützt – fest, dass eine mögliche Militäroffensive Anfang 2022 gegen die Ukraine unter Einsatz von 175.000 Soldaten, von denen mehr als die Hälfte bereits an verschiedenen Punkten in der Nähe der Ukraine stationiert seien, in Planung sei.[1] Der Programmdirektor des von Wladimir Putin 2004 gegründeten internationalen Diskussionsclubs „Waldai“, der sich jährlich mit dem Präsidenten trifft, Iwan Timofejew, versuchte am 25. November 2021 mit seiner Analyse „Krieg Russlands mit der Ukraine: Basisszenario?“ etwas Rationalität in die Befürchtungen zu bringen.[2] Er unterscheidet zwischen den Umständen, die für eine militärische Aggression Russlands sprechen, und denjenigen, die dagegen stehen.

Basisszenario: „Mit einem plötzlichen und entscheidenden Schlag in mehrere Richtungen gleichzeitig zerlegen russische Truppen die Streitkräfte der Ukraine im Osten des Landes, umzingeln einzelne Gruppen und drücken sie gegen den Dnjepr. Die Aktionen der Panzer- und Motschützenformationen werden von mächtigen Luftangriffen, Raketeneinheiten und Artillerie begleitet. Die Apotheose der Operation ist die Einkreisung, die anschließende Einnahme Kiews und die Stabilisierung der Front entlang der Dnjepr-Linie. Die Gründung eines neuen ukrainischen Staates mit der Hauptstadt Kiew zu dem auch die beiden Volksrepubliken Donezk und Lugansk gehören, wird angekündigt und dann von Russland anerkannt… Die volle Kontrolle über das Asowschen Meeres und ein Landkorridor zur Republik Krim sind gewährleistet. Auf der Karte erscheinen zwei ukrainische Staaten, von denen einer ‚freundlich und brüderlich‘ ist.“

Für eine militärische Aggression sprechen:

Der erste Umstand betrifft „neuere Erfahrungen mit dem Einsatz russischer Streitkräfte und deren politischen Auswirkungen“: Moskau intervenierte 2008 militärisch in Georgiens Konflikt mit dessen abtrünnigen Provinzen Abchasien und Südossetien auf deren Seiten erfolgreich und anerkannte dann beide Autonomien als unabhängige Staaten. 2014 führte Russland auf der Krim eine Blitzoperation durch, durch welche die Voraussetzungen für deren Annexion – Timofejew schreibt Wiedervereinigung – durch Russland geschaffen wurden. Dann folgte die militärische Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine, die zur Bildung der „Demokratische Republik Donezk“ und der „Demokratischen Republik Lugansk“ führte. 2015 veränderte Moskau durch den Einsatz seiner Luftwaffe die militärische Lage in Syrien radikal zugunsten des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad.

Der zweite Umstand besteht darin, dass die internationalen Folgen dieser militärischen Aktionen Russlands „relativ einfach“ waren. „Kein einziger ausländischer Staat hat sich offen in Konflikte eingemischt. Ausländische Militärhilfe ändert die Machtverhältnisse nicht radikal. Wirtschaftssanktionen in ihrer jetzigen Form schaden der russischen Wirtschaft, aber sie sind immer noch nicht der Hauptfaktor für die bestehenden Probleme. Die Wirtschaft selbst ist stabil.“

Den dritten Umstand sieht Timofejew darin, dass Russland nicht bereit sei, sich mit dem bestehenden Status quo in den Beziehungen zur Ukraine abzufinden. Militärisch schwach und aus Angst vor weiteren Komplikationen mit Moskau versuche die Ukraine, ihre Verteidigungsbeziehungen zu den USA und ihren Verbündeten zu vertiefen und deren militärische Hilfe und Lieferungen auszuweiten. „In Moskau wird dies als ‚Entwicklung‘ des Territoriums der Ukraine durch westliche Länder mit anschließender Bedrohung der strategischen Perspektive wahrgenommen. Das Erscheinen westlicher militärischer Infrastruktur in der Ukraine wird in Russland offenbar nur als eine Frage der Zeit betrachtet.“

Gegen eine militärische Aggression sprechen:

Erstens: Ein Sieg über die Streitkräfte der Ukraine allein werde nicht zu einem schnellen Frieden führen, denn der Krieg könne sich zu einer „langen und trägen Konfrontation“ entwickeln, insbesondere, wenn ein Teil des Territoriums der Ukraine, z.B. die Westukraine, unter der Kontrolle der ukrainischen Streitkräfte bliebe. Die Eroberung der gesamten Ukraine sei technisch zwar möglich, doch dies werde teuer und deren anschließende Kontrolle viel schwieriger. Mittels der Variante „zwei ukrainische Staaten“ sei es möglich, die Nationalisten in die Westukraine zu drängen.

Zweitens: Die USA und ihre Verbündeten werden keine offene Konfrontation mit Moskau eingehen, aber ihre Unterstützung der ukrainischen Armee werde deutlich zunehmen. Umfangreiche Militärhilfe aus dem Westen werde den Konflikt verlängern. Russland werde solche Lieferungen nicht blockieren können.

Drittens: Russland werde sich in der Ukraine-Frage in diplomatischer Isolation wiederfinden. Es sei unwahrscheinlich, dass es mindestens ein Land geben werde, dass Moskaus Vorgehen unterstütze. Die Legitimität des Moskauer Vorgehens wäre äußerst schwach, wenn überhaupt unmöglich. Darüber hinaus werde Russland die Verantwortung für die zivilen Verluste tragen müssen.

Viertens: Sanktionen des Westens, auch wenn sie einer Reihe westlicher Länder schaden, könnten gegen alle russischen Banken gerichtet sein einschließlich der Bank of Russia. Damit werde Russland weitgehend vom globalen Finanzsystem abgeschnitten. Eine andere Maßnahme könnte ein Kaufverbot für russisches Öl und dann Gas sein. Weitere gezielte Beschränkungen für Importe und Export könnten hinzukommen.

Fünftens: Die Frage werde sein, ob der russische Markt, der von Sanktionen erfasst sein wird, den Schaden an dem ukrainischen Territorium, das unter russischer Kontrolle steht, werde kompensieren können. Die Beschlagnahme von Territorien werde keines der Probleme lösen können, mit denen die russische Wirtschaft heute konfrontiert sei.

Sechstens habe die Ukraine in den letzten dreißig Jahren ihre eigene bürgerliche Identität entwickelt. Die Bevölkerung der östlichen Regionen stehe übermäßigem Nationalismus ablehnend gegenüber. Der Krieg könne die Sympathie der Ukrainer für Russland endgültig untergraben, die in den letzten sechs Jahren bereits geschwunden sei.

Siebentens sei der Krieg mit einer Destabilisierung der Lage in Russland selbst behaftet. Es sei gut möglich, dass russische Truppen den ukrainischen Streitkräften sensible Niederlagen zufügen und sie in den Westen des Landes drängen können. Aber die Verluste auf russischer Seite würden sich immer noch auf „hunderte und möglicherweise Tausende von Kämpfern“ belaufen. „Im Falle einer möglichen Verlängerung des Konflikts werden Verluste zu einem dauerhaften Faktor.“ In Verbindung mit einer möglichen Wirtschaftskrise seien dies nicht die besten Voraussetzungen für eine öffentliche Unterstützung.

Timofejew kommt zu folgendem Ergebnis: „Die Kosten eines möglichen Krieges zwischen Russland und der Ukraine überwiegen bei weitem die Vorteile. Der Krieg bringt erhebliche Risiken für die Wirtschaft, die politische Stabilität und die russische Außenpolitik. Er befasst sich nicht mit wichtigen Sicherheitsproblemen, schafft jedoch viele neue.“ Für ihn hat das Basisszenario eher eine „praktische Bedeutung als Instrument zur Informationskriegsführung und zum Senden von politischen Signalen“.

[1]              https://www.washingtonpost.com/politics/us-intelligence-finds-russia-planning-ukraine-offensive/2021/12/04/24fd25ea-54c2-11ec-83d2-d9dab0e23b7e_story.html

[2]              https://ru.valdaiclub.com/a/highlights/voyna-rossii-i-ukrainy-bazovyy-stsenariy/

COMMENTS

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    Hans Klatt 2 Jahren

    Die Ukraine ist und bleibt ein “ Pulverfass“!!!! Ich bin der Meinung, dass die Verantwortlichen in der Russischen Föderation sich nicht aus der “ EU“ provozieren lassen sollten!!!!
    Die Russische Föderation ist ein Selbstständiger Staat und kann auf seinem Territorium „tun und machen was er will“. Man kann wirklich erkennen, wie die ehemaligen Republiken Ängste schüren, ohne über das für und wieder nach zudenken.
    Diese Aggressionen die nun von der “ UA – Polen -und Baltischen Staaten“ ausgehen, sind aus meiner Sicht richtige aktive Aggressionen von den eingegliederten ehemaligen Unionsländer von Russland. Hier werden bewusst Ängste geschürt, die nicht vorhanden sind.Man muss die Deutsche Presse lesen, in der die “ UA“ unbedingt in die “ EU“ möchte, was ein großer Fehler sein wird, denn dann haben wir hier im westlichen Teil von Europa ein großes Problem.
    Man sollte das NORMANDIE“ – Abkommen umsetzen, d.h. die UA muss/ sollte sich bewegen und nicht immer wieder neue Millionen fordern. Die UA ist korrupt und wird aus immer bleiben, denn man kann die Geschichte auch zurückdrehen, wo sind die Millionen „$ “ geblieben???Dies Beträge sind versickert in die Machenschaften der Regierungsmitglieder!!!
    Auch die BRD hat nach neuesten Kenntnisstand die z.Z, schlechteste Aussenministerin. Die Antrittsbesuche von der Dame waren zwar notwendig, aber man hätte danach in die RF fahren sollten und nicht über die Presse diese“ Drohgebärden“ von sich geben.So eine Ministerin hatte die BRD noch nicht gehabt.
    Mein Fazit ist: Man sollte sich auf Augenhöhe begeben und nicht gleich Drohgebärden von sich geben. Es sollte eine Deeskalation stattfinden.

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